Während ich diese Erinnerungen zu Papier bringe, hocken wir am Kamin und wärmen uns mit heißem Würzwein. Unser „Hotel zum Mistral“ liegt an einer Straße die sich „Avenida Santa Coloma“ nennt. „Mistral“! Allein der Name des Wüstenwindes ist in dieser Gegend der blanke Hohn. Bei der „Avenida“ handelt es sich um einen ausgefahrenen, schlammigen Hohlweg, rechts und links von Hütten aus Naturstein gesäumt. Unser Nachtlager im „Hotel“ ist ein unbeheizter Schlafsaal. Die ganze Kneipe erinnert eher an ein Wirtshaus aus finsterer Ritterzeit. Dunkel, verräuchert, ohne Kultur. Jedenfalls wurde hier seit Karl dem Großen nicht mehr renoviert. „Hotel“, „Mistral“ und „Avenida“! Ha! Dass ich nicht lache! Die Leute in Andorra neigen eindeutig zu Hochstapelei. Drei Kreuze, wenn wir das Gebirge endlich hinter uns lassen. Gut, das Schlimmste sei überstanden, meint unser Führer. Ich hoffe, er neigt nicht ebenfalls zur Hochstapelei.
Fußnote van Delft, Rotterdam im Januar 1871
Eine Randbemerkung im Rückblick, um nicht ungerecht zu wirken. Natürlich ist dieses kleine Fürstentum in den Bergen mit seiner trotzigen Eigenständigkeit zwischen französischen und spanischen Herren ein Eldorado für romantische Geister. Die Zeit scheint dort oben irgendwann stehengeblieben. Kirchlein und Brücken aus rohem Felsgestein sind wie für die Ewigkeit geschaffen. Der Menschenschlag in Andorra la Vella und Umgebung zeigt angesichts der rauen Witterung ein erstaunliches Stehvermögen. Allerdings waren mir solche Überlegungen damals völlig fremd. Ich war einfach nur erschöpft.
Für die folgenden anderthalb Wochen bricht mein Tagebuch wieder einmal komplett ab. Unerwartete Ereignisse zwangen mich zur Tatenlosigkeit. Im Anschluss fehlte mir die Kraft, das Erlebte sofort aufzuarbeiten. Ich versuche, das nun an dieser Stelle nachzuholen. Mit Hilfe meines kleinen Doktors, den ich gebeten habe, sich zu beteiligen. Ich werde seine Erinnerungen von Zeit zu Zeit einfügen. Selbst Fridolin war bereit, ein paar Gedanken beizusteuern. Ich habe ihm dafür heute frei gegeben. Er sitzt nebenan und schreibt.
Kehren wir also in die Pyrenäenwildnis Andorras zurück. Ich glaube, am besten lasse ich Dr. Frans Ingmarson den Anfang machen. Sein nüchterner wissenschaftlicher Blickwinkel dürfte erhellender ausfallen als mein emotional aufgeladener. Ich bin heute noch sehr erregt, wenn ich an jene Tage denke.
Überfall in den Pyrenäen
Anmerkungen von Dr. Frans Ingmarson, Rotterdam im Januar 1871
An das genaue Datum erinnere ich mich nicht. Ich notiere für gewöhnlich wissenschaftlich relevante Daten, nicht Reiseerlebnisse. Mynheer van Delft meint, es sei der 28. Juni gewesen. Aber das ist gleichgültig. Als gesichert betrachte ich die Tatsache, dass wir nur unwesentlich erholt aus dieser furchtbaren Kaschemme in den Bergen aufbrachen. Ich bin aus Island weiß Gott merkwürdige Wetterlagen und Behausungen gewohnt, aber dieses prähistorische Andorra la Vella übertrifft alles. Genug davon. Wir brachen auf.
Ziemlich präzise drei Wegebiegungen später, die letzten Hütten waren seit vielleicht fünf Minuten außer Sicht und unser Pfad wurde steiler und schmaler, fiel ein Schuss. Ein Meisterschuss, muss ich hinzufügen. Unser Führer brach ohne ein Wort zusammen. Er war sofort tot. Blut strömte aus seinem Mund. Es sickerte auch aus dem Loch in seiner Jacke. Ein Volltreffer. Präzisionsarbeit. Ehe wir uns versahen, tauchten sechs Banditen auf. Schwerbewaffnet. Zwei vor uns, einer hinter uns, drei rechts am Berg. Zur Flucht wäre nur ein Sprung in die Schlucht zur Linken infrage gekommen. Selbstmord. Fridolin versuchte, sich des Jagdgewehrs unseres Führers zu bemächtigen. Ich hielt ihn zurück. Es wäre sein Todesurteil gewesen.
Die Männer brachten uns und unsere Tiere durch unwegsames Gelände zu ihrem Lager. Fast drei Stunden lang führte unser Weg über Geröllhalden und durch struppiges Dickicht. Fast immer ging es bergauf. Ausgesprochen mühselig. Mehrfach stürzte ich über Wurzeln oder glitt auf losen Steinen aus. Als ich einmal nicht gleich wieder auf die Beine kam, schlug mich einer der Kerle mit seinem Gewehrkolben.
Unterwegs hielten sie es nicht für nötig, uns zu fesseln. Vermutlich zu Recht. Ortsunkundige sind meiner Meinung nach in der Hochgebirgswildnis jener Gegend rettungslos verloren. Außerdem hatten uns die Mörder bewiesen, dass sie gute Schützen waren. Fluchtversuch zwecklos. Mynheer van Delft gab uns gleich zu Beginn zu verstehen, dass wir es nicht darauf ankommen lassen sollten.
Erklärungen zu ihren Motiven erhielten wir keine. Ich tippte auf Entführung. Wäre es den Burschen nur um unser Gepäck gegangen, hätten sie uns drei leicht ebenso wie unseren Führer sofort erschießen können.
Unter einem überhängenden Felsen erwarteten uns etliche weitere Männer und Frauen. Ihre genaue Anzahl ließ sich nicht ermitteln. Es herrschte ein reges Kommen und Gehen. Der Platz schien dauerhaft in Benutzung zu sein. Grob behauene Baumstämme dienten als Bänke und Tische. An einem der Stämme banden uns die Verbrecher mit Händen und Füßen fest. Mit dem Effekt, dass sie uns nun gar nicht mehr bewachen brauchten und sich ganz auf ihr Mittagessen konzentrierten. Wir bekamen natürlich nichts ab.
Ich fragte mich ernsthaft, welcher perfiden Absicht ihr Tun folgte? Sollte es etwas mit unserer Suche nach Kassandra zu tun haben? Aber wie hätten sie davon erfahren können? Entdeckung fürchtete die Gruppe mit Sicherheit nicht. Das Feuer, an dem sie sich wärmten, rauchte kräftig. Kein Wunder, bei dem nassen Holz. Mir setzte der Rauch ziemlich zu. Gern hätte ich meine Brille abgenommen und mir die Augen gewischt. Dies blieb mir allerdings verwehrt. Ich muss wie ein greinender Schulbub ausgesehen haben. Nie zuvor fühlte ich mich dermaßen erniedrigt!
Fußnote van Delft, Rotterdam im Januar 1871
„Welche Absichten?“ So naive Fragen kann nur ein Wissenschaftler stellen. Selbstverständlich konnte es der Bande nur um Kassandra gehen. Davon war ich von der ersten Sekunde an überzeugt. Wobei diese wilden Burschen sicher kein persönliches Interesse an der Seherin hatten. Es waren gedungene Freischärler. Irgendwie musste es einem Konkurrenten gelungen sein, unsere Reiseroute zu erkunden. Das glaubte ich jedenfalls damals. Vielleicht war uns ein Spion gefolgt? Gesindel findet sich immer, solange nur die angebotenen Summen verlockend genug ausfallen. Nachdem also unsere Route bekannt war, kam es lediglich darauf an, einen geeigneten Platz auszuwählen, um uns möglichst unauffällig auszuschalten.
Aus meiner Sicht gab es zwei Möglichkeiten: Entweder ihr Auftraggeber kannte unser Ziel und musste uns einfach töten lassen, um vor mir zum Zuge zu kommen. Oder er kannte es nicht und brauchte uns als Geisel. Da wir lebten, blieb im Prinzip nur Variante zwei übrig. Womit klar war, dass mein Freund Tarik als undichte Stelle ausschied. Es hätte auch nicht zu ihm gepasst.
Ah, interessant. Fridolin bringt mir seine Notizen. Ich bin gespannt.
Erinnerungen von Fridolin Bergmann, Rotterdam im Januar 1871
War schon komisch, plötzlich diesen Typen gegenüberzustehen. Ich hatte Angst. Als ich unseren Führer so in seinem Blut liegen sah, wollte ich nach seinem Gewehr greifen und uns verteidigen. Der Doktor hielt mich zurück. Master van Delft gab mir mit einem Kopfnicken zu verstehen, ich möchte mich ruhig verhalten. Ich bin beiden sehr dankbar. Ohne sie könnte ich das hier wahrscheinlich nicht mehr aufschreiben.
Nach stundenlanger Kraxelei kamen wir ans Lager der Entführer. Die waren eine richtige Räuberbande, wenn Sie mich fragen. Üble Gesellen. Bis auf eine der Frauen. Die sah nicht so böse aus wie die anderen. Zerlumpt angezogen aber nicht böse. Vor allem wenn sie lächelte. Dann sah sie direkt nett aus. Ziemlich jung. Dafür war die alte, die immer nach uns sehen kam, eine Hexe. Da bin ich mir sicher. Dreckig und ungepflegt. Die hielt mir ein Stück Fleisch unter die Nase. Konnte ich nicht anfassen, weil sie uns die Hände an die Bänke gefesselt hatten. Also hab ich mit dem Mund danach geschnappt. Sie zog das Fleisch weg und lachte sich halb tot. Am Ende hat sie genüsslich ein paar Bissen direkt vor meinem Gesicht verputzt und den Knochen mit viel Fleisch dran weggeschmissen. Gemein. Allerdings gab es dort ein kleines Hündchen. Das hat sich den Knochen geholt. Dem hab ich das Fleisch gegönnt. Ich hab gesehen,