KALLIOPE. Arthur Gordon Wolf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Arthur Gordon Wolf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958351776
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Zustandes der Straße würde sie aber dann deutlich langsamer fahren müssen. Ihr Verfolger könnte so möglicherweise schneller zu ihr aufschließen. Wahrscheinlich besaß der Wagen hinter ihr einen Allrad-Antrieb, wodurch er ihrem Bonneville eindeutig überlegen wäre. Außerdem hatte sie keine Ahnung, wohin diese Schotterpiste überhaupt führte. Vielleicht war dieser 'Tucker' ja schon vor Jahrzehnten in eine weniger staubige Gegend umgezogen.

      'Vergiss' es!', sagte sie sich. Die Nebenstraße war ganz sicher eine Sackgasse, die an einer halb verfallenen Farm endete. Dort wäre sie so hilflos wie die sprichwörtliche Ente im Fass.

      'NO WAY!'

      Nora raste also weiter über die Hauptstraße. So einfach würde sie es ihren Gegnern bestimmt nicht machen. 'Kommt und holt mich doch!', dachte sie todesverachtend. Sie hatte längst den Punkt der reinen Angst überschritten. An ihre Stelle war nun eine schon unheimliche Gleichgültigkeit getreten. Was nützte es denn schon, sich wegen unabänderlicher Dinge verrückt zu machen? Die Vergangenheit ließ sich sowieso nicht mehr ändern. Und was geschehen würde, würde eben geschehen. Wenn das Schicksal, Karma oder wie immer man es nennen wollte, vorgesehen hatte, dass sie den morgigen Tag nicht mehr erlebte, konnte sie wohl kaum etwas dagegen tun. Sie stieß ein leises Schnauben aus.

      Nirgendwo stand allerdings geschrieben, dass man jenen 'höheren Mächten' auch noch behilflich sein musste. Vielleicht gab es ja auch alternative Handlungsabläufe. Vielleicht besaß jedes Individuum doch die Möglichkeit, seine Geschicke bis zu einem gewissen Grad selbst mitzubestimmen. Sie würde jedenfalls nicht einfach so die Hände in den Schoß legen und demütig auf ihr Ende warten.

      'Das verdammte Karma wird sich schon anstrengen müssen, um meinen Arsch zu bekommen.'

      Nora blickte wieder in den Rückspiegel und blinzelte. Etwas stimmte hier nicht. Die Lichter waren plötzlich verschwunden. Hatten die Mistkerle ihre Scheinwerfer etwa wieder ausgeschaltet?

      Obwohl sie sich der Gefahr durchaus bewusst war, drosselte sie ihre Geschwindigkeit. Nun konnte sie auch einen längeren Seitenblick riskieren, ohne befürchten zu müssen, gleich im Graben zu landen.

      Hinter ihr und links war alles in vollkommene Dunkelheit gehüllt; rechts erspähte sie jedoch einen schwachen zittrigen Lichtstrahl, der sich immer weiter von ihr entfernte. Sie trat die Bremse so fest durch, dass sich der Wagen nun doch leicht querstellte und der Motor augenblicklich erstarb.

      Ungläubig starrte sie auf den gelblichen Schimmer. Ihr Verfolger war tatsächlich auf den Nebenweg abgebogen.

      „Verdammter Tucker!“ Ihr Fluch hallte laut im Inneren des Wagens wider. Warum war ihr der Kerl nur mit derart halsbrecherischem Tempo gefolgt? Hatte er etwa vergessen, die Kartoffeln vom Feuer zu nehmen? Oder war es in dieser Gegend vollkommen normal, nächtliche Jagden auf Durchreisende zu veranstalten?

      Nora betrachtete ihre Hände, die noch immer das Lenkrad fest umklammert hielten. Als sie die Finger löste, durchfuhr sie ein heftiges Zittern. Schmerzhaft jagte das Adrenalin durch jede Faser ihres Körpers.

      'Das zum Thema coole Gleichgültigkeit', dachte sie. Der blöde Hinterwäldler-Pick-up hatte sie in eine bibbernde Parkinson-Patientin verwandelt.

      „Scheiß Rednecks!“

      Sie spähte nach vorne über die endlose Prärie. Da das Standlicht kaum weiter als zehn Meter reichte, konnte sie die Landschaft allerdings nur erahnen.

      'Na wunderbar!', dachte sie. Ein Problem war gelöst, das andere aber bestand nach wie vor. Im Tank befand sich nur noch ein Schnapsglas Sprit und die nächste menschliche Siedlung lag wahrscheinlich irgendwo am Yukon. Nora seufzte. Sie drehte den Zündschlüssel und legte den Gang ein. Langsam tuckerte sie weiter. Vielleicht hatte sie ja Glück. Vielleicht befand sich hinter dem nächsten Hügel ja eine Tankstelle … eine Tankstelle mit angeschlossenem Motel. Ähnlich dringend wie Benzin benötigte sie nämlich ein paar Stunden Schlaf. Sie musste endlich einmal zur Ruhe kommen. Im Augenblick drohte ihr der Kopf zu platzen von all den verrückten Vorfällen, deren Zeuge sie seit letztem Dienstag geworden war. Konnte es wirklich sein, dass seitdem erst fünf Tage vergangen waren?

       'Und dass ich noch immer lebe?'

      Sie schüttelte unwirsch den Kopf. Zumindest gab es eine Sache, die durchaus ihre positiven Seiten besaß. Es war eine wirklich fette Beute, die sie am Haken hatte. Zur Freude bestand jedoch kein Anlass, denn noch musste sie das zappelnde Ding erst einmal sicher an Land bringen. Leichter gesagt als getan. Es gab dort draußen eine Menge Leute, die ihr den Fang streitig machen wollten. Lauter blutgierige Haie.

      Ein leises Kichern entrang sich ihrer Kehle. 'Die alte Parkinson-Frau und das Meer'.

      'Nein!' Das schiefe Grinsen wich mit einem Mal ernster Entschlossenheit. Sie würde alles dafür tun, damit ihre Geschichte kein derart tragisches Ende nähme.

      Verdammt, einmal in ihrem Leben hatte doch wohl auch Nora Phyllis Bolden Anspruch auf ein winziges Stückchen vom großen Kuchen des Lebens.

      Sie schaltete in den zweiten Gang und versuchte das rote Lämpchen einfach zu ignorieren.

      Sollen die Haie nur kommen. Sie würde ihren Fang und ihr eigenes Leben mit allen Mitteln verteidigen.

      „Passt nur auf, damit ihr euch nicht die Zähne an mir ausbeißt!“, murmelte sie. „Ich sehe vielleicht nicht so aus, aber die Tochter meiner Mutter kann ein verdammt zähes Miststück sein.“

      Sie schaltete in den vierten Gang und trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Sie war das Warten so leid; wenn ihr Weg auf dieser endlosen staubigen Straße sein Ende finden würde, dann sollte es zumindest mit dröhnendem Motor geschehen.

      Kapitel 2

      Reuther stöhnte. Zum wiederholten Mal las er die letzten Zeilen des Kapitels, doch der Text weigerte sich einfach, zu ihm zu sprechen. Der Text? Es war eher Nora P. Bolden, die ihm plötzlich ohne jede Vorwarnung die kalte Schulter zeigte. Er hatte sich längst an ihre Marotten gewöhnt, doch dieses Mal dauerte ihre Schmollphase allerdings schon über drei Wochen.

      „Blöde Tussi!“

      Entnervt klappte er den Laptop zu und starrte auf den geschlossenen Rollladen vor seinem Fenster. An einigen Stellen lagen die Lamellen nicht genau aufeinander und ließen helle Lichtstreifen hindurch. Staubflusen schwebten wie winzige Planeten im Zimmer herum.

      Was treibe ich hier nur? Diese Frage stellte er sich in letzter Zeit immer öfter. Draußen war ein warmer Juni-Tag und er hockte hier in seinem abgedunkelten Büro und wartete darauf, dass eine imaginäre Frau endlich wieder mit ihm sprach. Wie blöd konnte man eigentlich sein? Niemand zwang ihn schließlich dazu, diese vertrackten Geschichten zu schreiben. Keine Menschenseele. Am allerwenigsten eine gewisse Nora Bolden.

      „Miststück!“

      Was fuhr die dumme Kuh auch mit leerem Tank durch halb Amerika! Es geschah ihr doch ganz recht, wenn sie irgendwo in der Pampa stecken blieb. Was ging ihn das an? Sollte sie doch selbst sehen, wie sie aus diesem Schlamassel wieder herauskam. Er war doch nicht ihr Kindermädchen oder gar ihr Schutzengel. Oh nein! Er war nur ein nüchterner Beobachter.

      Die Sache hatte nur einen Haken: Nora verriet ihm nichts mehr von ihren Plänen. Und seit über drei Wochen raste sie nun schon durch die nächtliche Prärie. Mit weniger als einem Schnapsglas Benzin im Tank.

      Er fuhr sich mit den Händen durch sein lichtes Haar. Das, was nur recht wohlwollende Freunde noch als Frisur bezeichneten, geriet dabei endgültig aus der Form.

      „Arrogante Zicke!“

      Er musste plötzlich über sich selbst lachen. Ein gutes Zeichen, wie er fand. Die Tatsache, dass er fortwährend seine Romanheldin beschimpfte, sprach ebenfalls für ihn. Nur richtige Autoren konnten wohl so abgedreht sein, sich mit erfundenen Personen zu streiten.

      Richtige Autoren schreiben aber mindestens zehn Seiten pro Tag. UND ZWAR JEDEN TAG!

      Der Gedanke versetzte seiner auflodernden Hybris einen empfindlichen Dämpfer. Okay.