„Wie fühlen Sie sich?“
„Geht so.“
„Ich hab extra eine schwierige Route gewählt, damit die Jungs heut Nacht gut schlafen. Natürlich wird immer einer Wache halten. Den lenke ich ab. Wenn sie es so wie gestern machen, ist die dritte Wache der lange dürre Sergeant. Der hat ein Auge auf mich geworfen. Schaffen Sie es, so lange munter zu bleiben?“
„Ich weiß nicht. Glaub schon.“
„Notfalls trete ich Ihnen irgendwie auf den Fuß, wenn es los geht. Nehmen Sie das Messer hier.“ Sie reichte mir ein schmales Stilett. „Stecken Sie‘s in den Stiefel. Ich denke, Sie kriegen es hin, sich damit die Fesseln durchzuschneiden?“
„Sicher.“ Das stimmte zwar nicht, denn wo hätte ich sowas lernen sollen? Ich bin doch kein Entfesselungskünstler. Aber was sollte ich sagen? Zaghaft wagte ich eine Nachfrage: „Und was machen wir mit den Franzosen?“ Sie sah mich erstaunt an.
„Wollen Sie die Herren zum Tanz auffordern oder was?“
„Nein, das nicht, nur …“ Wir mussten unsere Unterhaltung bis zum nächsten Felsen unterbrechen. Die Soldaten wären sonst misstrauisch geworden. Sobald wir wieder außer Sicht waren, fauchte sie mich an.
„Was soll das? Wollen Sie den Helden spielen und mit drei Gefangenen durch die Berge pilgern? Heiliger Santiago de Compostela! Kräftige junge Soldaten, bewacht nur von uns beiden? Die zwei halbtoten Zivilisten zählen ja wohl nicht, oder? Also wenn das Ihr Ernst ist, wären Sie ja noch dümmer als unser eitler Gardeleutnant. Soll ich Sie hier halbwegs sicher raus und nach Spanien bringen oder nicht?“
„Schon …“
„Dann müssen wir kurzen Prozess machen. Es geht nicht anders. Sie stechen die beiden Schläfer ab, ich mach den Wächter fertig. Wenn einer von uns beiden Probleme bekommt, hilft der andere. Solange wir in den Bergen sind, wird nach meinen Regeln gespielt. Unten in der Ebene dürfen Sie gern das Kommando übernehmen. Das Risiko ist auch ohne Heldenoper hoch genug und jetzt weg hier, sonst wird de Lafontaine vor der Zeit misstrauisch.“
Ja, es wurde höchste Zeit. Prompt kam der lange, dürre Sergeant, von dem sie gesprochen hatte, um die Ecke geschlendert, um nach uns zu sehen. Es war der Dolmetscher. Elisabeth schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln und bat ihn, ihr aufzuhelfen. Sie hatte recht, der Kerl fraß ihr aus der Hand. Ich machte, dass ich in die Nähe von Mynheer van Delft kam. Ich musste mich mit ihm beraten. Denn ehrlich gesagt hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nie einen Menschen getötet. Schon gar nicht im Schlaf. So etwas stand nicht in meinem Arbeitsvertrag.
Fußnote van Delft, Rotterdam im Januar 1871
Das hätte ich auch nie in einen Arbeitsvertrag geschrieben! Fridolin ist ein Witzbold. Aber als er damals nach dem Zeltaufbau zu uns kam, war ihm ganz sicher nicht nach Scherzen zumute. Er sah richtig schlecht aus. Ich ahnte, dass sein Zustand nicht von den Anstrengungen des Tages herrührte.
Zum Glück standen unsere Bewacher wirklich am Rande der absoluten Erschöpfung. Sie waren jetzt sechs bis sieben Tage fast pausenlos auf den Beinen. Im Gegensatz zu uns hatten sie aber außerdem Waffen, Munition, den üblichen Tornister mit Spaten, Decken, Essgeschirr und so weiter zu schleppen. Und sie mussten seit zwei Tagen aufpassen, dass wir keine Dummheiten machten. Dazu die kalte, dünne Höhenluft und die ständige Kletterei. Es wunderte mich gar nicht, dass sie es an diesem Abend etwas ruhiger angehen ließen. Sie waren überzeugt, dass es uns nicht besser ging als ihnen und nach diesem harten Tag folglich kein Fluchtversuch zu erwarten sei. Sobald sie uns die üblichen Fesseln angelegt hatten, ließen sie uns links liegen. Zum ersten Mal, seitdem sie bei den Freischärlern aufgekreuzt waren, ignorierten sie uns nahezu komplett. Sie setzten sich ans Feuer. Wenn ich das richtig sah, spendierte der Leutnant zur Feier des Tages sogar eine kleine Ration Branntwein oder etwas in der Art. Esmeralda hielt mit und holte aus ihrem Proviantbeutel eine Flasche Rotwein, die sie großzügig mit den Franzosen teilte.
Zum ersten Mal seit zwei Tagen fanden wir also Gelegenheit, miteinander zu reden. Der Doktor fiel aus allen Wolken, als er von dem Plan hörte. Allerdings beruhigte er sich schnell. Seine größte Sorge galt den Abschriften.
Für mich stand selbstverständlich fest, dass ein heimtückischer Mord nicht infrage kam. Nur was dann? Zweifellos hatte Esmeralda oder Elisabeth oder wie sie heißen mochte recht mit ihren Bedenken. Wir konnten die Burschen unmöglich weiter mit uns nach Spanien schleppen. Vorausgesetzt, das Mädchen brachte uns wirklich dahin und das ganze Manöver war nicht nur ein Bluff. Was tun?
Die einzige Alternative, die mir in den Sinn kam, war folgende: Fridolin musste als Erstes nicht nur sich selbst sondern auch den Doktor und mich befreien. Gemeinsam konnten wir den Wächter überwältigen und dann die beiden Schläfer binden. Morgen würden wir die Soldaten hier zurücklassen, den Ort irgendwie markieren und im nächsten Dorf Bescheid sagen. Die Bauern konnten die Eindringlinge dann einer gerechten Strafe zuführen oder sie wieder nach Hause schicken. Je nach dem. Natürlich mussten wir ihre Waffen sicherstellen. Wenigstens, so lange, bis wir spanischen Boden betraten.
Gesagt getan. Irgendwann spät in der Nacht, es dürfte so gegen drei in der Frühe gewesen sein, rüttelte es an meiner Schulter. Fridolin. Im Handumdrehen hatte er meine Fesseln gelöst. Elisabeth saß am Feuer und küsste den Sergeanten dass dem Hören und sehen verging. Seine Kopfbedeckung lag achtlos neben ihm. Während Fridolin um den Leutnant herum zum Doktor schlich, griff ich mir einen großen flachen Stein. Den hatte ich mir am Abend wohlweislich bereitgelegt. Ich schlich zu den beiden Turteltäubchen und hieb dem Sergeanten meinen Felsklumpen auf den Schädel. Er war sofort betäubt. Jedenfalls hoffte ich, nicht zu derb zugeschlagen zu haben. Über dem ganzen Hin und Her erwachte allerdings der Leutnant. Und zwar noch bevor Fridolin den Doktor völlig losgeschnitten hatte. Er sprang auf, griff nach seinem Gewehr. Eine Sekunde zu spät. Elisabeth rammte ihm das Bajonett ihres Verehrers in die Brust. Den zweiten Sergeanten, der nun auch aufwachte, packte Fridolin am Kragen. Er wagte keinen Widerstand. Ich band ihm Hände und Füße zusammen. Gerade so, wie er es zuvor mit uns getan hatte. Fridolin durchsuchte ihn nach Messern oder ähnlichen Gegenständen, mit denen er sich hätte befreien können.
Unsere kleine Retterin fauchte ziemlich ärgerlich, warum wir uns nicht an ihren Plan gehalten hätten. Sie wäre mit dem Knaben am Feuer locker allein fertig geworden. Ich wies sie nicht weniger ungehalten darauf hin, dass der Mann nur betäubt sei und dass auch der Leutnant nicht gleich hätte abgeschlachtet werden müssen. So etwas gehöre sich einfach nicht unter Christenmenschen. Sie sah das anders und meinte, wir hätten den Erfolg des ganzen Unternehmens aufs Spiel gesetzt. Leider mussten wir unseren Disput fürs Erste abbrechen, denn der Dolmetscher erwachte und es wurde höchste Zeit, auch ihn zu fesseln.
Natürlich legten wir uns danach nicht mehr schlafen. Elisabeth erzählte uns am Feuer ihre Geschichte. Eine traurige Sache. Sie lebte jetzt seit fast sechs Jahren mit den Freischärlern und hatte dort wohl mehr durchmachen müssen als sich die meisten Frauen ihres Alters überhaupt vorstellen können. Eigentlich stammte sie aus Deutschland, aus Sachsen. Ihr Vater war Pflanzenkundler gewesen. Er arbeitete für den botanischen Garten einer Universität. Sie hatte ihn und seinen Assistenten auf eine Forschungsreise begleiten dürfen. Damals war sie gerade 13 Jahre alt geworden.
Ähnlich wie wir jetzt waren die deutschen Wissenschaftler der „Baskischen Befreiungsarmee“ in die Hände gefallen, die für die drei Lösegeld forderten. Irgendwie ging dann aber alles schief und bei einem Befreiungsversuch wurden ihr Vater und der Assistent getötet.
Das Mädchen behielten die rauen Burschen danach als Entschädigung für ihr entgangenes Lösegeld. Noch in derselben Nacht, in der ihr Vater vor ihren Augen getötet wurde, verlor sie die Jungfräulichkeit. Ein abscheulicher Gedanke. Ich verstand langsam, wie sie so hartherzig und gnadenlos