Stille Donau. Hilde Artmeier. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hilde Artmeier
Издательство: Bookwire
Серия: Anna di Santosa
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960416302
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murmelte ich verhalten italienische Flüche vor mich hin.

      An der Ostseite des Doms überholte ich im Laufschritt dahinschlendernde Touristen, die heute, an einem hochsommerlich heißen Freitag Ende Juli, die Innenstadt in Scharen bevölkerten. Auf den Stufen, die zum Südportal hinaufführten, saß noch mehr junges Volk und hielt unter den Augen der Wasserspeier und steinernen Fabelwesen auf Pfeilern und Balustraden die Gesichter in die Mittagssonne.

      Ein Mann rempelte mich so heftig an, dass ich fast gestolpert wäre.

      »He, passen Sie doch auf!«, rief er wutentbrannt, anstatt sich bei mir zu entschuldigen, und sah jemandem nach, der rannte wie der Teufel. Ein schmaler Rücken, ein schwarzer Pferdeschwanz, der unter einem froschgrünen Käppi auf- und niederhüpfte.

      War das etwa Benedetta?

      Ich kniff die Augen zusammen. Aber schon war die kleine, flinke Gestalt inmitten einer Touristengruppe verschwunden. Der Mann, der mich angerempelt hatte, war weitergegangen. Auch ich setzte meinen Weg fort, kam aber wieder kaum vom Fleck.

      Die Frau mit Pferdeschwanz und Käppi musste von der schmalen Seitentür gekommen sein, die ins Dominnere führte. Davor saßen ein Pärchen und drei, vier Schulkinder, die sich über ihre Handys beugten. Zwei weitere steckten die Köpfe über einem Stickeralbum zusammen, ein Anblick, der mich rührte, musste ich dabei doch an meine eigene Kindheit denken, als man noch Sticker in Alben geklebt hatte.

      Ein Schrei riss mich aus meinen Gedanken.

      Nein, ein Brüllen aus tiefster Kehle.

      Ich wandte den Kopf, sah eine Frau durch die Tür hinter den Kindern stürzen. Sie warf beide Hände nach oben, das Gesicht puterrot, die Augen voller Entsetzen. So plötzlich wie ein Luftballon, in den eine Nadel gestochen hatte, fiel sie in sich zusammen.

      Die Menschen in ihrer unmittelbaren Nähe hoben den Blick, erschrocken oder gleichgültig. Doch niemand rührte auch nur einen Finger. Ich steuerte auf die reglos daliegende Frau zu. Auch wenn ich es noch so eilig hatte – als gebürtige Italienerin war ich dazu erzogen worden, immer und überall jedem zu helfen, der in Not geraten war.

      Schon war ich bei ihr, schüttelte sie. Ihr Rucksack war zur Seite gerutscht und hatte ihren Sturz gebremst.

      »Können Sie mich hören?«, fragte ich.

      Ihr Gesicht war nun kalkweiß, das fransige Haar klebte ihr an der Stirn. Sie reagierte nicht. Wieder rüttelte ich sie an den Schultern, dieses Mal heftiger.

      Sie riss die Augen auf, starrte mich an.

      »Mein Gott«, keuchte sie, »der Mann da … Der ist tot, der muss tot sein, das viele Blut, mein Gott, ich …«

      Ein zweites Mal schrie sie, rau und verzweifelt.

      2

      Ich sah auf den ersten Blick, dass ich nichts mehr für den an einem Vorsprung lehnenden Mann tun konnte. Einer alten Gewohnheit als ehemalige Polizistin folgend, beugte ich mich dennoch über ihn und fühlte seinen Puls. Nichts, natürlich. Sein Körper, registrierte ich, war noch warm.

      Ich richtete mich auf, trat vorsichtig zurück, um keine Spuren zu verwischen, scannte in Sekundenschnelle die Umgebung ab. Schon in diesem Augenblick war mir klar, dass es sich hier um einen Tatort und nicht um einen bloßen Fundort handelte.

      Der Tote saß mit dem Rücken zur Wand auf einer Steinbank am Ostende des südlichen Seitenschiffs, augenscheinlich von einem einzigen Schuss in die rechte Schläfe niedergestreckt. Mit dem Kopf und der linken Schulter lehnte er an dem Vorsprung, seine Augen blickten starr ins Nirgendwo, auf der linken Seite waren Hals, Schulter, Brust und Arm blutüberströmt.

      Mir wurde flau im Magen. Dennoch nahm ich, wieder ganz automatisch, jedes Detail in mich auf. Die Eintrittsstelle des Projektils war kreisrund, mit einem Durchmesser von höchstens einem Zentimeter. Die Austrittsstelle musste umso größer sein und sich am Hinterkopf über dem linken Ohr befinden. Der Mörder hatte vermutlich direkt neben seinem Opfer gestanden.

      Ich schätzte den Ermordeten auf Anfang dreißig. Die Hautfarbe verriet, dass er sich vor seinem plötzlichen Tod selten an der frischen Luft aufgehalten hatte. Das aschblonde Haar trug er kurz. Bekleidet war er mit orangefarbenen Jeans, einem T-Shirt und Sneakers einer gängigen Sportmarke. Keine Tasche, kein Rucksack, also offenbar kein Tourist. Oder sein Mörder hatte alles, was er nicht direkt am Leib trug, mitgenommen.

      Ich trat noch weiter zurück und sah mich um. Ich stand in der Sailer-Kapelle, dem Aufbewahrungsort des Allerheiligsten. Trotz der Nähe zum Hochaltar, der links neben der Kapelle lag, verirrten sich nur wenige Besucher in diesen für das stille Gebet reservierten Bereich. Ein Gitter trennte ihn vom südlichen Seitenschiff. Zudem war der eigentliche Tatort durch den Vorsprung vor Blicken verborgen, was erklärte, dass bis auf die Frau, die vor dem Seiteneingang zusammengebrochen war, noch niemand die Leiche bemerkt hatte.

      Um mich dröhnte Orgelmusik, machtvoll, düster und so laut, dass ich kaum etwas von den Schritten und dem Gemurmel der vielen Besucher hörte, die durch die gewaltige Kathedrale wanderten. Manche fotografierten auch oder saßen stumm in den Bänken. Im Gegensatz zur durch Lichtstrahler einigermaßen gut ausgeleuchteten Kapelle befand sich das restliche Bauwerk in dämmriger Dunkelheit. Das Sonnenlicht drang nur schwach durch die bunt bemalten, haushohen und uralten Fenster, da und dort flackerte Kerzenschein.

      Es roch nach Weihrauch, den Hoffnungen und Tränen vergangener Jahrhunderte und in der Kapelle auch nach Tod. Was wohl Gott zu dem Frevel in seinem Haus sagte, an diesem würdevollen Ort, der schon während seiner Entstehung untrennbar mit dem Stolz und Leid so vieler Menschen verbunden gewesen war?

      Ich zog das Handy aus der Tasche und verständigte die Rettungsleitstelle. Bis zum Eintreffen von Notarzt und Polizei, versprach ich der Beamtin am anderen Ende der Leitung, würde ich den Tatort gegen die Neugierigen abschirmen, die sich früher oder später zwangsläufig einfinden würden.

      So leid es mir tat, aber Mona musste noch ein wenig länger warten.

      ***

      »Ich kann hier nicht weg«, erklärte ich Mona eine halbe Stunde später, das Mobiltelefon erneut am Ohr. »Der Polizist, der meine Zeugenaussage aufgenommen hat, möchte mir noch ein, zwei Fragen stellen.«

      Ein weiteres Mal stand ich draußen vor der Seitentür des Doms, wo jetzt ein fürchterliches Gedränge herrschte. Ich hatte Mühe, mich zu verständigen, berichtete Mona aber dennoch in ein paar knappen Sätzen, was seit unserem letzten Gespräch geschehen war. Eigentlich hatte ich erwartet, dass sie mich anrufen würde. Aber sie hatte sich nicht wieder gemeldet, um zu fragen, wo ich so lange blieb.

      Zwei Rettungs- und drei Streifenwagen standen am Straßenrand, auch ein Team von der Kripo und die Spezialisten von der Spurensicherung waren eingetroffen. Mehrere Polizisten versuchten, die vielen Passanten und Schaulustigen im Zaum zu halten. Manche drängten durch die eilig errichteten Absperrungen, andere hielten ihre Smartphones in die Höhe, um Fotos zu schießen oder ein Video zu drehen. Viele fragten auch einfach nur, was geschehen war.

      »Alles paletti, bin schon fast beim Amtsgericht.« Mona schien gar nicht richtig zugehört zu haben.

      Ich drängte mich durch die Menge, um mir ein ruhigeres Plätzchen zu suchen, während sie jetzt ihrerseits mit den letzten Neuigkeiten lossprudelte. Vor etwa zwanzig Minuten war Benedetta im »BellaDonna« erschienen, meiner Boutique für hochwertige Secondhandmode und italienische Designerkleidung, und hatte schließlich doch noch ihre Schicht angetreten. Ein wenig atemlos zwar, aber immerhin. Mona hatte sich den fälligen Anpfiff verkniffen und sich auf den Weg zum Anwalt gemacht, der sie in einem Büro im Amtsgericht erwartete.

      »Hab ich das eben richtig verstanden – jemand wurde erschossen?«, fragte sie. »Ja, wer denn?«

      »Ein Journalist, wie du, aber bei der ›Süddeutschen Zeitung‹ in München. Er war noch keine zweiunddreißig, madonna.«

      Das alles hatte ich von Armin Hellweg erfahren, der meine Aussage aufgenommen hatte. Ich kannte ihn von meinen Besuchen in Paolos Büro, meinem Ex-Mann und