»Die da drüben, auf der anderen Seite des Flusses«, sagte Ennis und deutete mit einer Handbewegung in Richtung des Prepper-Lagers.
Tränen standen in den Augen des alten Mannes. Graham war sich nicht sicher, ob das den Augen des alten Mannes geschuldet war oder ob Ennis weinte.
»Die Prepper werden Probleme bekommen?«, fragte Graham ihn. Er konnte nachvollziehen, wie Ennis zu dieser Schlussfolgerung kam, schließlich hing das Todesurteil des H5N1-Virus immer noch über allem und jedem.
»Ja, sie werden eine Menge Probleme bekommen«, wiederholte Ennis, nickte bestätigend und richtete dann seinen milchigen Blick wieder auf die Flammen im Ofen. Schließlich nickte er ein und sein Kopf rutschte ihm auf die Schulter.
Als Graham hier in der Blockhütte zum ersten Mal auf Ennis getroffen war, hatte der alte Mann häufig Unheimliches von sich gegeben. Manche hatten gedacht, es könnten so etwas wie Vorahnungen sein, aber Graham hatte eher vermutet, dass der alte Mann eine Show für sie abzog. Jetzt, als Ennis ihnen langsam entglitt, waren die unergründlichen Warnungen zurückgekehrt. Wie zuvor akzeptierte Graham sie lediglich als bloße Verirrungen eines müden Geistes.
Tala erhob sich aus ihrer bequemen Position, setzte sich auf und grinste Graham an. »Hatten wir etwa Publikum?«, fragte sie.
»Für eine Weile. Er ist wieder eingeschlafen, denke ich«, flüsterte Graham. Sie stand langsam auf, um nach Ennis zu sehen. Ein Speichelfaden lief ihm über das Kinn, also holte sie einen sauberen Lappen und wischte ihm sanft übers Gesicht. Nachdem sie seine kalten Hände berührt hatte, entschied sie, dass er eine Decke brauchte. Graham gab ihr die noch warme Decke, die sie geteilt hatten, und als sie Ennis damit zudeckte, sah sie stirnrunzelnd auf. »Irgendetwas stimmt nicht, Graham. Es geht ihm nicht gut.«
Graham streckte seinen großen Körper und riss seine Augen auf, um wacher zu werden. Er hatte in letzter Zeit viel zu wenig geschlafen. »Ja, und er murmelte etwas von einem Sturm und dass die Prepper Schwierigkeiten bekommen würden«, sagte Graham.
»Ich spreche heute mit Clarisse, da frage ich sie. Vielleicht kann sie uns ein paar Tipps geben, was wir tun können, um seine Schmerzen zu lindern«, sagte sie besorgt. Graham sah Tala in die Augen und streckte die Arme aus, um sie zu halten. »Er war nur ein Geschenk für kurze Zeit. Wir beide wissen, dass er nicht mehr lange bei uns sein wird. Aber wir können uns glücklich schätzen, dass er überhaupt bei uns war.«
Von Sheriffs Platz neben dem Ofen kam ein schlurfendes Geräusch. Er hatte wieder seinen »Jag-das-Eichhörnchen-Traum« und seine Vorder- und Hinterbeine bewegten sich unwillkürlich, während er mit einem gelegentlichen Grunzen auf der Seite lag. Die amüsante Ablenkung half Graham und Tala, sich wieder ein wenig zu entspannen.
»Ich hoffe, diesmal kriegt er es«, sinnierte Graham, und Tala lachte leise.
»Ich auch. Der arme Kerl«, sagte sie und schlüpfte davon, um die erste Tasse Kaffee des Tages zu machen. Auf dem Weg in die Küche berührte sie Ennis leicht an der Schulter.
Kapitel 7
Ein Funkgespräch
»Hat er in den letzten vierundzwanzig Stunden Flüssigkeit zu sich genommen?«, fragte Clarisse als Erstes, nachdem Tala ihre Besorgnis über Ennis‘ Befinden geäußert hatte.
»Ja, er hat ein Glas Wasser getrunken, aber viel mehr nicht. Gegessen hat er nur einen kleinen Fisch und etwas Grütze heute Morgen; und zum Abendessen gestern ein paar Biskuits mit Soße«, berichtete Tala.
»Geht er denn auf Toilette?«, fragte Clarisse.
»Ähm, er geht ins Bad, aber ich denke nicht, dass dort viel passiert. Er hat zugegeben, dass er Schmerzen hat. Wir haben ihm Antibiotika gegeben, aber Schmerzmittel haben wir nicht. Denkst du, wir können hier in der Nähe ein paar auftreiben?«, fragte Tala.
Schmerzmittel von den Preppern zu erbitten war nicht sinnvoll, da sie selbst nur über einen begrenzten Vorrat verfügten. Stattdessen hoffte Tala, dass sie die Medikamente irgendwo in einer der umliegenden Ortschaften finden konnten.
»Die Antibiotika brauchen einige Tage, bevor sie wirken. Auch bei einer Infektion haben Ältere nur selten Schmerzen im Harntrakt, es sei denn, die Erkrankung ist sehr schwerwiegend. Die Tatsache, dass er Schmerzen hat, beunruhigt mich. Zusammengefasst: Er hat zugegeben, dass er Schmerzen hat, er hat Fieber und er hält wahrscheinlich seinen Harndrang zurück. Ja, ich denke, er braucht Phenazopyridin gegen die Harnwegsinfektion. Und dazu Cranberrysaft, der wirkt ebenfalls antibakteriell. Zusätzlich könnt ihr ihm eine Wärmflasche geben, das lindert den Schmerz ein wenig. Auch ein entzündungshemmendes Medikament würde helfen. Hoffentlich findet ihr die Medikamente. Ich hasse die Vorstellung, dass er schon so lange unter Schmerzen leidet.«
»Clarisse, meine Großmutter hat bei Blasenentzündungen immer einen Tee aus Salbei und Bärentraube verwendet. Jedes Mal, wenn sie mir das Zeug als Mädchen eingeflößt hat, musste ich würgen. Ich hätte nie gedacht, dass ich zu den Bräuchen der alten Zeiten zurückkehren würde, aber glaubst du, dass solche Tees medizinisch etwas bringen?«
»Beide Inhaltsstoffe enthalten wissenschaftlich erwiesen antivirale Eigenschaften. Also lautet die Antwort: ja. Wenn du saubere, getrocknete Pflanzen bekommen kannst, dann nimm sie. Im Laufe der Zeit werden wir alle Hausmittel deiner Großmutter gut gebrauchen können. Versuche, dich an die Rezepturen zu erinnern, und schreibe sie auf. Heutzutage heißt es, ohne die ganzen großen Pharmahersteller zu überleben.« Sie fügte hinzu: »Ich wünschte, ich könnte euch die Medikamente geben, aber wir haben nur einen kleinen Vorrat, und wir sind viele. Außerdem sind unsere Regeln hier eindeutig und ich muss mich an sie halten. Graham wird wohl in die Stadt fahren müssen. Ich bin mir sicher, dass ihr die Medikamente im Haus des alten Doktors findet. Es tut mir leid, ich wünschte, ich könnte mehr helfen.«
»Ich würde gern noch etwas für ihn tun, damit er sich wohler fühlt. Letzte Nacht hat ihm sein Fieber einige Wahnvorstellungen bereitet, und er hat uns gewarnt, dass auf das Prepper-Lager Probleme zukommen würden. Und natürlich fragt er mich immer wieder nach Bananenkuchen. Ich wünschte, ich könnte einen für ihn backen.« Tala lachte und fing gleichzeitig an zu weinen.
Clarisse versuchte, sie zu trösten. »Komm schon, Tala, ihr habt ihm wieder ein Leben gegeben, ein Leben mit Sinn. Zumindest muss er seine alten Tage nicht in einem Pflegeheim verbringen. Du brauchst dich nicht schlecht zu fühlen.«
»Ich weiß. Es ist nur so, dass wir ihn alle sehr schätzen gelernt haben, in der kurzen Zeit, die wir hatten. Er ist ein Teil von uns. Sogar Sam sitzt stundenlang mit ihm zusammen, wechselt gelegentlich ein Wort mit ihm und schnitzt dabei kleine Tiere für Addy. Übrigens, wie geht es ihr?«
»Besser. Sie ist gerade bei Dalton. Es bricht mir das Herz, dass sie nicht bei Sam sein kann. Ich teste gerade einen neuen Impfstoff, doch es ist noch nicht sicher, ob er funktioniert. Aber im Gegensatz zu all den Versuchen zuvor sieht es vielversprechend aus. Ich werde bald sehen, ob das Mittel sein Versprechen halten kann, aber ich möchte ihr auf keinen Fall umsonst Hoffnungen machen. Ich weiß, die Trennung ist hart für Sam, aber für ein siebenjähriges Mädchen, das auf unbestimmte Zeit von ihrem Vater ferngehalten wird, muss es viel schlimmer sein.«
Auch Clarisses Stimme klang jetzt belegt. Tala konnte die Tränen förmlich hören.
»Nun ja, im Moment ist gut für sie gesorgt, und auch Sam geht es gut hier. Uns ist klar, dass die Sache mit den Kameras Rick verärgert hat, aber ich denke, Sam konnte einiges von seiner Wut loswerden, als er sie alle abmontiert hat. Als sie ihn dabei gesehen hat, dachte Macy erst, er sei verrückt geworden. Bis er ihr erklärt hat, dass wir alle auf Bildschirmen in eurem Lager zu sehen waren«, sagte Tala.
»Ja, Rick ist ein spezieller Typ. Er sorgt sich sehr um seine Mitmenschen, und wenn es darum geht, die zu schützen, die ihm wichtig sind, hat er diese Mentalität der verbrannten Erde. Privatsphäre interessiert ihn da nur wenig«,