Bei der bloßen Erwähnung einer Einschreibeliste lächelte Clarisse und nickte, wobei sie wusste, dass jetzt der Punkt erreicht war, bis zu dem sie ihr Gespräch hatte ertragen können. Sie wich mit ihrem Tablett in den Händen langsam zurück, nickte dabei und lächelte, bis sie dachte, der Abstand sei groß genug, um sich umzudrehen und zu entkommen. Sie setzte sich neben Addy und hatte das Gefühl, ihren Pflichtteil am geselligen Teil des Zusammenlebens im Lager für diesen und noch einige weitere Tage erfüllt zu haben.
Clarisse sah zu, wie Addy hungrig ihren Reis verspeiste und sich dann über ihre Mandarinen hermachte. Sie kicherte und hörte Dalton zu, der die Geschichte erzählte, wie sich ihr Dad im letzten Herbst so leise hinter einen Elch geschlichen hatte, dass das riesige Tier vor Schreck aufgesprungen war, als es den Menschen so nahe bei sich bemerkt hatte. »Wie eine verängstigte Katze ist er in die Luft gesprungen.« Das kleine Mädchen lachte bei der Vorstellung, wie ihr Dad einen Elch erschreckt hatte. In Addys Augen gab es nichts, was ihr Vater nicht tun konnte.
Clarisse beobachtete, wie Addy auf Daltons Schoß kletterte, sich in seine Arme schmiegte und um eine weitere Geschichte über ihren Vater bat. Sie wünschte, sie könnte das Glück dieses Augenblicks, das sich auf dem Gesicht des Mädchens spiegelte, für immer erhalten. Als Addy sich umdrehte, um den anderen Kindern weiterzuerzählen, was Dalton über ihren Vater gesagt hatte – »Es ist alles wahr!« – sah Clarisse Dalton in die Augen und formte mit dem Mund das Wort Danke.
Er lächelte und sagte seinerseits lautlos: Immer gerne.
Kapitel 5
Beim Häuten der Wölfe
Das Innere des Gewächshauses roch nach dem Gemisch aus Lehm und Torf, in dem sie die Samen zum Keimen brachten. Graham verband den starken Geruch mit Ostern – und mit dem Ausheben von Gräbern. Besonders beunruhigend war, wie sich die beiden Erinnerungen miteinander verbanden: Schokohasen mit pastellfarbenen Schleifen und gelbe Marshmallow-Küken tauchten in Szenen auf, in denen er das Gesicht seines Vaters mit Erde bedeckte. Jedes Mal, wenn er auch nur einen Fuß in das Gewächshaus setzte, blitzten diese Bilder vor seinen Augen auf. Aber so war es eben. Er schüttelte den Kopf und versuchte, die absurden Bilder und Gedanken loszuwerden. Bei den anderen gab es ähnliche Trigger, die unkontrollierte Erinnerungen auslösten, sowohl gute als auch schlechte; man wusste nie, was in dieser neuen Welt eine Reaktion auf die alte hervorbringen würde.
Sam und er hatten für die Dauer der Frostperiode vorübergehend ein Gestell errichtet, auf dem ihre Beute im Gewächshaus ausbluten konnte. Die Gewächshauschefin namens Tala hatte – leicht zähneknirschend – zugestimmt. Das Gestell bot genug Platz, um zwei erlegte Tiere gleichzeitig zu verarbeiten. Die Abmachung war: Solange sie sich daran hielten, die Pflanzen in Ruhe zu lassen, würde Tala ihnen ihren Kaffee nicht vorenthalten.
Hätten sie die Tiere präparieren wollen, um sie wie in der alten Welt auszustellen, hätte das Enthäuten weit mehr Aufmerksamkeit erfordert. Da sie jedoch nur das Fell verwerten konnten, kümmerte sich Graham nicht darum, die Pfoten oder den Kopf sauber herauszuarbeiten. Außerdem hätte er für eine solche Prozedur zwei bis vier zusätzliche Stunden auf einem umgestürzten Eimer unter einem viel zu grellen Scheinwerfer sitzen müssen, in denen er vermutlich mit Bildern von knallbunten Jelly Beans und pastellfarbenen Ostereiern zu kämpfen gehabt hätte. Er fuhr mit dem kleinen scharfen Häutemesser von der Innenseite der Pfote des Wolfes bis zum Ellbogen und dann die innere Schulter hinauf, wobei die Klingenspitze ganz knapp unter der Haut blieb. Auf ähnliche Weise bearbeitete er die anderen Gliedmaßen, nachdem er zuerst mit jeweils einem quergeführten Schnitt die Haut öffnete. Dann fuhr er mit der scharfen Klinge am inneren Hinterbein entlang bis zum After.
Als Nächstes setzte er sich auf den Eimer und kratzte die Sehnen und zähen Gewebestücke ab, während er das Fell immer weiter in Richtung Schädel zog. Wölfe zu häuten war übelriechende Arbeit, aber sobald Graham es als seine Aufgabe akzeptiert hatte, ignorierte er den Moschusgeruch und arbeitete zügig und zielstrebig. Wenigstens verflogen einige der merkwürdig vermischten Erinnerungen, sobald der starke Geruch einsetzte.
Nachdem er bis zum Hals gekommen war, arbeitete er sich zu den Vorderbeinen vor. Die ermüdende und eintönige Aufgabe würde ihn den größten Teil des Abends kosten, zumal er zwei Tiere vor sich hatte. Aber wenn er das Häuten nicht richtig ausführte, würden die Haare nach und nach ausfallen. Und sollte das geschehen, wären alle Anstrengungen umsonst gewesen.
Graham hatte vor vielen Jahren von seinem Vater gelernt, wie man Tiere häutete, ohne zu wissen, wie nützlich diese Fertigkeit einmal sein würde. Immer, wenn er das Messer in die Hand nahm, überkamen ihn die Erinnerungen. Von Mal zu Mal waren diese Erinnerungen leichter zu ertragen, und inzwischen schätzte er sie sogar, obwohl sie ihn anfangs beinahe in den Wahnsinn getrieben hätten.
Sie planten einige Bauprojekte für die Zeit, in der das Wetter wieder wärmer wurde. So hoffte er, zwei weitere Schlafzimmer an die Blockhütte anbauen zu können, eines für Tala und ihn und eines für die Zwillinge. Danach würden er und Sam sich darum kümmern, den noch kleinen Stall auszubauen. Die Idee war, sich ein paar Rinder zu besorgen, eine kleine Herde zu halten und so ihre Ernährung um Milch und Fleisch zu ergänzen.
Er war fast am Schwanz angelangt, als Marcy mit einer Tasse heißen Kaffee durch den Eingang kam. »Hi Graham, Tala hat gesagt, dass du das hier brauchst«, sagte sie und reichte ihm die dampfende Tasse.
Bislang war es ihnen immer geglückt, auf ihren Plündertouren Kaffee aufzutreiben, aber Graham fürchtete den Tag, an dem sie keinen mehr finden würden.
»Warte einen Moment«, sagte er, stand auf, steckte das Messer ein und zog seine Handschuhe aus. Während er die Handschuhe Finger für Finger von seinen Händen zog, kam er zu dem Schluss, dass Marcy normalerweise nicht einfach so vorbeikam und Geschenke brachte. Graham vermutete, dass sie noch etwas anderes dabeihatte als nur Kaffee.
Marcy gab die warme Tasse in seine kalten Hände.
»Also, bist du bereit für die Jagd?«, fragte er in dem Wissen, dass er besser derjenige war, der das Gespräch lenkte.
»Ja, ich bin bereit.« Sie blieb stehen und betastete das rohe Fleisch mit ihrer Fingerspitze.
»Du hast deine Waffe gereinigt?«
»Ja. Wie du es mir gezeigt hast, Graham«, sagte sie mit verdrehten Augen, entfernte sich ein paar Schritte von den toten Tieren und ging zu den Tischen, auf denen die Setzlinge keimten. Er erinnerte sich an eine Szene mit seinem Vater, als er einmal einem Nachbarn erzählt hatte: »Man muss Teenagern immer mindestens einen Schritt voraus sein, damit sie sich nicht selbst umbringen.« Ein echt guter Rat, wenn man nicht schon drei Schritte hinter ihnen wäre, dachte Graham.
Sie wollte eindeutig etwas. Hoffnung verdichtete die Luft, die sie atmeten. Er nahm noch einen Schluck Kaffee und schwor sich, dass er es ihr nicht leicht machen würde.
»Also, worüber hast du dich vorhin mit Macy gestritten?«
»Ach, da war nichts, Graham.« Das lief nicht so, wie sie wollte, und er war froh darüber. »Ich dachte nur, sie lässt sich etwas hängen, aber wir haben es geklärt. Wie du es uns gesagt hast«, fügte sie hinzu.
»Gut. Ihr beide seid Schwestern, und wenn es um mein Leben ginge, ich kann nicht nachvollziehen, worüber zum Teufel ihr euch überhaupt streitet. Ihr seid das glücklichste Geschwisterpaar unter all den Trägern hier. Um genau zu sein, seid ihr bislang das einzige Geschwisterpaar, das ich kenne. Also seid dankbar.« Er fragte sich, worüber er sonst noch ausführlich lamentieren könnte, um Marcys wahre Absichten in Schach zu halten.
»Die einzigen anderen Blutsverwandten, die wir kennen, sind Dalton und Mark. Sie sind Cousins, aber natürlich ist Dalton kein Träger«, schwafelte er weiter. Er war nicht bereit für das Gespräch, das sie vermutlich mit ihm führen wollte. Je länger er sie davon abhielt, desto besser.
Schließlich verdrehte sie die Augen und sagte: »Ich weiß, Graham! Wir reden dann später.« Grummelnd stapfte