Heute Morgen endlich brachte Don Ignacio meinen Gönner und mich zu einem alten Mann, von dem wir uns erste Antworten auf unsere Fragen erhofften. Er gehört möglicherweise zur Bruderschaft der Quellbewahrer. Sein Haus befindet sich unmittelbar am Fuße des Alhambra Hügels. Von außen sieht es sehr unscheinbar aus. Fensterlose Wände im Erdgeschoss und geschlossene Läden weiter oben.
Don Ignacio klopfte, übergab uns dem öffnenden Diener und zog sich zurück. Der Diener, ein Junge von vielleicht vierzehn Jahren, führte uns über einen kleinen Innenhof. Das Empfangszimmer des Alten liegt an der rückwärtigen Seite des Hauses. Es ist ähnlich luftig gebaut wie die Säle der Alhambra aber natürlich nicht annähernd so groß und kunstvoll geschmückt.
Der Alte entsprach unseren Erwartungen. Ganz offensichtlich war er kein Konvertit sondern lebte in seiner Abgeschiedenheit recht offen nach den Regeln des Korans. Er trug einen langen, bunt bestickten Mantel. Sein Gesicht zierte ein grauer Vollbart und das Haupt bedeckte ein schmuckloser schwarzer Turban. Milde lächelnd reichte uns der Mann die Hand. Wir stellten uns vor. Er selbst nannte sich Lopez. Leider ließ er uns zunächst einigermaßen im Unklaren über seine Rolle. Ich nehme an, er wollte uns testen. Das Gespräch verlief in etwa wie folgt:
„Seid willkommen, ihr Suchenden. Nehmt Platz! Erfrischt euch.“ Er klatschte in die Hände. Während wir uns in weichen Kissen niederließen, brachte der Knabe, der uns herein geleitet hatte, eine Schale frischen Obstes. Ein zweiter Junge, etwas älter als der erste, reichte uns silberne Becher und füllte diese mit Wasser.
„Efendi“, begann Mynheer van Delft, die Anrede hatte uns Don Ignacio empfohlen, „wir danken Ihnen für die große Ehre, in Ihrem Hause empfangen zu werden.“ Der Alte erwiderte unsere angedeutete Verneigung. „Wie Ihnen sicher mitgeteilt wurde, ist dieser Mann an meiner Seite Wissenschaftler. Er hat in Island interessante Entdeckungen gemacht und mein Freund Tarik al Sabah glaubt, dass Sie uns vielleicht helfen können, einige damit verbundene Rätsel zu lösen.“
„Tarik glaubt das? So, so. Nun, vielleicht berichten Sie mir zunächst etwas ausführlicher, was Sie entdeckt haben.“
In der nächsten halben Stunde entwickelte ich ihm kurz und präzise meine Theorie. Er hörte aufmerksam zu. Manchmal nickte er zustimmend, an anderen Stellen schüttelte er entschieden den Kopf. Als ich geendet hatte, erhob er sich von seinem Platz. Wir folgten seinem Beispiel. Wie mir Mynheer van Delft hinterher versicherte, glaubte er in diesem Moment genau wie ich, der Alte würde uns nun direkt zur Höhle führen. Leider tat er uns den Gefallen nicht. Er sah uns nur abwesend an und meinte dann:
„Ich muss über Ihre Worte nachdenken, Herr Doktor. Bitte seien Sie beide morgen zur gleichen Stunde wieder hier. Ich danke Ihnen. Wenn Sie mich nun entschuldigen wollen?“ Womit er uns einfach stehen ließ, sich umwandte und den Raum verließ. Der Knabe erschien und komplimentierte uns nach draußen. Ich war erstaunt, van Delft ziemlich verärgert. Unter arabischer Gastfreundschaft hatten wir uns etwas anderes vorgestellt. Zumal dieser Efendi Lopez unser Anliegen kennen musste. Sonst hätte er uns sicher nie empfangen. Jetzt heißt es, uns in Geduld fassen und den morgigen Tag abwarten.
Tagebuch des Dorian van Delft, Eintrag von Dr. Frans Ingmarson Mittwoch, 20. Julei anno Domini 1870, Granada, Hacienda von Ignacio Mendez
Wieder dort gewesen. Mynheer van Delft ist die Freude am Schreiben vergangen. Verständlich. Ich protokolliere hiermit in Absprache mit ihm den Fortgang.
Efendi Lopez empfing uns. Höflich kühl. Wir waren gespannt. Doch anstelle praktischer Empfehlungen, unsere Suche nach Kassandra betreffend, erging er sich in allgemeinen Belehrungen:
„Meine Herren, ich sehe mich gezwungen, Sie über einige Dinge in Kenntnis zu setzen, ohne die Sie das Geheimnis unserer Bruderschaft nicht begreifen können. Mehr noch. Ich stelle fest, dass auch mein lieber Tarik in Holland die Tragweite unserer Bemühungen nicht begriffen hat. Das mag an der etwas einseitigen Darstellung in den Schriften des Orients liegen. Dort stagnieren Geistes- und Naturwissenschaften seit vielen Jahren. Mit dem bedauerlichen Effekt, dass manche meiner Brüder in Allmachtsphantasien schwelgen. Phantasien, die mit der Wirklichkeit des goldenen Zeitalters von Al Andalus nicht das Geringste zu tun haben. Vielleicht entspringt dieses verzerrte Weltbild der Tatsache, dass unsere arabischen Brüder unter der Knute der Hohen Pforte stöhnen. Engländer und Franzosen, die sich bisweilen um Einfluss in der Region bemühen, sind nicht besser als die Türken. Und so ist es leicht verständlich: Ein unterjochtes Volk sehnt sich immer nach vergangener Größe. Glorreiche Zeiten werden idealisiert und womöglich von ehrgeizigen Religionslehrern oder weltlichen Führern im eigenen Sinne interpretiert. Mit der Wahrheit hat das alles herzlich wenig zu tun.“ Er machte eine Pause. Mynheer van Delft und ich sahen uns fragend an, wagten allerdings nicht, seinen Gedankenfluss zu unterbrechen.
„Meine Herren, wir reden hier nicht von irgendeiner Quelle. Wir reden von nichts Geringerem als dem Quell der Weisheit.“ Ich hielt die Luft an. Jetzt musste sie endlich kommen, die Antwort auf all die Fragen, die mich seit Monaten quälten. Das Ergebnis meiner Recherchen würde die Fachwelt in Erstaunen setzen. Zweifellos stand ich unmittelbar vor meinem wissenschaftlichen Durchbruch. Atemlos lauschte ich den Worten des weisen alten Mannes. „Hören Sie die Botschaft von Al Andalus:
Meister Ibn Ruschd lehrt uns, alle Menschen, ob Mann oder Frau, als vor Gott gleichberechtigt zu betrachten. Er stellt uns eine Gesellschaft vor Augen, in der ‚jede Frau, jedes Kind, jeder Mann alle Möglichkeiten finden, sämtliche Gaben zu entwickeln, die sie von Gott erhielten‘. Er predigt: ‚Eine Gesellschaft wird frei und gottgefällig sein, wenn niemand mehr aus Angst vor dem Fürsten oder vor der Hölle handelt. … Gott allein ist Herr und Meister und die häufigste Lehre in seinem Koran ist, dass man sich anstrengen und selbst denken soll.‘
Der Jude Maimonides ergänzt: ‚Zweckbestimmung einer Gesellschaft ist das Wachsen des Menschen, nicht das Wachsen des Wohlstandes. Der Mensch wächst, wenn er sich in der Vernunft ausbildet, einer Vernunft, die ihre Grenzen und Postulate kennt. Eine solche Vernunft legt Zeugnis ab für die Gegenwart Gottes im Menschen.‘
Und Alfons, der Weise schließlich, ein von seinen eigenen Glaubensbrüdern verstoßener König, preist im Gebet den Herrn: ‚Oh mein Christus, der du sie alle annimmst, Christen, Juden, Mauren, wenn nur ihr Glaube auf Gott gerichtet ist.‘ In seinem Reich waren Christen, Juden und Muslime gleichermaßen frei, ihren Glauben zu leben.
Solche Botschaften, meine Herren, bewahrt und gehegt durch die Jahrhunderte, repräsentieren den wahren Geist von Al Andalus. Sie sind der Quell von Freiheit und Weisheit. Gern bin ich Ihnen behilflich, diese ‚heilige Quelle‘ in meiner Bibliothek zu studieren.“
Ich sah, wie Mynheer van Delft die Stirn in Falten zog. Es wunderte mich nicht, fiel es mir doch selbst nicht leicht, dem Alten zu folgen. Was wollte er uns mit den Zitaten sagen? Mir schwante etwas, jedoch weigerte ich mich, dem Gedanken in meinem Kopf Raum zu geben. Der Efendi fuhr ungerührt in seiner Rede fort.
„Das ist das Geheimnis, das unsere Bruderschaft hütet, das sie vor Tyrannei und Zerstörung bewahrt, damit aus ihm eine bessere Welt erwächst. Es geht hier nicht um Herrschaftsansprüche dieser oder jener Seite, sondern einzig und allein um die Friedensbotschaft Gottes. Eines Tages wird sie alle Menschen, gleich welchen Geschlechts oder welcher Religion, erfassen und ewigen Frieden stiften. Auf diesen Tag arbeiten wir hin.“ Mynheer van Delft konnte sich nicht mehr beherrschen.
„Das ist alles schön und gut. Aber was ist mit der Quelle im Berg? Ich meine eine wirkliche Quelle, die Wasser spendet? Die muss es doch geben! Wir haben ihr wundersames Wirken in den Gärten der Alhambra selbst bewundern dürfen.“
„Gewiss, es gibt sie und sie bewirkt ein Wunder: Das Wunder der Schöpfung. Da, wo Wasser auf fruchtbaren Boden fällt, lässt Gott den Samen sprießen. Zu unser aller Nutzen. Zauberei ist dabei allerdings nicht am Werk. Von einer ‚heiligen Quelle‘ kann bei ihr nur insofern die Rede sein, dass ohne sie die Alhambra wohl nie auf diesem Hügel erbaut worden wäre. Mag sein, es gab bei unserer Ankunft in diesem Land üble heidnische Rituale,