KALLIOPE. Arthur Gordon Wolf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Arthur Gordon Wolf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958351776
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konnte. Fünfhundert PS bei Baustellen-Schikanen im zäh fließenden Verkehr waren nämlich ähnlich sinnvoll wie ein SUV auf der Teerstraße. Für ihn waren das nur dekadente Status-Symbole ohne Sinn und Verstand.

      Als Reuther den Zündschlüssel drehte und der Vierzylinder wie immer gehorsam ansprang, zeigte sich ein zufriedenes Lächeln auf seinen Lippen. Seine Dekadenz bestand darin, keinem Chef und keiner Firma hörig sein zu müssen und seinen Tagesablauf selbst bestimmen zu können. Das übertrumpfte selbst eine ganze Flotte aus Ferraris.

      Kapitel 3

      Die kurze Fahrt ins Tal hinunter und durch Elberfeld hindurch verlief ohne große Behinderungen. Noch, dachte er. Noch hatte man die B7 nicht auch gesperrt, um das Großbauprojekt Döppersberg zeitlich schneller über die Bühne zu bekommen. Die Stadt plante nämlich, die Talachse für ganze drei Jahre stillzulegen, damit der Hauptbahnhof gründlich renoviert und mit einer Einkaufs-Mall versehen werden konnte. Zusätzlich waren ein neuer Busbahnhof sowie die Tieferlegung der Bundesallee geplant. Neben den sowieso schon zu erwartenden Verkehrsproblemen hatten Neuplanungen und Bauverzögerungen die Kosten bereits deutlich in die Höhe schießen lassen. Im Vergleich zum Berliner Flughafen-Debakel waren dies zwar nur Peanuts, ein gelungenes Projekt sah jedoch anders aus.

      Reuther seufzte erleichtert, als er zum Botanischen Garten abbog. Gut, dass er nur recht selten diese Strecke fahren musste.

      Der Parkplatz an der Elisenhöhe war um diese Zeit nur zu einem Drittel belegt und so konnte er sich eine große Lücke am oberen Ende aussuchen. Als er ausstieg, raubte ihm die Hitze fast den Atem. Derart hohe Temperaturen im Juni waren kein gutes Omen. Meist folgte darauf nämlich ein verregneter und viel zu kühler Sommer. Das zum Thema Klimaerwärmung.

      Er zog sich das Jackett aus und warf es sich locker über die Schulter. Als leidgeprüfter Wuppertaler musste man halt nehmen, was man kriegen konnte.

       Reuther war viel zu früh, deshalb schlenderte er gemächlich den Weg durch die Wiesen des Hardt-Parks hinauf. Bis zu den Sommerferien dauerte es noch mehr als drei Wochen; daher sah er nur einige Mütter mit kleinen Kindern, die es sich auf dem Grün bequem gemacht hatten. Eine Gruppe Studenten schwänzte gerade offenbar ihre Vorlesungen, um die Zeit sinnvoller mit Frisbee werfen und Volleyball spielen zu verbringen. Ansonsten döste der Park nahezu verlassen im heißen Licht der Mittagssonne vor sich hin.

      Er hatte beinahe die Anhöhe mit den Gewächshäusern und dem dahinter liegenden Elisenturm erreicht, als ein bunter Fleck seine Aufmerksamkeit erregte. Auf einer der oberen Wiesen stand ein Mädchen oder eine junge Frau, die genau in seine Richtung schaute. Bewunderte sie etwa den Ausblick auf den Park? Er wollte schon weitergehen, als ihm etwas Sonderbares an der Spaziergängerin auffiel. Es war ihre Kleidung! Die Unbekannte trug einen weiten fliederfarbenen Rüschenrock und eine hellgrüne Bluse. Um ihre Hüften wand sich eine breite gelbe Schärpe, die im Sonnenlicht zu glühen schien. Reuther blinzelte mehrmals. Aufgrund der Entfernung konnte er keine Details ausmachen, doch er hatte plötzlich das seltsame Gefühl, auf ein Bild von Monet zu starren. Ein lebendes Gemälde. Die Frau dort oben trug Kleider, die vielleicht das letzte Mal Ende des 19. Jahrhunderts in Mode gewesen waren.

      Es dauerte weitere fünf Sekunden, bis der Groschen endlich bei ihm fiel. Als Teilzeit-Eremit verschlief er so manchen Trend. Jugendliche kommunizierten mittlerweile in einer ihm unbekannten Sprache und machten noch kryptischere Handzeichen; wie sollte er da wissen, was gerade modisch angesagt war? Auf Messen und diversen Cons waren ihm durchaus schon ähnlich gekleidete Mädchen in kitschig bunten Kleidern oder Schuluniformen mit puppenhaften Gesichtern und riesig geschminkten Augen begegnet. Verrückte Fans dieser unsäglichen Manga-Comic-Welle, die schon seit Jahren über Europa hinwegschwappte. Es machte ganz den Anschein, als ob sich dort oben eine Variante dieser Manga-Girls verlaufen hätte.

      Er blinzelte erneut und beschattete dann die Augen mit der Hand, um besser sehen zu können, doch das seltsam gekleidete Mädchen war plötzlich verschwunden.

      Verwirrt suchte Reuther nun alle Wiesen oberhalb seines Standpunktes ab, aber bis auf die frisbeespielenden Studenten und die Mütter mit Kindern befand sich weit und breit keine Menschenseele auf dem Parkgelände.

      Hatte sich die Unbekannte vielleicht hingekauert? Nein, entschied er. Da das Gras überall kurz geschnitten war, hätte er auch problemlos einen liegenden Körper entdeckt. Vor allem, wenn er in derart auffällige Farben gehüllt war. Er überdachte seine Augen nun mit beiden Händen; das Resultat blieb aber dasselbe. Wie war es dem Manga-Girl nur so schnell gelungen, von dort zu flüchten? Die nächste Baumgruppe, die Sichtschutz bot, lag mindestens hundert Meter von der Stelle entfernt. Unmöglich, dachte er. Hundert Meter in drei Sekunden einen schrägen Hang hinauflaufen? Selbst eine Top-Athletin mit Laufdress und Cross-Schuhen hätte dafür mindestens die vierfache Zeit benötigt. Es war einfach verrückt. Miss Manga hatte zu allem Überfluss aber noch einen weiten Rüschenrock getragen. Und Laufschuhe mit grober Offroad-Sohle hätten zu ihrem Outfit ohnehin nicht gepasst.

      Er starrte noch eine ganze Weile auf die verlassene Wiese, so als müsse das Mädchen jeden Augenblick wieder auftauchen, doch der obere Teil des Parks verharrte in Totenstarre. Er sah immer noch ein impressionistisches Gemälde vor sich. Es lebte allerdings nicht mehr. Bezeichneten die Franzosen Stillleben daher als Nature morte, als abgestorbene/erloschene Natur?

      Erst jetzt wurde ihm bewusst, welch merkwürdigen Eindruck er wohl auf andere Leute machen musste. Ein Typ, der derart auffällig die Parkanlagen beobachtete, wurde sehr leicht als Spanner eingestuft. Unsicher schaute er sich um, aber niemand schien Notiz von ihm genommen zu haben.

      Glück gehabt.

      Angesichts verschärfter Stalking-Gesetze geriet man heutzutage schneller in Erklärungsnot, als man Romanrecherche sagen konnte. Nach einem letzten Blick über die Anlagen setzte er seinen Weg fort. Vielleicht hab ich's mir ja nur eingebildet, dachte er. Möglicherweise war es nur eine farbige Brechung des Sonnenlichts gewesen. Eine optische Täuschung, die ein seltsames Prisma hervorgerufen hatte.

      Ein Prisma, das einen fliederfarbenen Rock mit gelber Schärpe und eine hellgrüne Bluse herbeizaubern konnte?

      Das aufgeregte Kläffen eines Hundes riss ihn aus seinen Grübeleien. Ein kleiner Mops, der sich angesichts des Sommertages wohl für einen Husky hielt und wie wild an der Leine seines Frauchens zerrte, hechelte ihm entgegen. Reuther wich dem Gespann in weitem Bogen aus und folgte schließlich dem Weg entlang der Wasserbecken hinauf zur Anhöhe.

      Als er in der Orangerie eintraf, war es etwa halb eins. Perfektes Timing. Schnell musterte er die wenigen besetzten Tische, aber das vertraute Gesicht seines Freundes konnte er nicht unter den Gästen entdecken. Dies überraschte ihn allerdings nicht wirklich, denn Schotti war nicht gerade für seine Pünktlichkeit bekannt.

      Reuther durchquerte das Restaurant und suchte sich einen Platz auf der angrenzenden Terrasse. Unter dem kühlenden Schatten zweier quadratischer Baldachine boten zahlreiche Tische ein reizvolles Panorama mit Ausblick auf den Botanischen Garten. Er setzte sich allerdings so, dass er stattdessen den Durchgang gut im Blick hatte. Mit dem angebauten Wintergarten strahlte die ehemalige Villa ein angenehm warmes Rot aus. Die hohen bleigefassten Glastore wurden von Klinker mit Jugendstil-Ornamenten umrahmt. Über der Orangerie ragte ein flaches weißes Dach, das dem Fries eines griechischen Tempels nachempfunden war. Reuther drehte sich halb in seinem Stuhl herum und atmete einmal tief durch. Ein schwacher Orchideenduft hing in der Luft. Inmitten des Grüns, in dem sogar einige kleinere Palmen nicht fehlten, konnte man vorzüglich entspannen. Er musste schmunzeln. Besonders an einem solch heißen Tag wie heute war der Treffpunkt perfekt gewählt.

      Thorsten Stern mochte vielleicht die eine oder andere Macke haben, in Sachen Restaurants besaß er jedenfalls ein unschlagbares Gespür.

      Als eine Kellnerin vor seinem Tisch erschien, bestellte er sich zum Auftakt erst einmal eine große Apfelschorle. Er streckte die Beine genießerisch aus, holte sein Silberetui hervor und zündete sich eine Selbstgedrehte an. Nicht zuletzt deshalb hatte er sich für die Terrasse entschieden; in einem Land, in dem öffentliches Rauchen mittlerweile kriminalisiert und sogar aus den Kneipen verbannt worden war, galt es jeden noch halbwegs legalen