Immer noch daheim. Es ist wie verhext. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ständig türmen sich neue Hindernisse auf, die der Reise entgegenstehen. Ob die Trollhexe, pardon, Kassandra, nicht will, dass wir sie finden? Mal hängt es an Visums- oder Zollformalitäten, dann wieder meldet sich unverhofft ein wichtiger Geschäftspartner, dessen Anliegen keinen Aufschub duldet. So wie es aussieht, sitzen wir mindestens weitere vierzehn Tage in Rotterdam fest. Es ist zum Haare raufen. Hoffentlich kommen wir nicht zu spät.
Tagebuch des Dorian van Delft Montag, 20. Juni anno Domini 1870, Flandern, in einer Postkutsche,
Vor ein paar Minuten haben wir die belgische Grenze passiert. Endlich! Es ging ohne größere Verzögerungen ab. Die Mühen der vergangenen Wochen waren nicht umsonst. Mein Kontorist hat einfach an alles gedacht. Die Papiere sind tadellos. Am interessantesten fanden die Zöllner unsere vielen Arbeitsutensilien. Weil sich Frans Ingmarson jedoch als Archäologe ausweisen konnte und unser Reiseziel nicht in Belgien liegt, verzichteten die Beamten auf langes Prozedere.
Wir haben uns für den Landweg entschieden. Zum einen wegen der Anfälligkeit meines Wikingers bei Wellengang, zum anderen gibt es eine Eisenbahnlinie von Brüssel nach Paris und von da weiter nach Südfrankreich. Praktisch gesprochen:
Wir erreichen Brüssel voraussichtlich gegen Abend. Von dort nehmen wir ein Schlafwagenabteil im Nachtzug und sind schon am nächsten Morgen in Paris. Jasper hat die Billetts telegrafisch bestellt. Unglaublich, was mit moderner Technik alles möglich ist. In Paris kümmern wir uns um eine schnelle Anschlussverbindung und wenn alles gut geht, sind wir in zwei Tagen in den Pyrenäen. Das schafft kein Schiff und keine Kutsche! Ich freue mich auf meine erste Zugfahrt. Bin gespannt, ob ich in so einem stählernen Ungetüm schlafen kann.
Wie heute Morgen in der Zeitung stand, hat Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen gestern erklärt, er sei bereit, die spanische Krone anzunehmen. Es ist ja nun schon die zweite Offerte der Madrider Übergangsregierung nach Ende des Bürgerkrieges. Ich nehme an, Bismarck hat ihm in den Allerwertesten getreten, damit er nicht wieder kneift. Napoleon wird schäumen! Hoffentlich beeinträchtigt der Thronstreit nicht unsere Pläne.
Tagebuch des Dorian van Delft Mittwoch, 22. Juni anno Domini 1870, im Zug von Paris nach Toulouse
Grandios! Wir fliegen förmlich über Felder und durch Wälder dahin. So schnell schafft das kein Jagdwagen der Welt. Nicht mal vierspännig. Und dabei ist so eine Eisenbahnfahrt erstaunlich ruhig. Nur das sanfte klack-klack, klack-klack der Schienenstöße spürt man. Aber das ist nicht halb so enervierend wie das Geholper einer Kutsche auf Kopfsteinpflaster oder gar ungepflasterten Waldwegen.
Wir reisen natürlich erster Klasse. Jedenfalls Doktor Ingmarson und ich. Fridolin sitzt hinten in der vierten Klasse. Ganz in der Nähe des Gepäckwagens. Von dort aus kann er besser die Verladung unserer Koffer überwachen. Er hatte bislang wenig Arbeit. Überall wo wir hinkamen standen sofort dienstbare Geister auf dem Perron, die beim Ein- und Ausladen behilflich waren.
Ich habe von Paris aus die östliche Route über Andorra gewählt, obwohl die etwas länger ist. Das kleine Pyrenäenfürstentum fehlt mir bislang in meiner persönlichen Sammlung kurioser Reiseziele. Außerdem scheint mir die dortige Passstraße zuverlässiger. Im Westen machen seit ein paar Jahren baskische Sezessionisten die Gegend unsicher.
Uns gegenüber im Abteil sitzt eine elegante Pariserin mit ihrer Zofe. Sehr aparte Person. Doktor Ingmarson hat sie gleich in ein kleines Gespräch verwickelt. Irgendwie schreckt der Kerl vor nichts zurück. Ich hätte mich nie getraut, die Dame ohne vorherige offizielle Vorstellung anzusprechen. Aber so sind diese Intellektuellen. Keine Manieren. Zum Glück. Die Französin zeigte sich ihrerseits keineswegs schüchtern. Typisch! Die Folge ist eine äußerst angeregte und amüsante Unterhaltung, aus der ich mich gerade für ein paar Minuten heraushalte, um meiner Chronistenpflicht in eigener Sache Genüge zu tun. Wenn der Doktor redet, komme ich sowieso nicht zu Wort.
Madame ist auf dem Weg zu ihrer Schwester nach Toulouse. Ein paar Wochen ausspannen vom Pariser Trubel der vergangenen Ballsaison, sagt sie. Der Herr Gemahl käme nach, sobald er seine Geschäfte beendet habe. Sommerfrische nenne sich so etwas. Also einfach nur verreisen, zum Vergnügen. Das sei der neueste Schrei in den besseren Kreisen.
Sachen gibt es! Ist das nun der endgültige Verfall der Sitten oder vielleicht der Beginn eines goldenen Zeitalters? Ich weiß es nicht. Aber im Ernst, welcher normale Mensch, der nicht gerade wie ich Reisen und Beruf miteinander verbinden kann, ist in der Lage, sich so eine Sommerfrische zu leisten? Wenn beispielsweise einer meiner Lagerarbeiter in Rotterdam sich erdreistete, eine oder womöglich gar zwei Wochen am Stück frei nehmen zu wollen, um in die Sommerfrische zu fahren, er wäre die längste Zeit bei mir angestellt! Und ich selbst? Gut, nun bin ich mit Ingmarson auf Entdeckertour. Aber diese Reise verfolgt einen hehren wissenschaftlichen Zweck und wird hoffentlich Gewinn abwerfen. Unter kaufmännischen Gesichtspunkten muss ich besagte Sommerfrische deshalb wohl für eine ziemlich dekadente Idee halten. Persönlich verhilft mir die Reise der Dame nebenan allerdings zu einem ausgesprochen unerwarteten Vergnügen. Weswegen ich an dieser Stelle meine Notizen für heute beende, um nicht unhöflich zu wirken und mich wieder am Gespräch zu beteiligen.
Nachtrag zum gestrigen Tag: Man ruht in den Schlafabteilen des Nachtzuges wirklich vorzüglich!
Tagebuch des Dorian van Delft Montag, 27. Juni anno Domini 1870, Andorra la Vella, Hotel zum Mistral
Vom 19. Jahrhundert ins Mittelalter. Unglaublich. Zwei Tage durch ganz Frankreich. Fünf die paar Meilen von Toulouse hier herauf. Unglaublich! In den Pyrenäen ist Ende Juni der Winter zurückgekehrt. Unsere Reisebedingungen sind katastrophal. Schon ab Saint-Paul-de-Jarrat gab es für Kutschen kein Durchkommen mehr. Im Tal machen überquellende Bäche und Flüsse jeden Weg nahezu unpassierbar. Weiter oben zum Pass hin taut der meterhohe Schnee nur langsam. Lawinengefahr. Wir mussten unser Gepäck auf sechs Maultiere verteilen und laufen!
Was sich hier Straße nennt, spottet jeder Beschreibung. Unsere kleine Karawane kam nur sehr langsam vorwärts und einmal mussten wir sogar in einer Scheune nächtigen. Unterwegs verloren wir zwei unserer Maulesel. Einer rutschte direkt vor mir aus. Seine Hufe fanden auf dem eisigen Grund keinen Halt, er verlor sein Gleichgewicht und stürzte in die Schlucht. Ich hatte Glück, dass mich das dumme Vieh nicht mitriss. Mit ihm verschwand ein Gutteil von Doktor Ingmarsons teuren Gerätschaften. Alle nagelneu und unbenutzt.
Das zweite Tier verendete gestern ohne ersichtlichen Grund. Es brach einfach im tiefen Schnee zusammen und blieb liegen. Ich schätze mal, dass die Kälte Schuld daran trägt. Vielleicht war es auch schon vorher krank, denn es hatte die ganze Zeit Schaum ums Maul. Es transportierte Lebensmittel sowie den Koffer mit meinem Smoking, den weißen Hemden und einigen Schreibutensilien für dieses Tagebuch. Die Lebensmittel ließen sich problemlos auf die restlichen Tiere verteilen. Nicht so besagter Koffer. Ihn liegen zu lassen oder seinen Inhalt im nassen Schnee umzupacken, kam natürlich überhaupt nicht in Frage. Weil die restlichen vier Maultiere aber ebenfalls fast am Ende ihrer Kräfte waren, mussten sich eben Menschen in die Schlepperei teilen. Genau genommen zwei Menschen. Ich bestand darauf, dass Ingmarson Fridolin zuweilen ablöste. Ich brauche meinen Bediensteten lebend in Spanien. Eigentlich hätte ich deshalb gern unseren Bergführer in die Arbeit einbezogen, aber der impertinente Knabe weigerte sich strikt. Jedem anderen hätte ich bei solchem Verhalten fristlos gekündigt. In seinem Fall musste ich nachgeben. Ohne ihn hätten wir nie und nimmer den richtigen Pfad durch Matsch und Geröll gefunden. Zum Glück konnte er uns hier am Ort Ersatz für das Maultier versorgen. Der Abstieg nach Spanien ist somit gesichert.
Mir tut jeder Muskel einzeln weh. Das Atmen in der dünnen Luft fällt schwer. Der Doktor klagt auch. Wir sind solche Höhen nicht gewohnt. Einzig Fridolin scheint unbeeindruckt. Allmählich beginne ich zu bereuen, nicht das Schiff genommen zu haben.
Fast vergessen: In Ax-les-Thermes, am Fuße der Pyrenäen, erweiterte ich unsere Reiseausstattung vorsorglich um dicke Winterstiefel und warme Pelzjacken. Außerdem erwarb ich auf Anraten unseres Führers eine große Zeltplane. Der Nutzen dieser Investition erwies sich spätestens auf der Passhöhe des Port d‘Envalira.