Clarisse ging, um Addys Abendessen zu holen. Als er sie beobachtete, musste Dalton lächeln. Clarisse war selbst sehr wählerisch beim Essen und genauso sorgfältig stellte sie Addys Teller zusammen. Das Mädchen wollte immer nur die gleichen, einfachen Nahrungsmittel auf ihrem Teller haben. Alles musste möglichst vorhersehbar sein. Genauso hielt es Clarisse, beim Essen wie im übrigen Leben – Fakten blieben Fakten und wurden schonungslos bloßgelegt, nichts wurde ausgeschmückt, und sie versuchte nie, etwas aus den Dingen zu machen, was sie nicht waren.
Das genaue Gegenteil von Kim, dachte Dalton, als er aufstand, um Addy auf eine Bank zu setzen, damit sie in Ruhe ihr Essen zu sich nehmen konnte. Er ging, um sich selbst etwas zu essen zu holen. Die Warteschlange war jetzt länger und bewegte sich nur langsam, aber er hatte es nicht eilig. Während er darauf wartete, dass er an die Reihe kam, dachte er darüber nach, wie seine Frau auf die Idee reagiert hatte, dass sich ihre Familie um Addy kümmerte.
***
Ohne es jemals wirklich versucht zu haben, hatte es Kim schnell aufgegeben, mit dem Mädchen zu kommunizieren, und die Angelegenheit hatte sogar ihre Ehe belastet. In der Öffentlichkeit redete Kim so, wie er es sich von ihr gewünscht hätte, aber im Privaten blieb sie eiskalt. Sie hatte ihre beiden Jungs, um ihre Mutterliebe zu beweisen. Dieses am Boden zerstörte, stille kleine Mädchen mit seinem großen, aber unausgesprochenen Bedürfnis nach Liebe war ihr zu fremd. Sie fand die ganze Situation und das Mädchen unwürdig, hatte Kim einmal gesagt.
Sie redete sich bei Dalton heraus, indem sie ihm von all der Zeit und Mühe berichtete, die sie vergeblich investiert hätte, um das Mädchen zu erreichen, und schloss bedauernd, dass es trotz ihrer Bemühungen einfach nie »klickt gemacht« habe zwischen ihnen beiden. Kim sagte zu allen, die sie danach fragten: »Ich verstehe sie eben einfach nicht«, als ob die Schuld bei Addy läge.
Eines Tages hatte Kim entdeckt, dass sich Addy während der Schule auf dem Klo versteckte. Sie hatte das verzweifelte kleine Mädchen angeschrien, das dorthin geflohen war, um für sich allein zu weinen. Die anderen Kinder hatten sich über sie lustig gemacht und sie eine Heulsuse genannt.
Noch am selben Abend hatte Dalton Addy in der Dunkelheit dabei ertappt, wie sie ihren Rucksack gepackt hatte, um das Lager zu verlassen. Etwas musste passieren oder das Mädchen würde sich am Ende selbst Schaden zufügen. Er hatte seine Frau dazu überredet, sie aufzunehmen, weil er meinte, dass er es Sam schuldete. Was er nicht verstand, war, warum Kim eine solche Abneigung gegen das verwaiste Mädchen verspürte. Es ergab überhaupt keinen Sinn. Wie konnte sie so hartherzig sein, ein harmloses Kind spüren zu lassen, dass es nicht gewollt war? Und dennoch. Gab es vielleicht noch eine andere Möglichkeit?
Am selben Tag, so hatte er später erfahren, war Kim in der Quarantänestation gewesen, um mit Clarisse zu sprechen. Kim war zu dem Schluss gekommen, dass Clarisse – eine weitere Person, die sie einfach nicht verstand – von allen Frauen im Lager die beste Wahl wäre, um sich um Addy zu kümmern. Kim erklärte es Dalton noch an diesem Abend im Bett, gleich nachdem sie leise, aber intensiv miteinander geschlafen hatten: Addy war genau der einzelgängerische, schlaue Typ Außenseiter wie die Ärztin, nur in einer jüngeren Ausgabe. Das Mädchen zu Clarisse zu geben, war für alle das Beste. Alle Schwierigkeiten gelöst, Ende der Geschichte.
In dieser Nacht streichelte Dalton die weiche, blass leuchtende Haut ihrer bloßliegenden Hüfte. Sie lag auf der Seite, und das flackernde Leuchten der Laterne hob ihre Kurven hervor. Kim wusste um die Wirkung ihrer weiblichen Waffen und benutzte diese stets zu ihrem Vorteil. Sie flüsterte leise: »Dalton, nochmal wegen Sams Mädchen. Sie gehört nicht zu uns. Sie passt nicht in unsere Familie. Wir müssen sie gehen lassen.«
Er hob seine Hand und hörte auf, sie zu streicheln. Kim wandte sich der Wand zu, offensichtlich nicht interessiert daran, was seine Meinung zu diesem Thema war. Sie ließ ihn immer ihre guten Seiten statt ihrer Fehler sehen. Das Licht der Laterne tanzte über ihren bloßliegenden Hintern, ihre untere Rückenpartie, die Taille, die schmale Schulter. Er liebte sie, obwohl er fürchtete, dass ihre Seele nichts als Kälte enthielt.
»Gehen lassen?«, wiederholte er und drehte sie an der Schulter zu sich um. Ihr Ausdruck war aufgesetzte Arglosigkeit. »Gehen lassen wohin?«
»Clarisse wird sie aufnehmen. Ich habe das bereits geklärt. Du wirst sehen, dass ich recht habe. Es ist das Beste.« Sie drehte sich wieder um und zog sich die Decke über die Schulter.
Dalton starrte lange auf die Umrisse seiner Frau. Dann erhob er sich ohne ein Wort von ihrem Doppelfeldbett. Er zog sich seine gefleckte grüne Camouflagehose über die nackten Hüften. Seine »Hundemarke« hing ihm von der Brust, als er sich vorbeugte, in die Stiefel schlüpfte und die Laterne nahm. Als er ihren Abschnitt im Zelt verließ, warf er noch einen Blick in den Bereich, in dem seine Jungs schliefen. Ihre kleinen Oberkörper hoben und senkten sich langsam und regelmäßig. Er wandte sich dem nächsten abgetrennten Bereich zu, wo er nach Addys schlafender Gestalt suchte. Statt schlafend fand er sie kniend am Ende ihrer Pritsche, wo sie durch das kleine Plastikfenster zum Mond hinaufblickte. Sie bemerkte seine Anwesenheit, als er still dastand und sie beobachtete. Sie drehte sich halb um. »Denkst du, Clarisse wird mich mögen?«
Es beschämte ihn, dass Addy sie gehört hatte. Er und Kim hatten sich angewöhnt, sowohl im Liebesspiel als auch in privaten Gesprächen still und leise zu sein. Ohne auf Addys Frage einzugehen, sagte er: »Warum schläfst du nicht, mein Kleines? Es ist spät.« Das Mondlicht warf einen fahlen Schimmer auf ihr Profil.
»Ich bin nicht müde.« Addy hatte den Stoff ihres Nachthemdes zwischen den Fingern, faltete den Saum, drückte den Stoff fest zusammen und glättete ihn dann wieder. Sie sah ihn an. »Kann Daddy auch den Mond sehen?«
Dalton musste schwer schlucken. »Ja. Ja, das kann er.« Er zog einen Stuhl zu sich heran, damit er ebenfalls nach draußen ins Mondlicht sehen konnte. Still teilten beide dieses wunderbare Ereignis. Addy drehte sich wieder um und bestaunte die helle Kugel über dem Wald mit einem Lächeln auf ihren roten Lippen. Der volle, helle Mond machte die Laterne überflüssig, die er noch in den Händen hielt.
Nachdem er den Docht heruntergedreht hatte, sagte er: »Du bist nie weit von deinem Dad entfernt. Er sieht den gleichen Mond wie du. Jetzt versuche zu schlafen, Kleines. Ich bleibe bei dir.« Er hielt die Decke hoch, damit sie darunter kriechen und sich einkuscheln konnte. Nachdem er Addy zugedeckt hatte, strich er ihr sanft über die Wange. Sie schloss die Augen. Das zufriedene Lächeln blieb auf ihrem Gesicht. Dalton gab ihr einen leichten Kuss auf die Schläfe, setzte sich auf den Stuhl neben ihrem Bett und starrte in das Mondlicht.
Kims Einstellung gegenüber Addy würde sich nicht ändern. Dalton wusste das, auch wenn es ihm nicht gefiel. Aber wenn sie einen neuen Platz für Addy finden mussten, war es am besten, es gleich zu tun.
Als langsam die Sonne aufging und ihr Licht das des Mondes ersetzte, wartete er schon darauf, dass sich das schlafende Kind rührte. Sie blinzelte zu ihm auf und lächelte ihn zögerlich an. Er fühlte sich nicht besonders glücklich. Er fühlte sich, als würde er Sam ebenso betrügen wie Addy.
»Guten Morgen, Liebes.« Er legte einen Finger an die Lippen. »Lass uns einen Spaziergang machen«, flüsterte er. Ihren Rucksack hatte er bereits gepackt, während der schlaflosen Stunden, in denen er meist grübelnd neben ihrem Bett gesessen hatte. Er warf den Rucksack über die Schulter und hielt Addy die Hand hin. Sie lächelte; sie wusste Bescheid. Sie stand barfuß auf ihrem Bett und er wickelte sie in die Decke, damit sie warm blieb auf ihrem Weg durch die Kälte.
Im Morgengrauen lag das Lager der Prepper fast verlassen da, nur vereinzelt waren Bewohner anzutreffen, die schon so früh ihren Tag beginnen wollten. Clarisse gehörte zu den Lärchen und man sah sie nur selten zur Quarantänestation gehen und zurückkommen – wenn sie ihre Arbeit überhaupt verließ. Das würde sich ändern, so viel wusste Dalton.
Er hielt Addy in seinen Armen warm, drückte den Summer am Tor und nickte dem Posten zu. Addy lächelte den Mann an. In der Stille des kalten Morgens schmiegte sie sich dichter an Daltons Brust.
»Alles wird gut, Addy. Ich bringe dich zu Clarisse. Von