Dorian van Delft. Wolfram Christ. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolfram Christ
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783946691204
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allein völlig unmöglich hätte eine Flucht wagen können, nahm sie ihr Schicksal an. Heute gehöre sie zur Truppe, erzählte sie uns. Allerdings maß man ihrer Anwesenheit inzwischen keine große Bedeutung mehr bei. Wie schon bei Fridolin erwähnt, konnten sich die Banditen jederzeit neue Frauen aus den Dörfern der Gegend rauben. Was sie zuweilen auch taten. Als Ehefrau kam unsere Retterin mit ihrer erzwungenermaßen unkeuschen Vorgeschichte für die streng gläubigen Helden nicht mehr infrage. Armleuchter!

      Elisabeth nutzte die Freiräume, die sich aus der wachsenden Gleichgültigkeit der Männer ihr gegenüber ergaben, und lernte von ihnen viel über Land und Leute. Aber auch über den Gebrauch von Waffen, Kampftechniken und so weiter.

      Heute, mit 19 Jahren und profunder Ortskenntnis, könne sie sich theoretisch allein irgendwie in die Zivilisation durchschlagen, erklärte sie selbstbewusst. Aber ohne Pass, Geld oder sonstige Papiere? Die Behörden kannten ihr Gesicht wahrscheinlich von verschiedenen Überfällen, an denen sie als Lockvogel hatte teilnehmen müssen. Vielleicht sei mittlerweile auf ihren Kopf eine Prämie ausgesetzt. Das wisse sie nicht so genau. Dass sie aus Deutschland stamme, erleichtere die Angelegenheit nicht gerade. Wir hätten ja selbst gemerkt, dass es in Frankreich neuerdings reiche, deutsch zu fluchen, um sich verdächtig zu machen.

      Das Mädchen tat mir leid und ich versprach, ihr im Rahmen meiner Möglichkeiten zu helfen. Wir mussten sie nun unsererseits über die tatsächlichen Verhältnisse aufklären. Sie war zwar zunächst über Fridolins Lüge empört, verstand aber seine Gründe und vertraute meinem Wort. Ich hatte ohnehin auf unserem Weg nach Granada einen Zwischenhalt in Madrid vorgesehen. Dort gab es meines Wissens eine preußische Gesandtschaft, die Elisabeth weiterhelfen konnte.

      Ich für meinen Teil wollte in der spanischen Hauptstadt einen Geschäftspartner aufsuchen. Pedro Morales. Ich hatte dem Mann unser Kommen von Rotterdam aus telegrafisch ankündigen lassen. Sein geschäftlicher Schwerpunkt lag auf lateinamerikanischen Produkten wie Kaffee oder Kautschuk. Mit Pedros Rückendeckung würde uns eines der großen spanischen Bankhäuser gewiss aus dem Schlamassel helfen. Ich stand nach dem Überfall bekanntlich gewissermaßen nackt da. Einzig den Pass hatten mir die Freischärler gelassen. Darauf musste ihr Auftraggeber mit Blick auf weitere Untersuchungen seiner Vorgesetzten bestehen. Meinen Begleitern ging es nicht besser. Woraus sich die nächste Frage ergab: Wie sollten wir unter diesen Umständen überhaupt bis Madrid kommen?

      Schweren Herzens stimmte ich zu, die Taschen des jungen Gardeleutnants zu durchforschen. Sie enthielten nicht viel. Zusammen mit dem Erlös, den uns unsere Plane, die Pelzjacken, die Gewehre und das Maultier unten im Tal einbringen würde, reichte unser Vermögen knapp für die Postkutsche und ein wenig trocken Brot. Bevor wir aufbrachen, setzten wir Leutnant de Lafontaine in einem Grabhügel aus aufgeschichteten Steinen bei.

      Bis zur spanischen Grenze war es von unserem Nachtlager aus nur noch ein Tagesmarsch. Elisabeth hatte die Route gut gewählt. Deshalb ordnete ich an, unsere beiden Gefangenen allen Gefahren zum Trotz nicht zurückzulassen. Mir war daran gelegen, dass sie ihre Familien gesund wiedersahen. Ich wollte den Franzosen zeigen, was es bedeutete, ein niederländischer Handelsherr zu sein. Unbezwingbar aber großzügig und freigeistig. Davon konnten sich diese Paranoiker eine Scheibe abschneiden. Bevor wir unsere beiden Sergeanten bei der spanischen Guardia Civil ablieferten, bläute ich ihnen unsere Botschaft gründlich ein: Wir sind keine Spione sondern ehrbare Händler und Wissenschaftler. Mit besten Grüßen an die Herren Vorgesetzten.

      Fünf Tage nach jener denkwürdigen Nacht, am 6. Juli 1870, einem Mittwoch, erreichten wir wohlbehalten Madrid. Gesund und ohne nennenswerte Widrigkeiten. Dem Herrn im Himmel sei Dank!

       Der Quell von Al Andalus

       Tagebuch des Dorian van Delft Donnerstag, 7. Juli anno Domini 1870, Madrid, Handelshaus Pedro Morales

      Madrid. Ich spüre förmlich Kassandras Nähe. Schon als wir mit der Postkutsche über majestätische Alleen in die spanische Hauptstadt einrollten, überkam mich so ein Kribbeln, eine innere Unruhe. Ich bin mir sicher, dass wir bald am Ziel sind.

      Wir laufen durch diese Stadt und bestaunen die Wunder ihrer alten Pracht. Von hier aus wurde einst die halbe Welt beherrscht. Morgen wollen wir uns einen Ausflug zum Escorial-Palast gönnen. Pedro Morales meint, den müssten wir auf alle Fälle gesehen haben, wenn wir schon einmal hier seien.

      Wenn ich „wir“ schreibe, spreche ich von vier Menschen und einem kleinen Hund. Es hat sich einiges getan, seit meinem letzten Eintrag. Alles zu beschreiben, wäre für heute zu viel. Ich bin auch noch nicht fertig mit meinen Eindrücken. Vielleicht hole ich es nach, wenn ich wieder daheim in Rotterdam bin. Für den Moment nur so viel:

      Unser Führer, den wir in den Pyrenäen angeheuert hatten, wurde bei einem Überfall getötet. Fridolin, Doktor Ingmarson und ich kamen mit dem Schrecken davon und konnten den Banditen mit Hilfe einer jungen Deutschen entfliehen. Das Mädchen ist nach eigenen Angaben 19, sieht aber älter aus. Sie nennt sich Elisabeth Schubert und ist vor sechs Jahren von den Freischärlern entführt worden. Sie will zu ihrer Familie zurück. Ich werde ihr natürlich behilflich sein.

      Der kleine Hund heißt Schecki. Er ist ein braver Junge und immer zu Späßen aufgelegt. Doktor Ingmarson war von seiner Begleitung zunächst zwar nicht begeistert, weil er um seine Gerätschaften fürchtete, aber wo nichts ist, kann nichts kaputt gehen. Wir haben in den Bergen bis auf unsere Papiere wirklich alles verloren. Weswegen sich unser Aufenthalt in Madrid länger hinziehen wird als geplant.

      Pedro Morales hat uns angeboten, sein Haus als unseres zu betrachten, so lange es nötig ist. Er ist ein nüchterner Mann, tüchtig und gastfreundlich. Von ihm habe ich sofort und ungefragt Schreibzeug erhalten, um meine Aufzeichnungen fortsetzen zu können. Außerdem leihweise Hosen und Röcke für den Anfang. Er hat ungefähr meine Statur. Ich bin ihm für seine Hilfe sehr dankbar.

       Tagebuch des Dorian van Delft, Sonnabend, 9. Juli anno Domini 1870, Madrid, Handelshaus Pedro Morales

      Was für ein Abenteuer! Die königlichen Paläste dieser Stadt sind wirklich ein Erlebnis. Dank Pedro Morales‘ Bürgschaft bin ich endlich wieder flüssig. Mit etwas Geld in der Tasche ist man gleich ein ganz anderer Mensch. Doktor Ingmarson hat sich auf Einkaufstour für unsere Expedition begeben. Ich war mit Elisabeth beim Schneider. Ebenfalls eine Empfehlung meines Geschäftspartners.

      Erster Erfolg: Die Frau beginnt allmählich wie ein Mensch auszusehen. Was ein hübsches Kleid ausmachen kann! Gestern kam ein Friseur ins Haus, der uns beiden die Haare richtete. Nichts an Fräulein Schubert erinnert jetzt noch an die wilde Esmeralda aus den Bergen, die womöglich steckbrieflich gesucht wird.

      Am Nachmittag statteten wir der preußischen Gesandtschaft einen Besuch ab. Sie vertritt hier die Interessen des Norddeutschen Bundes und seiner Mitgliedsstaaten. Ein Sekretär des Gesandten versprach uns, umgehend Kontakt zum Königreich Sachsen herzustellen. Tatsächlich erhielten wir bereits am heutigen Morgen erste Auskunft. Die Identität des Mädchens gilt als gesichert, ihre Vorgeschichte wurde weitgehend bestätigt. Sowohl in Dresden als auch bei der Gesandtschaft liegen Vermisstenanzeigen aus dem Jahr ihres Verschwindens vor. Sie bekommt deshalb schnellstens vorübergehende Dokumente ausgestellt. Manchmal scheint die penible deutsche Bürokratie zu etwas nutze zu sein. In Sachsen haben sie Beamte losgeschickt, Elisabeths Mutter zu finden. Spätestens am Montag wissen wir mehr. Das hat uns jedenfalls der Sekretär versichert.

       Tagebuch des Dorian van Delft Dienstag, 12. Juli anno Domini 1870, Madrid am Morgen, Handelshaus Pedro Morales

      In einer Stunde brechen wir auf. Mein Freund Morales, ja, ich darf ihn nach diesen Tagen mit Fug und Recht Freund nennen, stellt uns einen seiner Reisewagen zur Verfügung. Neben dem Kutscher wird zu unserer Sicherheit ein Bewaffneter Platz nehmen. Pedro Morales wünscht, dass wir ohne weitere Unterbrechungen Granada erreichen. Wäre ich nicht bereits bei der spanischen Niederlassung von Tarik al Sabah avisiert, hätte er mir auch dort ein Dach über dem Kopf besorgt. In solchen Situationen merke ich, wie nützlich es ist, mit Partnern aus ganz Europa zusammenzuarbeiten. Auf mich allein gestellt, wäre ich nie im Leben so weit gekommen. Ich werde mich zu gegebener