»Ich würde es schon allein schaffen, aber du kannst mir gern helfen.« Ennis' alte, knorrige Hände klappten vorsichtig das Messer zusammen, wie sie es schon unzählige Male in seinem langen Leben getan hatten. Graham stieß einen stillen, erleichterten Atemzug aus. Er wollte den Stolz des Alten nicht verletzen, indem er ihm sein Messer wegnahm. Er zog die mit Holzspänen übersäte Decke zur Seite und streckte die Arme aus, um Ennis aufzuhelfen.
»Ich muss mal«, sagte Ennis. Also half Graham ihm, langsam schlurfend den Weg zur Toilette zurückzulegen. Nur widerwillig ließ er ihn allein ins Bad und blieb im Flur stehen, nachdem Ennis ihm bedeutet hatte, die Tür zu schließen. Graham ließ ihm seinen Willen. Verdammt, ich will auch nicht, dass mir jemand aufs Klo hilft, wenn ich ein alter Mann bin. Trotzdem wartete Graham nahe der Tür. Dann kam ihm der Gedanke, einen Blick um die Ecke zu werfen, um nachzusehen, ob Ennis das Glas Wasser getrunken hatte, das ihm zuvor gebracht worden war. Das Glas stand voll bis zum Rand auf dem Nachttisch. Oh Mist. Da der alte Mann zitterte und offenbar keinen Schluck trank, begann Graham sich Sorgen zu machen, dass er nicht nur krank, sondern vermutlich auch dehydriert war. Er hat wahrscheinlich eine Blasenentzündung.
Als Graham an der sauberen und glänzenden Küche vorbeikam, bemerkte er, dass Tala bereits unterwegs war. Sicher ist sie im Gewächshaus und kümmert sich um die Setzlinge für den Frühling. Geht sie mir aus dem Weg? Sie liebte es, Zeit im Gewächshaus zu verbringen – das galt für sie alle. Die hoffnungsvollen kleinen Pflänzchen standen auf eine bestimmte Weise dafür, dass am Horizont dieser düsteren Welt endlich Licht zu sehen war. Sie waren ein Meilenstein in ihrem neuen Leben. Wenn nur der verdammte Schnee endlich schmolz, damit sie den neuen Garten einrichten konnten und einen Schritt weiterkamen. Je früher, desto besser. Sie brauchten diesen Erfolg, emotional ebenso wie in ihrem Kampf ums Überleben.
Das Gewächshaus, das sie auf einer ihrer vielen Plündertouren gefunden hatten, stand neuerrichtet zwischen der Blockhütte und dem Zugang zum See – eine willkommene Gabe des Zufalls und ein Vorbote guter Dinge, auf die sie so sehr hofften. Tala war schwer begeistert gewesen, als die Männer mit dem zerlegten Gewächshaus zurückgekommen waren. Seitdem teilte sie ihren Tag zwischen den Aufgaben in der Blockhütte wie dem Saubermachen und dem Essenkochen einerseits, und den Arbeiten mit Erde, Samen und Setzlingen andererseits. Sie hatte mehrere Tage damit verbracht, Stück für Stück das Innere des Häuschens zu säubern und soweit wie möglich keimfrei zu machen. Sobald die Männer eine ausreichend große Fläche vom Schnee befreit hatten, hatten alle mit angepackt und das Gewächshaus wie ein riesiges Puzzle wieder zusammengesetzt.
Jetzt benutzte Tala jeden Behälter, den sie auftreiben konnte, um Setzlinge zu ziehen. Graham seinerseits sammelte in den verlassenen Häusern alte Zeitungen ein, um runde Pflanzgefäße herzustellen, so wie es ihm seine Mutter jeden Frühling in Issaquah beigebracht hatte.
Sie stellten Tische ins Gewächshaus, bestückten sie mit Setzlingen und montierten erbeutete Pflanzenlampen darüber, um trotz des sonnenarmen Winters die Photosynthese und damit das Wachstum anzukurbeln. Tala drohte sehr überzeugend jedem, der nur daran dachte, die aufkeimenden zarten Sprossen zu berühren. Schimmelpilze und Bakterien waren die größte Bedrohung für die jungen Pflanzen und Tala wachte genauso mit Argusaugen über das junge Grün wie über ihre neu gefundene Familie.
Graham musste leise kichern, als ihm einfiel, wie Tala einmal Sheriff ausgeschimpft hatte, weil seine neugierige Nase den Setzlingen zum ersten und einzigen Mal zu nahe gekommen war. Sie hatte finster den Kopf geschüttelt und drohend den Finger auf den geliebten Hund gerichtet. Sheriff hatte, offenbar etwas perplex ob ihrer eigentümlichen Gestik und Mimik, seinen Kopf fragend zur Seite geneigt. Seine großen braunen Augen hatten Graham besorgt angesehen. Hat sie ihren Verstand verloren? Zumindest hatte sie ihm unmissverständlich klargemacht, dass er sich von den Pflanzen fernzuhalten hatte, und jetzt kam Sheriff nicht einmal mehr in die Nähe der Tische.
Inzwischen nahm niemand mehr die Narben wahr, die Tala in den brutalen Händen ihrer beiden furchtbaren Entführer erlitten hatte. Graham war glücklich gewesen, als er endlich den Gipsverband von ihrem Bein aufschneiden und entfernen konnte, nachdem Clarisse erklärt hatte, der Knochen sei jetzt hinreichend verheilt. Sie machten daraus eine großartige Tradition, die sie Gips-Bruch-Tag nannten, und verwandelten den Akt der Heilung in eine Art Feier. Sie alle brauchten Anlässe zum Feiern, kleine und große. Tala war danach noch eine oder zwei Wochen lang behutsam umhergehumpelt und Graham hatte ihr geholfen, ihre Wadenmuskeln zu trainieren. Bald hatte sie wieder wunderbar allein laufen können. Ihre äußeren Narben waren gut verheilt.
Aber Graham knurrte vor Wut in sich hinein, wenn er an Talas innere Narben dachte. Tatsächlich war alles gerade noch gut ausgegangen, aber Tala weigerte sich standhaft, ihm oder irgendjemand anderem gegenüber zu erkennen zu geben, wie entsetzt und ohnmächtig sie sich gefühlt haben musste. Ohne Daltons und Ricks beherztes Eingreifen wäre Talas Schicksal besiegelt gewesen. Auch Sam trug schwer an der Last seines eigenen Schicksals, selbst wenn er nicht am Virus gestorben und stattdessen zum Träger geworden war. Dass er deswegen von seiner Tochter getrennt leben musste, war kaum zu ertragen.
Grahams Gedanken trugen ihn immer weiter fort. Tala und er waren einander nähergekommen, in gewisser Hinsicht näher, als er und seine Frau sich jemals gewesen waren. Das ergab sich schon allein aufgrund der Erlebnisse und Gefahren, die sie gemeinsam durchgestanden hatten. Dass Tala plötzlich auf Distanz zu ihm ging, verriet ihm, dass sie sich über etwas Sorgen machte; etwas, das über Ennis' sich immer weiter verschlechternden Zustand hinausging. Ihr Schweigen beunruhigte ihn, weil er sie gut genug kannte, um zu dem Schluss kommen zu müssen, dass sie ihm aus irgendeinem Grund etwas verschwieg – etwas Wichtiges.
Ennis drehte den Türknauf und gestikulierte, Graham solle die Tür für ihn aufschieben. Der alte Mann hatte versäumt, sein Hemd in die Hose zu stecken, wie er es normalerweise tat, aber schließlich hatte er in diesen Tagen auch niemanden, den er beeindrucken musste. Je länger der Winter andauerte, umso ungepflegter sahen sie alle aus. Ennis wirkte erschöpft von diesem kleinen Ausflug ins Bad. Er stützte sich auf Grahams Arm.
»Möchtest du am Feuer sitzen?«, fragte Graham erneut. Die knochigen Hände des alten Mannes zitterten weiter, und die eiskalte Luft, die durch die Risse im Holz ins Innere zog, brachte sie alle dazu, immer mindestens zwei Schichten Kleidung übereinander zu tragen.
»Ja, das ist eine prima Idee.« Es war gut, zumindest ein wenig Kraft in seiner heiseren Stimme zu hören. »Wo ist mein Mädchen?«
Froh über dieses erste Zeichen, dass Ennis klar bei sich war, fragte Graham: »Du meinst Macy?«
»Genau, Macy. Wo ist sie?«
»Unterwegs. Keine Sorge, sie ist bald wieder hier.« Graham führte ihn zum Schaukelstuhl, der am Ofen im Wohnzimmer stand. Er half Ennis, sich hinzusetzen, griff nach der Decke, die über der Lehne hing, und legte sie über seinen Schoß. Er schob noch ein Holzscheit nach und stocherte ein wenig in der Glut, dass die Funken im emaillierten, gusseisernen Inneren des Ofens stoben. Nachdem er die Ofentür geschlossen hatte, fragte er Ennis: »Hast du Schmerzen?«
»Nein, nein. Mir geht es gut.«
Graham bezweifelte das stark. In den letzten Wochen war Ennis immer schmaler geworden. Graham wünschte, er hätte ein Mittel, das dem alten Mann half, länger bei ihnen zu bleiben. Vor allem um Macys willen. Sie war Ennis besonders nahegekommen. Oft las sie ihm abends nach dem Essen aus den Büchern vor, die Graham bei seinen Plündertouren fand. Jeden Abend las Macy ein Kapitel vor, und danach war Ennis endlich bettschwer und ließ sich – stets von Graham – ins Bett helfen.
Am frühen Morgen war es immer Sam, der Ennis in seinen Stuhl am Feuer half und ihm seinen Kaffee brachte, bevor er sich an die Arbeit machte. Sie alle hatten Ennis sehr ins Herz geschlossen, und Graham befürchtete, dass sein unvermeidlicher Tod der Gruppe einen schweren Schlag versetzen würde.
Sie sahen beide auf, als Tala durch die Eingangstür trat und sie schnell hinter sich zumachte, um die Wärme in der Hütte zu halten. Ihre Sorgenfalten verschwanden plötzlich, als sie Ennis erblickte, und sie lächelte Graham dankbar zu. Für ihn hatten sich damit alle Gedanken an etwaige Geheimnisse, die sie von ihm fernhielt,