Tagebuch des Dorian van Delft Sonntag, 17. Juli anno Domini 1870, Granada, Haciénda von Ignacio Mendez
Die Glocken riefen zum Morgengebet, als wir Granada erreichten. Du kannst in diesem Land nur in den späten Abend- und frühen Morgenstunden reisen. Die Hitze am Tage ist unerträglich. Ich verstehe jetzt die Andalusier. Gegen Mittag ziehen sie sich in ihre Häuser zurück und schließen die Fensterläden. Wenn du in dieser Zeit unterwegs bist, glaubst du dich in menschenleere Geisterstädte versetzt. Die Sonne brennt unbarmherzig.
Am meisten von uns leidet Schecki. Er kann seinen Pelz nicht ausziehen. Wir kühlen ihn zuweilen mit ein paar Spritzern Wasser. Das zumindest bekommt man hier trotz der großen Hitze fast überall. In den Dörfern und am Rande der ausgedehnten Olivenhaine gibt es brauchbare Wasserstellen. Die Spanier haben ein ausgeklügeltes System von Zisternen und kleinen Stauweihern angelegt, um Tauwasser und Regen so lange als möglich zu bewahren. Auch sind ihre Brunnen recht tief. Sie erreichen weit unter dem trockenen Boden ergiebige Wasseradern. In den Bergen Zentralspaniens soll es im Winter reichlich schneien. Dieser Schnee speist im Frühjahr die unterirdischen Quellen.
Das Land versprüht einen spröden Charme. Tief dunkelrote und blasse graue Böden wechseln einander ab. Weiden oder sonstiges Grasland sind selten. Wälder ebenso. Kaum zu glauben, dass solche auf den ersten Blick kargen Ackerkrumen eine so ungeheure Vielfalt saftiger Früchte hervorbringen. Orangen, Limonen, Pfirsiche und Wein, Wein, nochmals Wein. In einigen Gegenden entdeckten wir Weizenfelder. Spanische Oliven werden nicht so groß wie jene in Arabien. Dafür ist ihr Fleisch umso schmackhafter. Das helle Öl, das die Leute daraus pressen, verkauft sich bei uns daheim ausgezeichnet. Die Sonne, unter der wir Menschen leiden, scheint der hiesigen Landwirtschaft nicht abträglich.
Ich nutze die Reise, neue Handelsbeziehungen zu knüpfen. Einige Male ließ ich unsere Kutsche halten, um die Qualität verschiedener Angebote zu prüfen und mit den Bauern zu feilschen. Ich denke, daraus dürften sich in Zukunft interessante Geschäfte ergeben.
Eine Tagesreise von Madrid entfernt liegt Toledo. Dort blieben wir etwas länger. Ich verzichtete sogar auf meine liebgewonnene Siesta, um mir die legendären Waffenschmieden anzusehen. Prachtvolle Säbel und Schwerter! Feinste Qualität. Ich habe Elisabeth einen Dolch gekauft, damit sie sich künftig notfalls selbst verteidigen kann. Wie man mit so einem Ding umgeht, hat sie in den Bergen zur Genüge gelernt.
Für den modernen Krieg, und ich bin nach unseren Erlebnissen in Andorra überzeugt, einen solchen in Kürze zwischen Frankreich und Preußen erwarten dürfen, taugen die netten kleinen Manufakturen freilich kaum. Ich hatte mir mehr vom Besuch versprochen.
Letzte große Hürde vor Granada war die Sierra Nevada. Dieses Gebirge zeigt einen völlig anderen Charakter als die wilden Pyrenäen. Statt steiler Klüfte und Schluchten, Geröll und Felsgrate schwingen sich sanfte Hänge dem strahlend blauen Himmel entgegen. Die hübschen sonnigen Täler erinnern an deutsche Mittelgebirge. Erst sehr weit oben in Gipfelnähe nimmt die Landschaft alpine Züge an.
Die meisten Straßen ließen sich trotz einiger Schneereste zügig mit der Kutsche passieren. Kaum zu glauben, dass wir uns zeitweilig in größerer Höhe befanden als in Andorra. Unser Kutscher versicherte uns jedoch, die Sierra Nevada sei tatsächlich das höchste spanische Gebirge und verfehle die europäischen Rekordmarken der französischen und Schweizer Alpen nur knapp.
Wie gesagt, wir kamen gut voran. Dort oben brauchten wir natürlich keine Siesta. Nur mussten wir ein paar Mal die erschöpften Pferde tauschen, was aber bei den freundlichen Bergbauern kein Problem darstellte. Während der Abfahrt nach Süden wurden wir für unsere Mühen mit atemberaubenden Ausblicken belohnt. Grandios.
Uns allen schlug das Herz bis zum Hals, als endlich die Mauern unseres Reiseziels in Sicht kamen. Und dazu die Morgenglocken! Um meine Aufregung zu zügeln und für die glückliche Reise zu danken, bat ich, den Gottesdienst im Kartäuser Kloster besuchen zu dürfen. Meine Begleiter folgten meinem Beispiel. Nur Schecki musste mit dem Wächter draußen bei der Kutsche bleiben.
Dieses altehrwürdige Kloster liegt ziemlich weit außerhalb des Stadtzentrums. Etwa auf halbem Wege zu unserer Unterkunft. Anders als in der prächtigen Kathedrale, stand hier draußen nicht zu befürchten, dass fremde Reisende wie wir Aufsehen erregen. Den Mönchen sind pilgernde Gläubige allemal willkommen.
Als guter Protestant kann ich mit dem Pomp der Katholiken im Allgemeinen nicht viel anfangen. Und speziell hier im Süden artet er manchmal geradezu in Kitsch aus. Diesmal war es anders. Lag es an der feinen barocken Architektur des Klosters? An der feierlichen Zeremonie der Brüder? Oder an der räumlichen wie spirituellen Nähe zu Kassandras Höhle? Ich weiß es nicht. Jedenfalls erfasste mich eine Art heiligen Schauers. Wie ich später erfuhr, ging es dem Doktor, Fridolin und Fräulein Schubert nicht anders. Ich schäme mich dessen nicht. Wozu auch? Eine reformierte Kirche werde ich in Andalusien voraussichtlich ohnehin nicht finden.
Gegen Mittag erreichten wir die Hacienda von Don Ignacio. Offiziell ist er Geschäftspartner von Tarik al Sabah. In Wahrheit handelt es sich um einen entfernten Verwandten. Tariks Depesche hatte ihn auf unser Kommen eingestellt. Wie nicht anders zu erwarten, wurden wir herzlich empfangen. Er sah kein Problem darin, dass wir unerwartet eine Dame mitbrachten. Sein Anwesen ist sehr geräumig.
Im Moment liege ich auf meinem riesigen Bett. Neben mir eine Schale erlesenen Obstes. Höchste Zeit, ein wenig davon zu naschen und danach ein erholsames Schläfchen zu tun. Heute Abend sehen wir weiter.
Tagebuch des Dorian van Delft, Eintrag von Dr. Frans Ingmarson Dienstag, 19. Julei anno Domini 1870, Granada, Hacienda von Ignacio Mendez
Diese Zeilen schreibt Dr. Frans Ingmarson aus Reykjavik. So nah am Ziel meiner wissenschaftlichen Forschungen, erbat ich mir von Mynheer van Delft die Ehre, einige Worte in sein persönliches Reisetagebuch zu notieren.
Ich danke meinem Gönner, diesen Ort mit eigenen Augen sehen zu dürfen. Granada durchweht der Hauch der Geschichte. Die Straßen sind ärmlich, gewiss. Vom Glanze römischer Herrlichkeit ist nichts geblieben. Bescheiden künden wenige Kirchen und Klöster von der Reconquista, die im Süden der iberischen Halbinsel die Neuzeit einleitete.
Doch unter dem Pflaster der Straßen, unter der Oberfläche dieser kläglichen Versuche, Vergangenheit vergessen zu machen, wabert eine unfassbare Energie. Ich kann sie fühlen. Jeder von unserer Expedition spürt sie. Es ist die Energie eines uralten Weltengeistes. Meiner Überzeugung nach ist das die göttliche Kraft, aus der Kassandra, die letzte Überlebende von Pompeji, die Trollhexe vom Skessuhorn, der Schutzengel der Menschheit oder wie auch immer wir die Frau nennen wollen, ihr Dasein schöpft. Ich bin überwältigt!
Der äußere Eindruck des Ortes wandelt sich dramatisch, steigt der Wanderer offenen Blickes und hellen Verstandes den Hügel hinauf zur Alhambra. In ehrfürchtiger Stille betraten wir gestern den früheren Sitz der muselmanischen Könige. Den Besucher empfängt ein Märchenreich wie aus tausendundeiner Nacht. Löwenhof, Comares Palast, … Ich habe mir nicht alle Namen gemerkt. Was im Gedächtnis bleibt, ist die Leichtigkeit der Bauten. Auf schlanken Säulen schweben reich mit feinen Steinmetzarbeiten verzierte Himmel. Überall filigrane Ornamente, durchbrochen und hauchzart wie aus Brüsseler Spitze. Mitten durch die luftigen Räume fließt das Wasser jener Quelle, von der Mynheer al Sabah in