Dorian van Delft. Wolfram Christ. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolfram Christ
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783946691204
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Güte. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, dass mein Kammerdiener so ein Sensibelchen ist. Und dass er so ausführlich schreiben kann? Hut ab. Wenn ich das richtig sehe, zermartert er sich weitere zwei Seiten lang den Kopf über seine schlaflose Nacht. Höchste Zeit, dass ich unsere Geschichte ein wenig raffe. Beginnen wir am folgenden Morgen.

      Wir wurden bei Tagesanbruch geweckt. Die Franzosen hatten es eilig. Mir konnte es recht sein. Je eher, desto besser. Beim Abmarsch gab es ein paar Diskussionen, weil die Banditen uns unser Gepäck und die Maultiere nicht zurückgeben wollten. Es fehlte nicht viel und ich hätte wieder Prügel bezogen. Zumindest die Zeltplane und meine Tagebücher durften wir dann aber doch behalten. Die Zeltplane, weil auch die Franzosen sie für eine erneute Überquerung des Gebirgskammes als sinnvoll erachteten und die Papiere wegen der darin vermuteten militärischen Geheimnisse. Leider weder Tinte, noch Feder oder Bleistift. Ganz zu schweigen von meinem Kleiderkoffer. Ärgerlich.

      Ich grübelte ernsthaft, wie ich in Frankreichs Süden auf die Schnelle einen guten Schneider wenigstens für die dringendste Garderobe finden sollte. Gehrock, Frack, Hemden, Lackschuhe und so weiter. Mit der zusammengenwürfelten Winterkluft, die ich am Leibe trug, konnte ich mich unmöglich bei zivilisierten Menschen sehen lassen. Weder unter der Guillotine noch in der Hitze Spaniens. Sollte ich bis Paris zurückreisen müssen, nur um mich neu einzukleiden! Mal abgesehen davon, dass mir die Vagabunden all meine Bargeldreserven abgeknöpft hatten. Eine unangenehme Situation.

      Zum Transport wurde uns schließlich eines meiner Maultiere bewilligt. Immerhin. Genug Proviant für mindestens drei Tage bekamen wir außerdem eingepackt. Womit deutlich wurde, dass unsere Bewacher sämtliche infrage kommenden Siedlungen weiträumig zu meiden gedachten. Trübe Aussichten.

      Vom nächtlichen Besuch bei Fridolin hatte ich nichts mitbekommen und so war ich einigermaßen überrascht, als die Freischärler mit Ausnahme unserer jungen Führerin im Lager zurückblieben. Meist mussten wir im Gänsemarsch laufen. Vornweg das Mädchen, dann Leutnant de Lafontaine, danach das Maultier, Fridolin, ein Sergeant, Dr. Ingmarson, ich und am Schluss der zweite Sergeant. Wobei der Begriff „laufen“ für diesen Marsch eigentlich der falsche Ausdruck ist. Wir kraxelten, kletterten, stolperten, rutschten, um nur einige passendere Verben zu erwähnen. Immer die Bajonette und Gewehrläufe der Soldaten im Rücken. Einige Male hätte mich mein Sergeant fast versehentlich aufgespießt, weil er das Gleichgewicht verlor. Unangenehme Vorstellung.

      Gott sei Dank hatte der Leutnant sein Versprechen gehalten und uns die Handfesseln wieder abgenommen. Gebunden hätten wir uns nirgends richtig festhalten können. Wer die Schluchten und Steilhänge der Pyrenäen kennt, weiß, dass fehlender Halt dortzulande schnell das Ende bedeuten kann. Zwischenzeitlich bestand unsere Führerin deshalb sogar darauf, eine Seilschaft zu bilden. Dabei blieben die Hände frei, der Strick um den Bauch half jedoch, unterwegs niemanden durch einen Fehltritt zu verlieren. Die Idee fanden unsere Franzosen so großartig, dass sie uns die Seile fortan dauerhaft umgebunden ließen. Hoffnungen auf spontane Ausbruchsgelegenheiten konnte ich damit natürlich endgültig fahren lassen.

      Die kommende Nacht verbrachten wir in einer Talsenke. Unsere Plane ließ die Freischärlerin zwischen riesigen Felsblöcken aufspannen, gewaltigen Brocken, die wohl von einem höher gelegenen Felsmassiv abgebrochen, abgestürzt und in der Senke liegengeblieben waren. So erhielten wir ein geschütztes Plätzchen, an dem die Soldaten ein wärmendes Feuer entfachten. Da wir wieder gefesselt wurden und die Franzosen es nicht riskierten, uns allein zu lassen, beziehungsweise es für unter ihrer Würde hielten, zu arbeiten, wenn sich eine Magd im Tross befand, musste das Mädchen Brennholz suchen. Sie ertrug die Schikane klaglos. Allerdings bemerkte ich, wie sie einige Male Blicke mit Fridolin tauschte. Ich wurde aus dieser Esmeralda nicht klug. Führte sie etwas im Schilde? Und wenn ja, was? Welche Rolle spielte Fridolin dabei?

       Anmerkungen von Dr. Frans Ingmarson, Rotterdam im Januar 1871

      Um ehrlich zu sein, hatte ich in jenen Tagen im Gebirge mit mir und meinem Leben abgeschlossen. Ich verstand nur wenig von den Dingen, die um mich herum vorgingen. Nur eben, dass man uns für Spione hielt und früher oder später zu erschießen gedachte. Reden durften wir nicht miteinander. Am meisten litt ich allerdings, weil ich meine gesamten wissenschaftlichen Instrumente eingebüßt hatte.

      Gut, die Abschriften vom Skessuhorn, die hatten die Verbrecher nicht behalten wollen. Zum Glück. Zum Unglück galten den Franzosen meine Runen, arabischen Symbole und lateinischen Übersetzungen vermutlich als Geheimschrift, die ihre Experten in Paris entschlüsseln sollten. Nun würden sie darin zwar nicht das finden, worauf sie aus waren, aber genau genommen hatten sie einen Schatz gewonnen, von dessen Ausmaß sie sich vorderhand keinerlei Vorstellung machten. Ich glaubte allerdings sicher, dass die französischen Spezialisten die Brisanz meiner Informationen schnell erkennen würden. Womit die Macht Kassandras definitiv in die falschen Hände geriete. Ich kenne kein skrupelloseres Regime als das dieses dekadenten Nachkommen des großen Bonaparte. Wann der nächste Krieg ausbräche, schien mir nurmehr eine Frage der Zeit. Bekanntlich behielt ich recht.

      Um mich von meinen düsteren Gedanken abzulenken, brütete ich fortan Tag und Nacht über gewissen Passagen aus Kassandras Vermächtnis, deren tieferen Sinn ich bislang nicht ergründen konnte. Eine Arbeit, für die ich meine Papiere nicht benötigte. Ich kannte inzwischen nahezu den gesamten Text auswendig.

       Fußnote van Delft, Rotterdam im Januar 1871

      Angeber. Von wegen Tag und Nacht gebrütet. Während uns die Soldaten im Wechsel bewachten, schnarchte mein guter Doktor, dass es schauerlich von den Bergen widerhallte. Ich übertreibe. Aber glauben Sie mir, der Mann hat einen gesunden Schlaf. Fast wie Schecki, die kleine Schnarchnase. Pardon, den vergaß ich zu erwähnen. Der Hund musste nicht lang nachdenken, als er sah, dass die beiden einzigen Menschen, die sich um ihn kümmerten, das Lager der Freischärler verließen. Ohne zu zögern schloss er sich uns an. Ich habe zwar normalerweise nicht viel für Hunde oder Katzen übrig. In unserer damaligen Lage allerdings beruhigte die Begleitung des unschuldigen Tierchens meine angespannten Nerven.

      Der zweite Tag unserer Wanderung verlief kaum anders als der erste. Die Franzosen verhinderten konsequent jedes Gespräch. Infolgedessen waren sie in dem unwegsamen Gelände dermaßen mit unserer Beaufsichtigung, ihren zu langen Gewehren und dem Bemühen beschäftigt, nicht zu stürzen, dass ihnen ein interessantes Detail entging. Unsere Marschrichtung hatte sich seit dem Mittag kaum merklich Stück für Stück geändert. Statt weiter nach Norden zu gehen, schwenkten wir nach und nach in Richtung Süden.

      Mir war das früh aufgefallen. Ich hütete mich jedoch, ein Wort darüber zu verlieren. Eine kurze Bemerkung Fridolins am Morgen und ein Blickkontakt mit ihm und Esmeralda nachmittags, als die Veränderung immer offensichtlicher wurde, machten mir deutlich, dass dies kein Zufall sein konnte.

      Unser schmucker Gardeleutnant, der in Gedanken wohl schon seine Beförderung durchspielte, sprach Esmeralda erst in den Abendstunden auf den Richtungswechsel an. Da befanden wir uns bereits auf der Suche nach einem Lagerplatz. Sie erklärte ihm kurz angebunden in gebrochenem Französisch, dass er gern eine kürzere Route wählen könne, wenn er sich hier so gut auskenne. Sie für ihren Teil habe keine Lust, sich auf vereisten Steilhängen das Genick zu brechen. Schüchtern wagte der Offizier einzuwenden, dass der Junge auf dem Hinweg seiner Erinnerung nach anders gelaufen sei. Esmeralda zuckte mit den Schultern und meinte, möglicherweise kenne der Schleichwege, die ihr unbekannt seien. Sie habe den Auftrag, uns alle sicher ins Tal zu geleiten und das könne sie eben nur da, wo sie Bescheid wisse. Damit war die Sache erledigt. Der Franzose gab sich zufrieden.

      Innerlich musste ich über das erstaunliche Selbstbewusstsein des Mädchens schmunzeln. Oben, unter der Fuchtel der alten Vettel, hatte sie auf mich eher schüchtern gewirkt. Wie man sich in einem Menschen täuschen kann.

      Der Doktor bekam von all dem nichts mit. Er trottete gedankenverloren vor sich hin. Fast fürchtete ich um seinen seelischen Zustand. Allein, ein gelegentliches Aufleuchten seiner Augen, verbunden mit tonlosen Lippenbewegungen sagten mir, dass sein Geist sich schlicht und ergreifend aus der unerfreulichen Gegenwart in die vergangenen Gefilde seiner geliebten Kassandra zurückgezogen hatte. Das würde sich wieder geben.

       Erinnerungen von Fridolin Bergmann,