Dorian van Delft. Wolfram Christ. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolfram Christ
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783946691204
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      Auch wenn jetzt alle Welt französisch redet, hielten es meine Lehrer für erforderlich, mich ein wenig in der alten Weltsprache zu schulen. Ich beherrsche sie leidlich. … Hm. … Sie sind sicher, dass Ihre Übersetzungen korrekt dem Wortlaut entsprechen?“

      „Da ich der Runensprache einigermaßen Herr bin, versichere ich Ihnen, dass Inhalt und Reihenfolge stimmen. Ob ich jedoch im Abzeichnen der mir unbekannten Schriftsymbole Fehler gemacht habe und ob der Zusammenhang, in dem sie stehen, letztlich den gesamten Text erhellen, vermag ich natürlich nicht zu beschwören.“

      „Sind es arabische Zeichen?“ warf ich ein. Tarik nickte.

      „Ingmarson hat sehr sauber kopiert, Dorian. Da er versichert, nicht arabisch zu sprechen und dies zudem eher altertümliche, heute kaum gebräuchliche Schriftbilder sind, würde ich ihre Echtheit kaum anzweifeln.“

      Ich hielt die Luft an. Ingmarson rutschte aufgeregt hin und her. Tarik ließ sich von unserer Ungeduld nicht anstecken. Nachdenklich durchblätterte er die Seiten, hielt an den betreffenden Stellen inne, griff nach Papier und Bleistift, machte sich Notizen. Nach einer Weile legte er den Stift beiseite. Er lehnte sich zurück und starrte in die Luft. Schließlich hielt es der Doktor nicht mehr aus.

      „Und?“ fragte er. „Können Sie uns Auskunft geben?“ Tarik nickte langsam.

      „Es ist nicht eindeutig. Tatsächlich weisen die Betrachtungen der Frau, sofern sie sich auf die Quellen ihres Wissens beziehen, in Richtung eines geheimen Zugangs zum Erdinneren. Es muss einen Punkt geben, an dem sich göttliche und irdische Energien begegnen. Dort, sagt sie, liege ihre Heimat, in die sie einst zurückkehren werde. Sie spricht von einem heiligen Berg oder Hügel, in dem die Zeit stillstehe. Diese Anhöhe sei zwar belebt, in ihren Gewölben jedoch, bewacht von weisen Männern, liege ein Geheimnis, welches der Welt verborgen bleiben müsse, um die Urkräfte nicht zu erzürnen. Es könnte auch ‚entfesseln‘ heißen. Für das betreffende Wort gibt es verschiedene Deutungsmöglichkeiten. Das Wissen um diesen Ort sei nur auserwählten Männern gegeben. Und die vermitteln es von Generation zu Generation ausschließlich in ihren Reihen weiter. Es muss sich also um eine Art Priesterschaft handeln.“

      „Wo liegt dieser Punkt, dieser Berg? In den Runen wird nur allgemein eine ‚Heimat im Süden‘ erwähnt.“

      „Sehen Sie, von Island aus betrachtet kann das so ziemlich jeder Punkt der Erde sein.“

      „Aber die arabischen Zeichen?“ Ingmarson blieb hartnäckig.

      „Ja, Sie könnten recht haben. Es gibt allerdings auch in der arabischen und vorderasiatischen Welt mythische Berge. Denken Sie an den Sinai in Ägypten oder den Ararat in Armenien.“

      „Ach herrje!“ In Gedanken begann ich zu rechnen, was mich Ingmarson mit seinem Abenteuer an Zeit und Geld kosten konnte, wenn wir all diese Orte aufsuchen müssten. Tarik durchschaute meine etwas fassungslose Miene. Er grinste.

      „Wirf nicht gleich die Flinte ins Korn, Mynheer Dorian. Es gibt Aspekte, die eure Suche eingrenzen. Weder auf dem Sinai noch auf dem Ararat lebten sonderlich lange Priester oder sonstige weise Männer. Am ehesten wäre der Apoll-Tempel in Delphi mit den Darstellungen der Seherin in Einklang zu bringen. Aber dort war damals, als die Texte entstanden, die legendäre Erdspalte längst verschlossen. Diese Spalte, aus welcher das Orakel in griechischer Zeit seine Botschaften erhielt. Ihr habt sicher davon gehört. Den Römern waren Leute, die mehr wussten als sie selbst, grundsätzlich suspekt. Da kannten sie keine Gnade. Und sie arbeiteten so gründlich, dass der ganze Ort seither als verschollen gilt.“

      „Immerhin“, ergänzte der Doktor eifrig, „könnte das Orakel von Delphi ein weiterer Hinweis auf unsere Unsterbliche sein. Stellen Sie sich vor, meine Herren, die Pythia des Apoll, Kassandra, die Warnerin von Pompeji, die Trollhexe von Erik dem Roten: Alles ein und dieselbe Frau! Wahrscheinlich stoßen wir am Ende auf weitaus mehr Zeugnisse ihres Wirkens.“

      „Möglich ist alles!“ knurrte ich. Langsam wurden mir die vielen Spekulationen lästig. Ich bin ein Mensch, der ab und an klare Aussagen braucht und nicht immer nur ‚wenns‘ und ‚abers‘. „Macht es nun Sinn, weiter zu suchen oder war’s das?“ Tarik lächelte milde und legte mir nachsichtig die Hand auf die Schulter.

      „Mein Freund, was seid ihr Holländer immer so ungeduldig? Wenn ihr nicht sofort eine Antwort erhaltet, verliert ihr die Lust aufs Abenteuer. Ruhe und Gelassenheit sind die Väter des Erfolgs. Bei Allah, glaub mir, niemand hätte weniger Interesse an der Lösung dieses Rätsels als ich. Denn natürlich weiß ich so gut wie du um den Wert dieser Frau, wenn es sie denn wirklich gibt.

      Meine Herren, passen Sie auf. Ich bin bereit, Ihnen ein streng gehütetes Geheimnis meiner Familie zu lüften. Ich kenne einen zweiten Ort, auf den die Beschreibung der Wahrsagerin passen könnte!“ Er machte eine Kunstpause, schloss die Augen. Es sah aus, als müsse er sich sammeln oder gar in schweigendem Gebet eine Anfrage an Allah richten, ob er uns Ungläubige einweihen dürfe. Ich blickte zu Ingmarson. Der Doktor nickte mir zu und Tarik begann seine Erklärung. Er sprach geradezu behutsam, als müsse er jedes Wort einzeln auf die Goldwaage legen:

      „Ich sagte Ihnen vorhin, meine Vorfahren hätten zu den Letzten gehört, die Al Andalus verließen. Das ist nur die halbe Wahrheit. Was ich Ihnen nun eröffne, ist möglicherweise eines der bestgehüteten Geheimnisse der Menschheit. Ich erwarte von Ihnen keinen Schwur auf Allah, jedoch Ihr ausdrückliches Ehrenwort als Gentlemen, über das, was ich Ihnen berichte, absolutes Stillschweigen zu bewahren.“ Er erhob sich von seinem Sitz. Wir folgten seinem Beispiel. „Darf ich auf Ihre Loyalität vertrauen?“ Bei diesen Worten öffnete er seine Handflächen und hielt sie in die Mitte des Dreiecks, das wir nun stehend bildeten. Ich griff zu und der Doktor folgte meinem Beispiel.

      „Tarik al Sabah, mein Freund und Geschäftspartner, ich versichere dich meiner vollsten Loyalität und Verschwiegenheit.“

      „Auch ich, verehrter Herr al Sabah, gebe Ihnen mein Ehrenwort als Wissenschaftler, Ihre Informationen vertraulich zu behandeln und, sollten meine Forschungen zum Erfolg führen, den von Ihnen gewiesenen Weg in keiner Veröffentlichung zu erwähnen.“ Mir lag auf der Zunge, Ingmarson zurechtzuweisen. Das Beste für alle wäre es, wenn außer uns dreien gar kein anderer etwas über die Trollhexe erführe, weil wir nur dann, wie seinerzeit Erik, einen echten Wettbewerbsvorteil davontrügen. Allein, Tarik gab sich mit unseren Erklärungen zufrieden und dem Doktor seine Veröffentlichungen auszureden, konnte ich später nachholen. Wir setzten uns wieder.

      Zurück in die Gegenwart. Es scheint mir eine Erklärung nötig. Da mich mein Versprechen jenes Abends bindet und Dr. Frans Ingmarson aus verschiedenen Gründen bis heute keine Veröffentlichung zuwege brachte, gebe ich von Tariks nachfolgenden Worten ausschließlich Passagen wieder, die zum Verständnis unserer Geschichte absolut unvermeidlich sind. Dennoch bitte ich Sie auch für diese Zeilen um Diskretion. In falschen Händen könnten solch vertrauliche Informationen erheblichen Schaden anrichten.

      „Meine Freunde!“ setzte Tarik an. „Ich habe nicht gelogen, als ich sagte, Angehörige meiner Familie gehörten zu den Letzten, die das Königreich Granada verließen. Es verließen jedoch nicht alle Al Andalus. Mehrere konvertierten zum Christentum, um bleiben zu dürfen. Das belegt die offizielle Geschichtsschreibung.

      Was keiner weiß: Tief unten, im Hügel Sabika, einem Ausläufer der Sierra Nevada mitten in Granada, auf dem sich unsere stolze Festung Alhambra erhebt, gibt es eine Höhle. In dieser Höhle sprudelt eine unterirdische Quelle, der seit alters her magische Kräfte zugeschrieben werden. Entdeckt haben sie vermutlich schon die Iberer, die Ureinwohner der Gegend, die oben auf dem Hügel eine Ortschaft gründeten. Ob die Römer nach ihrer Eroberung des Landes von der Quelle erfuhren, ist zweifelhaft. Als gesichert hingegen können Sie annehmen, dass sich schon während der Römerzeit eine Bruderschaft aus den Reihen der Einheimischen rekrutierte, die die Geheimnisse der Höhle bewahren sollte.

      Die Bruderschaft eliminierte systematisch alle Mitwisser, egal ob Weib, Kind oder Greis. Es sollen blutige Orgien zu Ehren ihrer heidnischen Götter gefeiert worden sein.“

      „Wie schrecklich!“ konnte sich der Doktor eines Kommentars nicht enthalten.