Seine Stimme war voll geworden, ein singendes, junges, süchtiges Schweben. Er hatte die Hände ineinandergeschlungen und nickte leise vor sich hin.
Marie erkannte, daß er wieder bei Besinnung sei, erhob sich geräuschlos und nahm die Bürde auf den Rücken.
»Behüt' dich Gott«, sagte sie, »und wenn du nich weeßt, wohin, unse Haus is hinterm Busch«, und ging davon.
Der Schuster regte sich nicht. Erst als sie schon weit fort war, erhob er sein Auge und sah ihr lange sinnend nach.
Das stille Licht des Herbstes rann über sein Antlitz, und es war, als lächelte er in seliger Gewißheit.
14
Sechs Wochen waren vergangen, die Kirmes von Alt-Walsdorf vorüber. Man befand sich im letzten Drittel des Oktober. Der Lahme hatte wieder einmal seinen guten Tag: er lehnte schon früh müßig am Brunnenhäuschen, nagte an der Unterlippe und kratzte mit dem Klumpfuß auf dem Bretterbelag. Es mochte gegen halb acht Uhr morgens sein, denn man hörte den Lärm der zur Schule gehenden Kinder von dem Kommunikationswege herüber und sich gegen den Erlengrund zu verlieren. Aus dem Walde stiegen Nebel und spannen sich in schwankenden Streifen zum Himmel auf, dessen schweres, einförmiges Gewölk sich immer mehr senkte, bis nur noch ein dünner Strich gelben Lichtes über der schwarzen Masse des Waldes lag. Bald war auch dieser spärliche Trost des Oktobertages verschwunden, und das Gewölk rann zur Erde wie trübes Spülwasser. Die Bäume auf dem Felde verschwanden, und die verborgene Sonne, die man zuletzt über dem Hedwigstein gesehen hatte, als gehe jemand mit einer Laterne die Berge hin, verbreitete eine bleiche Helle, gleich dem kümmerlichen Lichte einer Krankenstube. Der Lahme sah sein Haus undeutlicher werden, es war, als dringe aus allen Poren der Wände schwacher Rauch. Vor ihm und rechts der Wald des Freirichters: verschwommene, dunkle Wände.
Wenn das Scheunen wären, sann Exner, und Ställe und Schuppen, was für ein Hof das sein müßte! Oh, es ließe sich wohl etwas machen!
Nach einer Weile kam es ihm ein, das sei Tagedieberei, das Dastehen und Sehen, und er setzte sich langsam in Bewegung. Er ging an der Haustür vorüber, um im Schuppen Holz zu spalten. Da stand plötzlich der Schuster vor ihm wie aus dem Boden gewachsen.
»Na, läßt du dich wieder amal sehn! Wo kommste denn her?« fragte der Lahme erstaunt.
Klose senkte verlegen sein verschlafenes Gesicht, stotterte etwas und ging dann vorüber. Exner sah ihm hohnlachend nach, und weil in demselben Augenblick Marie auf der Türschwelle erschien, rief er spöttisch: »Siehch och, wir haben Besuch gekriegt.«
Der Trunkenbold lächelte das junge Weib an, trat an den Brunnen, pumpte sich Wasser in die hohle Hand und begann sich zu waschen, wobei er mächtig sprudelte und prustete. Exner war zu seinem Weibe getreten und fragte sie:
»Was will der Lumpen da?«
»Ich weeß nie.«
»Solche Bruder haben alle was an sich: die Kratze, Läuse oder so was.«
Marie bewegte die Achseln.
»Wo mag er denn geschlafen haben?« fuhr der Lahme fort zu reden. »Daß er mir aus'm Hause bleit; ich brauchte vrm Winter grade so een ...«
Er konnte nicht vollenden, denn aus dem Nebel auf das Niederstück zu erscholl vielstimmiges Geschrei:
»Gewonnen ... da is er ... haha! Fränzla, Hurra, Hurra!«
Mehr konnte man nicht verstehen. Zum Schluß wurde einigemal in die Hände geklatscht.
Der Schuster hatte beim Beginn des Lärmes seine Mütze vom Boden aufgehoben und schnell das Gesicht hineingetrocknet. Seine verwirrten, nassen Haare standen in Strähnen in die Höhe. So stand er da und horchte. Als alles still war, blickte er fragend zu den beiden zurück.
Exner rief ihm zu:
»Geh und siehch, was da für a Gepäcke is! Aber tu wie Tulpe. Ich schick dich nich.«
Der Angeredete gehorchte wortlos.
Marie nahm den Eimer, den sie niedergesetzt hatte, und ging in den Stall.
Um die Mundwinkel des Klumpen spielte ein böses Zucken, und gespannt horchte er hinaus.
Da hörte er übermütiges Lachen, woraus er schloß, daß der Schuster bei den Knechten angelangt sei.
Einen Augenblick glaubte er, sie machten sich über ihn lustig. »Ich wer's 'n anstreichen!« sprach er und stürmte einige Schritt vor.
An dem Brunnenhäuschen aber machte er halt und horchte wieder voll Erregung hin.
Auf einmal wich der Nebel zurück, und das Feld lag klar da. Der Schuster stand mit gesenktem Kopf vor den drei Knechten, die eifrig auf ihn einsprachen. Dann hoben sie den Kopf und sahen herüber. Sie mußten ihn erblickt haben, denn wie auf Kommando schrien alle:
»Haha, gefunden! Hurra!«
Exner fluchte knirschend und rührte sich nicht.
Als er den Kopf wieder etwas vorzubeugen wagte, sah er nichts mehr, denn der Nebel hatte alles verdeckt.
Dann kamen stolpernde Schritte.
Der Schuster stand vor ihm und sprach:
»Nuch, die wern gleich trinken, Schnaps, zwee Liter. Die Knechte han gewett'! Und Fränzla, dr Elfer, hat se verbüßt. Er wollt's nie glauben, aber's seinr da, zwee, ich hab' se gesehn.«
»Was denn?«
»Steene.«
»Steene?«
Der Lahme wiederholte es mit verhauchender Stimme.
Aber schnell besann er sich wieder und lachte verächtlich:
»Steene! Haha! Nu ja, Steene! Da brauchten se nich zwee Monden fahren. Obendruffe hat's genug.«
»Ach nu, Karl«, was ich dr sage, Grenzsteene!« entgegnete Klose. »Ich wer doch Grenzsteene kenn'; 's hat Kreuzla droffe, richtige Kreuzla.«
Einer trat dicht an den Säufer heran und sah drohend zu ihm nieder.
»Guste, geh nei ei die Stube, iß, trink und wärm dich. Aber das rat ich dir, das rat ich dir, verstehste mich? Se haben keene gefunden.«
Damit ließ er ihn stehen und ging ins Haus.
Der Schuster blieb zurück und sagte nach langem Sinnen leise vor sich hin:
»Nu, ja, ja. Aber mag's sein, 's hat 'r eigentlich doch.«
Rings begann das Geläut von Glocken. Das Gewirr von Kinderstimmen lief nicht allzu weit vorüber.
»'s is Mittag, de Kinder komm' aus dr Schule«, murmelte er dann, schüttelte sich vor innerm Frost und ging zögernd dem Lahmen nach. Er fand ihn hinter dem großen, weißen Ecktisch vor einer dampfenden Schüssel sitzen und mit dem Löffel klappern.
»Komm und setz dich«, sagte Exner und fuhr in seiner Beschäftigung fort.
»'s wird Schnee aus dem Nebel kommen.« Mit diesen schüchternen Worten nahm Klose Platz.
Der Lahme hob den Kopf. Aber der Blick seiner Augen war ausgelöscht, sein Gesicht blaß und leidend, von Zeit zu Zeit kam eine wilde Entschlossenheit darin auf und machte die groben Zuge kantig.
»Hat'n der Schenke den Rathmann-Rappen wirklich gekauft?« fragte er und starrte vor sich nieder.
»Ich weeß nich«, antwortete der Trinker und strich an seinem Schnurrbart. Der Lahme lachte böse auf.
Endlich hob er den Löffel auf und begann begierig zu suppen.
»Iß, Schuster! Franke bleit zeitlebens ein Esel«, sprach er zwischen dem Schlucken zu Klose, der mit