Fußnote van Delft, Rotterdam im Januar 1871
Hat man Töne! Die beiden Damen! Darüber habe ich mit Fridolin bisher nie gesprochen. Wir hatten ja weiß Gott meist Wichtigeres im Kopf. Unglaublich. Dass sie Spione waren, davon höre ich gerade das erste Wort. Weibliche Spione! Obwohl Frauen nachgewiesener Weise nichts von Politik verstehen und zum Glück nicht wählen dürfen. Holde Feen, missbraucht als fehlgeleitete Marionetten eines skrupellosen, verkommenen Systems! Ich bin entsetzt! Diese Froschfresser schrecken vor nichts zurück. Das zarte weibliche Geschlecht: ausgebeutet und benutzt, ahnungslose Männer auszuhorchen. Wie weit wäre Madame eigentlich gegangen, wenn wir beide im Zug nicht so redselig gewesen wären? Immerhin mussten wir in Toulouse eine Nacht im Hotel verbringen. Nicht auszudenken! Natürlich hätten wir Herren gegenüber, in denen wir ernsthafte Konkurrenten vermuten durften, nie und nimmer so offen geredet! Welch ein Schock noch im Nachhinein!
Die Geschichte mit der „Sommerfrische“: erstunken und erlogen! Dachte ich mir gleich. Wie tief war die glorreiche „Grande Nation“ unter dem dritten Bonaparte gesunken? Unmoral bis in den Staatsapparat. Spitzelnetze und Polizeiwillkür statt Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Pervers. Kein Wunder, dass die Pariser im September, unmittelbar nach Napoleons Gefangensetzung durch die Deutschen, die nächste Revolution anzettelten. Unerhört! Das muss ich dem Doktor berichten. Er wird es sich nächstens zweimal überlegen, ob er fremde Ladies anspricht. Ein Skandal!
Elisabeth
Erinnerungen von Fridolin Bergmann, Rotterdam im Januar 1871
Es war eine sternlose Nacht. Dunkle Wolken bedeckten den Mond. Ich konnte lange nicht einschlafen. Zu aufregend waren die vergangenen Stunden gewesen und ich hatte keinen blassen Schimmer, wie es am nächsten Tag weitergehen sollte. Der Leutnant sagte nur, dass wir nach Frankreich abtransportiert würden. Aber wohin genau, mit welcher Begleitung, gebunden oder frei? Bestünde eine Fluchtmöglichkeit?
Nebenan schnarchten der Doktor und die französischen Sergeanten um die Wette. Etwas raschelte im Gebüsch. Ich fuhr herum. Eine Schlange? Auch das noch. Ich wollte gerade um Hilfe rufen, da zischte es. Aber nicht wie eine Schlange. Eher so:
„Schhhhhh“. Eine Hand legte sich auf meinen Mund. Dann passierte eine Weile nichts. Erst nachdem bestimmt zwei Minuten lang kein anderes Geräusch zu hören war, ließ mich die Hand los. Aus dem Gebüsch tauchten Umrisse eines Gesichts auf und schoben sich ohne einen Laut an mein Ohr. Eine weitere Minute verstrich, bevor sich die Lippen endlich öffneten.
„Ganz still, bitte. Wenn die uns hören, sind wir beide tot.“ Es war mehr ein Hauch als ein Flüstern. Und dieser Hauch klang deutsch. Eine mir bekannte Stimme. Ich war verblüfft.
„Esmeralda?“
„Schhhh. Sprechen Sie leise. Ich kann Ihnen vielleicht helfen.“
„Aber wieso …?“
„Erzähl ich Ihnen später. Ist ‘ne lange Geschichte. Mein richtiger Name ist Elisabeth. Elisabeth Schubert. Ich komme aus Deutschland, lebe aber seit Jahren hier in den Bergen. Bitte sagen Sie mir eins: Stimmt es, dass Sie Deutscher sind?“ Eine Falle. Mein Herz bebte. Ganz bestimmt eine Falle. Es konnte nicht anders sein. Nur, warum sie? Und warum so? Das hätten sie am Rande des Abendessens bequemer haben können. Ich bekam Angst, etwas Falsches zu sagen.
„Warum interessiert Sie das?“
„Weil ich Ihre einzige Chance bin. Weil ich Sie und die Franzosen morgen früh führen werde.“
„Sie? Wieso?“
„Weil die anderen keine Lust haben.“
„Keine Lust? Ich dachte, für Geld machen Räuber alles.“
„Räuber?“ Sie verschluckte ein leise glucksendes Lachen. „Na ja, vielleicht haben Sie recht. Räuber. Selber nennen sie sich Freiheitskämpfer. Es sind Euskaldunak.“
„Euskal was?“
„Schhhh. Euskaldunak. Basken, die sich nach Andorra ins Exil zurückziehen mussten. Auf ihre Köpfe sind Prämien ausgesetzt. In Spanien wie in Frankreich. Das Baskenland erstreckt sich westlich von hier beiderseits der Grenzen. Weil meine Kameraden Unabhängigkeit für ihr Land wollen, werden sie verfolgt. Deshalb haben sie keine Lust, das Risiko einzugehen, Ihre Gruppe aus Andorra raus zu eskortieren.“
„Und warum arbeiten sie dann hier mit den Franzosen zusammen?“
„Für Ihren Fang haben sie einen ziemlichen Batzen Geld gekriegt. Allerdings nur für den Fang. Meine Leute brauchen viele Francs und Peseten, um eine Befreiungsarmee aufzubauen. Da ist es ihnen egal, wo die herkommen. Selbst in Feindesland zu ziehen, ist was anderes. Das ist ihnen momentan zu heiß. Vielleicht würden sie Sie und die Franzosen zurück eskortiert, wenn die dafür mehr geboten hätten. Konnte der Herr Lafontaine aber nicht, weil er nicht so viel dabei hat. Sie wissen ja, nur Bares ist Wahres. Dass er nicht so viel dabei hat, liegt wiederum daran, dass er nicht dachte, dass er Sie zurückbringen muss. Normalerweise wären Sie jetzt schon tot. Standrechtlich erschossen. Ihre Erpressung hat ihn bewogen, anders zu entscheiden.“
„Erpressung? Ich bitte Sie.“
„Schon gut.“
„Und warum kommen Sie mit, wo es doch kein Geld gibt?“
„Bei mir ist das was anderes. Wenn ich draufgehe, ist es in den Augen der Basken kein Verlust. Auch nicht, wenn ich stiften gehe. Ich bin als Frau in deren Augen nur eine billige Magd. Eine wie mich kriegen sie überall in den Dörfern, glauben sie. Die sind nicht zimperlich, wenn es um die Rekrutierung von Frauennachschub geht. Dass ich die Soldaten zurückbegleite, war darum eigentlich von Anfang an ausgemacht. Also Teil des gebuchten Pakets. Nur konnte vor fünf Tagen niemand ahnen, dass gefährliche Gefangene transportiert werden müssen. Meine Leute interessiert die Planänderung des Leutnants nicht die Bohne. Geschäft ist Geschäft. Sie haben ihren Teil erfüllt und abkassiert. Basta!“ Sie schwieg. Wir lauschten. Nichts. Nur Schnarchen. Manchmal knisterte und knackte ein Holzscheit in den Flammen. Die Wächter würfelten und unterhielten sich leise. Ab und zu warfen sie einen Blick in unsere Richtung. Elisabeth hatte ihren Kopf fest ins feuchte Moos gedrückt. Ich konnte sie riechen, fühlte ihre Wärme. Zu sehen war sie in der Dunkelheit kaum. Der Lichtschein des Feuers drang nicht bis zu uns. Da ich nicht antwortete, begann sie erneut.
„Was ist jetzt mit Ihnen?“ Für mich war die Sache entschieden. Sie sagte es ja selbst: Wenn ich kein gefährlicher Deutscher wäre, würden wir alle erschossen. Ich durfte uns nicht in Gefahr bringen. Ich schluckte und flüsterte dann so entschieden als möglich:
„Es ist wie ich sagte. Ich bin preußischer Offizier.“
„Schade, als Holländer waren Sie mir sympathischer. Ich stamme aus Sachsen, müssen Sie wissen.“ Das kapierte ich nicht. Was ist falsch an einem Preußen, wenn jemand aus Sachsen stammt? Hatten die offene Rechnungen miteinander? Vermutlich. Vorsichtshalber sagte ich gar nichts mehr.
„Passen Sie auf, genau genommen ist es mir egal, wo Sie her sind. Viel wichtiger: Können Sie mir helfen, zurück nach Sachsen zu kommen? Wenn ja, bin ich bereit, Kopf und Kragen für Sie zu riskieren. Wenn nicht, können Sie von mir aus bleiben wo der Pfeffer wächst.“ Schwor ich einen Meineid, wenn ich ihr etwas versprach, das ich vielleicht nicht halten konnte? Andererseits, was hatte ich zu verlieren? Mynheer van Delft kannte die halbe Welt. Sicher wusste er einen Weg, die mysteriöse junge Dame nach Deutschland zu bringen, wenn sie darauf bestand. Also gab ich ihr die gewünschte Auskunft:
„Ich denke schon.“ Sie nickte kurz und verschwand so geräuschlos wie sie gekommen war. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Hatte ich die richtige Antwort gegeben?