Stille Donau. Hilde Artmeier. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hilde Artmeier
Издательство: Bookwire
Серия: Anna di Santosa
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960416302
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mich nach Vincenzos Nachmittag. Er hatte an einer Fridays-for-Future-Demo teilgenommen, seiner neuen Leidenschaft.

      Die Radl-Tour, erfuhr ich, sei zwar »megageil« gewesen, das »Gequatsche« bei der anschließenden Kundgebung auf dem Haidplatz jedoch »krass ätzend«. Florian, der ihn begleitet hatte, gab zustimmende Brummlaute von sich.

      »Hast du später ein paar Minuten Zeit?«, fragte ich Benedetta auf Italienisch. »Ich muss was mit dir bereden.«

      Im Gegensatz zu den Jungs, alle wie Vincenzo zwischen vierzehn und fünfzehn Jahren alt, war Benedetta schon fünfundzwanzig. Dennoch war sie kaum von ihren Spielgefährten zu unterscheiden. Ihre Figur war schmal und so sehnig, als wäre sie ebenfalls ein Junge. Das halblange schwarze Haar, auf dem das obligatorische froschgrüne Käppi thronte, hatte sie wie immer zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden.

      »Das wird eng.« Ein flüchtiger Blick aus ihren hellgrauen Augen streifte mich. »Hab nachher noch eine Verabredung.«

      »Es geht um die Boutique. Dauert auch nicht lange.«

      »Hm … Bestimmt findet mein Tanzpartner es gar nicht lustig, wenn ich ausgerechnet heute zu spät komme. Ich mache einen Tangokurs, und ich hab versprochen, dass ich pünktlich im ›TangoTango‹ bin.« Sie biss sich auf die schmale Unterlippe, als wäre ihr das zuletzt Gesagte ungewollt herausgerutscht.

      »Dann eben gleich. Wir könnten kurz in die Küche …«

      »Oh Manno, mamma, in einer halben Stunde muss Florian heim«, quengelte Vincenzo und raufte sich das fast schwarze Haar, das er von seinem Vater geerbt hatte, mit wahrhaft theatralischer Miene. »Bestimmt quatscht ihr wieder stundenlang, wir sind sowieso noch ein Tor im Rückstand, und wenn wir nicht sofort …«

      »Von stundenlang ist keine Rede«, wies ich ihn zurecht. »Seit wann«, ich wandte mich wieder an Benedetta, »seit wann tanzt du denn Tango?«

      Natürlich ging es mich nichts an. Aber ich wusste, dass sich hinter dem »TangoTango« ein erstklassiges und dementsprechend teures Tanzstudio verbarg, in dem sie sich wohl kaum Unterricht leisten konnte. Jedenfalls nicht von dem Geld, das sie bei mir verdiente.

      Luciano, ein Freund aus Parma, hatte sie mir empfohlen. Ursprünglich hatte Benedetta in Bologna Italienisch und Anglistik studiert. Da sie aber nach Abschluss des Studiums erst einmal eine Weile im Ausland leben wolle, so Luciano, sei ein Minijob im »BellaDonna« perfekt für sie.

      Im Klartext hieß das: Benedetta wohnte und aß bei mir umsonst und bekam ein Taschengeld. Dafür half sie in der Boutique aus. Bei ihrer Ankunft vor zwei Wochen hatten wir vereinbart, dass sie neben den festen Schichten auch nach kurzfristiger Absprache zur Verfügung stehen musste. Da kurz zuvor eine meiner Aushilfen gekündigt hatte, war ich froh gewesen um diese ebenso unerwartete wie flexible Arbeitskraft.

      Allmählich aber bereute ich meine Entscheidung. Benedettas Interesse an Mode war nicht erkennbar – auch wenn sie nicht gerade Fußball spielte, trug sie meist nur Shorts und eines ihrer unifarbenen T-Shirts –, und auch die Arbeit in meinem Laden schien ihr keinen Spaß zu machen. Sie ging lieber auf Sightseeingtour und nutzte jede Gelegenheit, sich vor der Arbeit zu drücken.

      »Okay, dann lieber jetzt.« Sie verzog ihre kindlichen Züge. Wenn ich nicht gewusst hätte, wie alt sie war, hätte ich sie noch um einiges jünger geschätzt. »Aber mach’s bitte wirklich kurz, okay? Ich muss ja auch noch unter die Dusche.«

      »Und wir müssen noch mindestens ein Tor schießen, wenn wir gewinnen wollen, Benedetta«, kam es von Vincenzo in muffigem Ton. »Mamma, also echt, wieso …?«

      Mein Handy meldete sich. Es war Mona.

      Ich bat Benedetta um einen Moment Geduld, ging ein paar Schritte zur Seite und nahm das Gespräch an. Hinter mir spielte die Fußballmannschaft weiter.

      »Bin noch im Laden«, sagte Mona in atemlosem Ton. »Ich sperre aber gleich zu, hier ist nichts mehr los.«

      Als pflichtbewusste zweite Geschäftsführerin war sie nach ihrem Termin noch einmal ins »BellaDonna« zurückgekehrt, um dort nach dem Rechten zu schauen. Es erstaunte mich nicht zu hören, dass Benedetta sofort nach Monas Auftauchen wieder verschwunden war.

      »Das mit Jakob lässt mir keine Ruhe«, sagte Mona im nächsten Atemzug. »Ich kann es echt nicht fassen – tot, ermordet, einfach so, und mitten im Dom. Wer tut denn so was?«

      Über diesen Punkt hatte auch ich nachgedacht. Auch wenn die Stelle, an der Jakob Landauer getötet worden war, ziemlich versteckt war, so befand sie sich dennoch in einer der wohl am meisten besuchten Sehenswürdigkeiten der Stadt.

      Wieder brüllte Vincenzo so laut, dass ich mich noch ein wenig weiter entfernte. Offenbar hatte er oder Benedetta das ersehnte Tor geschossen.

      »Eins steht zumindest fest, der Täter hat Nerven wie Drahtseile«, sagte ich, als ich unter dem Apfelbaum zum Stehen kam. »Woher kennst du Jakob Landauer eigentlich?«

      »Wir haben miteinander studiert, zwei Semester. Aber dann hatte er genug von Germanistik, wie so viele, die klüger waren als ich, und hat auf Journalismus umgesattelt. Er ist nach München, an die LMU, über Facebook hatten wir aber immer Kontakt. Jedenfalls, wenn du meine Meinung hören willst, Anna – bestimmt ist er jemandem auf die Füße getreten, weil …«

      Im Hintergrund hörte ich eine Frauenstimme. Mona erklärte mir, sie müsse sich nun doch noch einer Kundin widmen, und legte auf.

      Ich ging zurück und sah, wie Vincenzo seine Flasche in einem Zug leerte. Seine Freunde waren noch da, aber Benedetta war nirgendwo zu sehen. Sie hatte sich einfach aus dem Staub gemacht.

      »Kein Problem, amore«, sagte ich eine halbe Stunde später ins Handy, das ich mir zwischen Ohr und Schulter geklemmt hatte, und zerpflückte den Lollo Rosso. »Dann warten wir eben mit dem Essen.«

      »Warten macht keinen Sinn«, entgegnete Maximilian in hektischem Ton, »vor elf, halb zwölf komme ich hier nicht raus. Die OP dauert zwei Stunden, mindestens, dazu die Vor- und Nachbereitungen. Lasst mir einfach was übrig.«

      Natürlich war ich enttäuscht, dass er es wieder einmal nicht zum gemeinsamen Essen schaffte, vor allem heute, zu Beginn des Wochenendes. Ich versuchte jedoch, es mir nicht anmerken zu lassen, sondern wünschte ihm gutes Gelingen. Maximilian verabschiedete sich, schon klickte es in der Leitung. Nicht einmal für ein in den Hörer gehauchtes Küsschen hatte er noch Zeit gehabt.

      Seufzend legte ich das Mobiltelefon auf den Küchentisch und widmete mich wieder meinen Vorbereitungen fürs Abendessen, bei dem wir heute also nur zu dritt sein würden. Vincenzo, Mona und ich.

      Nach dem Salat würde ich eine Parmigiana servieren, in Olivenöl gebratene und mit Parmesan und Büffelmozzarella überbackene Auberginen- und Tomatenscheiben, und als Dessert eine Pannacotta mit frischen Beeren. Dazu würde ich mir ein Glas eiskalten Vermentino gönnen, den vollmundigen Weißwein vom Landgut meines Onkels Marcello, dem Castello di Santosa nahe bei Volterra im Herzen der Toskana.

      Maximilian arbeitete als leitender Oberarzt in der Neurochirurgie am Regensburger Uniklinikum, und bei Notfällen ging sein Job naturgemäß vor. Heute handelte es sich außerdem um einen komplizierten Eingriff, den er keinem Assistenzarzt überlassen konnte. Da ich als Selbstständige daran gewohnt war, auch dann zu arbeiten, wenn andere Leute frei hatten, war das nie ein Problem für mich gewesen.

      In den letzten Wochen hatte Maximilian allerdings oft bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit geschuftet, die gewohnt schwierige Personalsituation an der Klinik war jetzt in der Urlaubszeit besonders angespannt. Nach den langen Diensten wirkte er oft so fahrig, dass ich mitunter sogar froh war, wenn er sich an seinen Feierabenden in den Garten verzog. Beim Büschestutzen und Unkrautzupfen konnte er ein wenig den Kopf auslüften.

      Allmählich litt unsere Beziehung unter der Situation, und auch in der kommenden Woche würde ich wenig von ihm sehen. Am Montag ging sein Flieger nach Jekaterinburg, wo er eine Partnerschaft mit der zukünftig geplanten Medizinischen Fakultät der Ural Federal University anleiern sollte, im Auftrag seines Chefs, der groß darin war, ständig neue Projekte