Dorian van Delft. Wolfram Christ. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolfram Christ
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783946691204
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samt und sonders für meine Heimatstadt Rotterdam bestimmt. Beziehungsweise für den Umschlag im dortigen Hafen. Ich habe den Kapitän allerdings gebeten, Doktorchen und mich bereits hier an Land gehen zu lassen. Das hängt mit unseren weiteren Reiseplänen zusammen. Wir wollen den Landweg nehmen, um unterwegs in Leiden einen Geschäftsfreund aufzusuchen. Tarik al Sabah. Der Bursche ist Muslim und stammt ursprünglich aus Damaskus, wenn ich nicht irre. Ein Gewürzhändler mit ausgezeichneten Kontakten nach Spanien, Indien und in den arabischen Raum. Ich wickle nahezu meinen gesamten Kaffee- und Olivenhandel über Tariks Niederlassung ab. Wenn uns einer etwas über magische Plätze auf der iberischen Halbinsel sagen kann, dann er.

      Unsere Ladung betreffend mache ich mir keine Sorgen. Ich werde von Noordwijk aus sofort eine Depesche an meinen Kontoristen Jasper senden. Er wird alles Notwendige im Rotterdamer Hafen veranlassen.

       Tagebuch des Dorian van Delft Donnerstag, 19. Mai anno Domini 1870, Leiden, nachts im Hause von Tarik al Sabah

      Was für ein Abend! Was für eine Begrüßung im Hause meines Freundes Tarik! Wir haben die schönsten Zimmer mit allen nur erdenklichen Annehmlichkeiten. Und erst das Abendessen! Der Tisch bog sich fast unter den Köstlichkeiten heimischer und orientalischer Küche. Mein guter Ingmarson, gewöhnt an Dörrfisch und Knäckebrot, Walspeck und dürre Suppen, wirkte angesichts der ihm unbekannten Herrlichkeiten hoffnungslos überfordert. In den weichen, tiefen Kissen schien er kleiner als sonst, schüchtern verloren in der ungewohnten Pracht.

      Wobei seine Schüchternheit natürlich auch an den Tänzerinnen gelegen haben mag, die uns unser Mahl versüßten. Zu seiner Genugtuung konnte ich ihn heute erstmals von seiner Kammerdiener-Rolle entbinden. Tarik stellt uns beiden genügend dienstbare Geister zur Seite. Ich hoffe, dem Doktor steigt dieser Abend nicht zu Kopfe. Nicht, dass er nächstens von mir ähnlich verwöhnt werden will.

      Nein, das war ein wirklich erstaunlicher Abend. Tarik ist brillant. Käme es nicht bei unseren prüden, verklemmten Holländern schlecht an, bei Gott, ich würde genau so leben wollen wie dieser Muselmann. Gut, der Wein würde mir fehlen. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob sich in seinem Becher wirklich nur kalter Tee befand. Aber mit welcher Raffinesse er das hiesige Verbot der Vielweiberei umgeht! Offiziell gilt er als Junggeselle. Als steinreicher Junggeselle, wohlgemerkt. Er macht keinen Hehl daraus, verwandt mit einflussreichen Würdenträgern seiner Heimat zu sein. Diese wiederum stehen im Dienst der Hohen Pforte in Konstantinopel. Mit solchen Leuten wird sich ein Händlervolk wie das unsere natürlich nicht ohne Not anlegen. Zumal al Sabah zu den besten Steuerzahlern von Leiden zählt.

      Folglich tolerieren es die maßgeblichen Herren der Stadt und mit ihnen die gesamte Leidener Öffentlichkeit, dass Tarik sich einen ganzen Harem von offiziell als Tänzerin, Dienerin, Zofe und so weiter angestellten „Damen“ aus der Heimat in seinen Patrizierpalast am Wall kommen ließ. Eine hübscher als die andere, keine älter als höchstens Mitte zwanzig. Der Mann hat Geschmack. Und seine Geschäfte laufen bestens.

      Nach dem Essen eröffneten wir ihm unser Anliegen. Tarik hörte aufmerksam zu und … es klopft.

       Fußnote van Delft, Rotterdam im Januar 1871

      Unvermittelt bricht mein Eintrag vom 19. Mai ab. Ich gestehe, dass es mir peinlich ist, meine Chronistenpflicht einer Frau wegen unterbrochen zu haben. Wenn ich mich recht erinnere, nannte sie sich Suleika oder so ähnlich. Selbstverständlich durfte ich ihr unzweideutiges Angebot nicht ablehnen. Tarik ist ein Mann mit Prinzipien. Er pflegt, seine Freunde großzügig zu beschenken. Seine Kultur gebietet ihm andererseits, es als tödliche Beleidigung anzusehen, wenn man seine Gaben geringschätzt. Ich hatte keine Wahl. Ein Duell mit dem heißblütigen Araber hätte ich mit Sicherheit nicht überlebt. Den weiteren Verlauf des Gespräches muss ich nun leider wieder aus dem Gedächtnis rekapitulieren, denn tatsächlich erhielten wir von dem Gewürzhändler wertvolle Hinweise. Gut.

      Tarik, wie gesagt, folgte aufmerksam den Ausführungen von Doktor Ingmarson. Als mein Begleiter geendet hatte, fragte er nachdenklich:

      „Wie kann ich Ihnen, lieber Doktor, bei Ihrer Suche nach der Unsterblichen behilflich sein?“

      „Tarik, mein Freund“, mischte ich mich ein, „es geht uns um deine brillanten Kenntnisse über Spanien. Und damit meine ich nicht nur das gegenwärtige Königreich, sondern vor allem dein Wissen um die verflossenen Reiche der Emire und so weiter, die vor der Reconquista die iberische Halbinsel beherrschten.“

      „Ja“, ergänzte Ingmarson, „es gibt auf den Runentafeln, die ich in der Höhle fand, neben dem Bericht über den Untergang Pompejis Hinweise auf heilige oder magische Orte im Süden. Ich habe Grund zur Annahme, dass die Trollhexe, also unsere Pompejianerin, möglicherweise dorthin ausgewandert ist, nachdem Erik der Rote irgendwann nicht zurückkehrte. Ich nehme an, dass die übrigen Nordmänner ihr so wenig Glauben schenkten, wie alle Menschen zuvor.“

      „Sie könnte aber auch überall anders hin ausgewandert sein?“

      „Im Prinzip ja, aber es gibt zwei Aspekte, die mir in dem Zusammenhang nicht unwichtig scheinen. Erstens, zwischen den üblichen Runen tauchen Zeichen auf, die ich nicht deuten kann. Ich tippe auf arabische Schriftzeichen. Zweitens, wie Ihnen, mein Herr, sicher nicht unbekannt ist, erscheinen normannische Krieger im betreffenden Zeitraum erstmals in Spanien. Soviel ich weiß, drangen sie von Süden her, dem Flusslauf des Rio Guadalquivir folgend, mindestens bis Sevilla vor. Vielleicht sogar bis Cordoba. Zu der Zeit stand das Kalifat von Cordoba in höchster Blüte. Kunst und Philosophie galten mehr als Reichtum. Wäre es nicht möglich, dass der verlorene Schatz, den die Wikinger in Andalusien suchten, statt aus Gold und Silber aus einer geradezu unbezahlbaren Wahrsagerin bestand? Ich nehme an, die Leute hatten sehr schnell ihren Fehler erkannt und wollten die Trollhexe zurückholen. Die Tontafeln konnten ihnen als Kompass dienen.“

      „Spekulationen, lieber Doktor, Spekulationen. In Wahrheit verließen die Wikinger damals, sofern wir ihrer nicht habhaft wurden, unsere iberischen Besitzungen mit reicher Beute. Und zwar mit echten, greifbaren Schätzen. Juwelen, Diademe, Ringe, goldenes Geschirr.“ Ich horchte auf.

      „Du sprichst von ‚unseren‘ Besitzungen. Bist du am Ende selbst ein Zeitreisender, mein lieber Tarik?“ Der Araber lachte.

      „Keine Angst, Dorian, ich bin ein Mensch wie du oder unser verehrter Herr Doktor. Es ist allerdings so, dass ich einer sehr alten und traditionsbewussten Familie entstamme. Um es kurz zu machen: Einige meiner Vorfahren dienten dem Kalifen. Den Nasriden, den späteren Königen von Granada, waren sie sogar verwandtschaftlich verbunden. Sie ließen ihr Blut bei der Verteidigung der Stadt und gehörten zu den letzten Kriegern, die unsere Heimat, jenes gelobte Land Al Andalus, verließen. In unseren Bibliotheken finden sich umfangreiche Folianten, die über siebenhundert Jahre arabischen Glanzes im Süden der iberischen Halbinsel dokumentieren. Das ist ein längerer Zeitraum, als die katholischen Könige seither dort herrschen.

      1492 christlicher Zeitrechnung mussten wir Granada verloren geben. Heute schreiben wir 1870. Die Differenz kannst du leicht selbst überschlagen. Mein Vater legte stets großen Wert darauf, dass ich diese frühen Höhepunkte unserer Familiengeschichte gründlich studiere. Insofern bin ich recht gut über die damaligen Ereignisse in Spanien orientiert.“

      „Hochinteressant.“

      „Doktor Ingmarson, wollen Sie mir die besagten Tontafeln vielleicht einmal zeigen? Sollten es tatsächlich arabische Schriftzeichen sein, könnte ich Ihnen bei der Übersetzung behilflich sein.“ Ingmarson sank tiefer in seine Kissen.

      „Wollen schon. Können hingegen … Soll heißen, die Tontafeln, sie vertragen anscheinend kein Tageslicht. Möglicherweise hat sie die Hexe mit einem Fluch belegt. Sobald ich versuchte, einige der Tafeln aus der Höhle zu bringen, zerfielen sie zu Staub. Ich habe jedoch Abschriften der erhaltenen Tafeln in der Höhle angefertigt.“ Er griff nach seiner Aktenmappe und zog den Ordner mit seinen Kopien heraus. „Bitte sehr. Das sind sie. Ich habe viele Stunden im Skessuhorn zugebracht und mit klammen Fingern beim Schein der Öllampe Tafel für Tafel abgezeichnet. In der zweiten Zeile finden Sie jeweils die lateinische Übersetzung.“

      „Warum Latein?“

      „Welcher Mensch,