KALLIOPE. Arthur Gordon Wolf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Arthur Gordon Wolf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958351776
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sein Schulfreund bereits durch den Wintergarten eilte, war es fraglich, ob er seine letzten Worte überhaupt mitbekommen hatte. So war es bei Schotti stets: immer auf dem Sprung. Schotti, der rasende Reporter.

      Er verschob seinen Stuhl, um einen optimalen Blick über den Botanischen Garten zu haben, und lehnte sich dann entspannt zurück. Noch immer umspielte ein Lächeln Reuthers Lippen. Thorsten Stern mochte vielleicht seine kleinen Macken haben, er besaß allerdings das unbestreitbare Talent, jede noch so traurige Runde in einen Haufen albern kichernder Clowns zu verwandeln. Er versprühte Heiterkeit, als ob es sich dabei um ein billiges Aftershave handelte. Allein deshalb hatte ein Treffen mit ihm auch immer eine therapeutische Qualität. Wirkungsvoller als jede Sitzung bei einem Psychoanalytiker. Für kurze Zeit vergaß Markus Reuther all seine Probleme mit einer imaginären Dame namens Nora Bolden. Er dachte auch nicht mehr an das sonderbare Mädchen in dem Rüschenkleid. Für kurze Zeit saß er einfach nur im Schatten und genoss die schöne Aussicht und die warme Brise auf seiner Haut. Das Leben war gut zu ihm. Wenigstens für eine kurze Zeit.

      Kapitel 4

      Peter Stark

       „Das Baumhaus“

      Niemand bemerkt den genauen Augenblick, an dem die Kindheit endet. In den meisten Fällen ist es ohnehin ein schleichender Prozess, der aus einem naiven kleinen Träumer einen nervösen, unsicheren, mit allem und jedem unzufriedenen Jugendlichen werden lässt. Viele Menschen erinnern sich erst Jahrzehnte später an diese merkwürdige Zeit und ganz selten sehen sie mehr als diffuse Nebelschlieren. Unbewusst erfindet man Dinge hinzu, die so nie stattgefunden haben; die wirklich bedeutsamen einschneidenden Momente hingegen lassen sich oft selbst mit größter Anstrengung nicht mehr ans Licht zerren. Wie kleine nachtaktive Nagetiere verkriechen sie sich tief in ihren Erdhöhlen, graben sich unendlich weit durch das graue Labyrinth unseres Verstandes. Es ist ganz sicher ein Schutzreflex und eine Gnade, denn wie düster sähen wohl unsere Träume aus, wenn wir der Vergangenheit stets ungetrübt in ihr bleiches Antlitz blicken könnten! Die Menschen ahnen gar nicht, wie heilvoll das Vergessen ist. Die Glücklichen.

      Leider gehöre ich zu einer Minderheit, der diese Gnade nicht zuteilwurde. Denn ich erinnere mich noch sehr genau an den Moment, als alles Kindliche plötzlich von mir abfiel und aufplatzte, wie die zu eng gewordene Haut einer Schlange.

      Alles begann in jenem endlos heißen Sommer, als Mirko Adamczyk auf die blöde Idee kam, den Wagen seines Vaters zu klauen. Mirko (wir alle nannten ihn nur Miri) war einmal in der Dritten hängen geblieben und daher ein Jahr älter als wir anderen. Mit seinen fast 180 cm Körpergröße und seinem kantigen, von Aknepusteln übersäten Gesicht konnte er locker für sechzehn durchgehen. Bei schlechtem Licht vielleicht sogar als volljährig. Auch wenn es nie eine offizielle Wahl gegeben hatte und wir uns eigentlich ständig um die Stelle prügelten, so war Miri doch der eigentliche Anführer unserer Gang. Nun gut, 'Gang' ist vielleicht eine zu prahlerische Bezeichnung für unsere Clique, bestand sie doch nur aus vier Mitgliedern. Neben Miri waren dies Matthias 'Mattes' Wiegand, Jörg 'Moppel' Schmitz und meine Wenigkeit, Michael 'Micha' Mike Ebers. MMMM - Die 4M. Zumindest unser Logo fanden wir alle super-cool.

      Unsere Treffen hielten wir, wie es sich für eine richtige Clique gehörte, in einem Klubhaus im Golderbachtal ab. Im Bach fanden sich zwar keine Nuggets, sondern nur Frösche und winzige Groppen, für uns Kinder war das dicht bewaldete Gebiet aber ähnlich geheimnisvoll wie der Dschungel des Amazonas oder die Sümpfe am Mississippi. Unsere Bude thronte hoch oben im dichten Geäst einer Kiefer. Sie bestand vor allem aus einer etwa zwei mal zwei Meter großen Plattform, deren Bretter wir uns aus der Ruine einer alten Konservenfabrik besorgt hatten. Die Seitenwände bildeten teilweise der Baum selbst sowie eine wilde Mischung aus Palettenstücken, Wellblech und Apfelsinenkisten. Das Baumhaus hätte zwar dem Angriff blutrünstiger Gorillas oder feindlicher Indianer nur Wimpernschläge lang standgehalten, für unsere Zwecke war es jedoch mehr als ausreichend. Außerdem rechneten wir kaum mit Überfällen organisierter Primaten oder Eingeborener.

      Vielleicht hatten wir das Dach ja auch aus diesem Grund nur notdürftig aus den Resten einer Abdeckplane konstruiert. Unser Treffpunkt war eine eigenwillige Mischung aus Hundehütte und Zelt. Was ihm an Robustheit fehlte, wurde aber durch seine Tarnung dreifach wieder ausgeglichen. Die Kiefer stand etwas abseits der Wanderpfade, doch selbst einem Förster oder Pilzsammler, der sich querfeldein durch den Wald bewegte, wäre unser Unterschlupf nicht aufgefallen. Wenn man nicht genau wusste, wo sich das Baumhaus befand, war es im dichten Grün der Nadeln und Blätter kaum auszumachen. Es gab keine verräterischen Leitern oder Stricke; als Aufstieg nutzten wir nur die günstig angeordneten Äste der Kiefer. Um die erste Stufe – sprich den Ast – zu erreichen, musste man sich allerdings mächtig strecken. Vor allem 'Moppel' war dabei nicht selten auf die tatkräftige Unterstützung seiner Freunde angewiesen.

      Das Golderbachtal lag kaum drei Kilometer von unserem Viertel entfernt. Mit dem Fahrrad benötigte man dennoch fast zwanzig Minuten, weil es zuerst einen recht steilen Hügel zu bewältigen galt; den Trojansberg. Niemand im Ort wusste genau, woher der Name kam. Ähnlich, wie es im Golderbachtal kein Gold gab, so hatte der Trojansberg ganz sicher nichts mit Troja zu tun. Namen waren schon eine seltsame Sache.

      Kaum war der letzte Schnee verschwunden, trafen sich die 4M jeden Nachmittag am Baumhaus, um die Schäden des Winters zu beheben. Morsche Bretter wurden ausgewechselt, Bleche neu verdrahtet und Risse in der Plane mit Duct Tape geschlossen. In den Sommermonaten, vor allem aber während der Ferien, trieben wir uns von morgens bis abends in unserem Versteck herum. Zuweilen übernachteten wir sogar in luftiger Höhe. Es hatte schon etwas Abenteuerliches, dort oben durch die Zweige hindurch den nächtlichen Sternenhimmel betrachten zu können. Wir lagen dann nebeneinander auf unseren Schlafsäcken, ließen eine Kippe rumgehen und starrten schweigend in die unendlichen Weiten. Ich war es, der schließlich auf die Idee gekommen war, die Dachplane wie bei einem Cabrio nach hinten verschiebbar anzubringen. Auf diese Weise hatte man das Gefühl, mitten in den Baumkronen zu schweben.

      Wenn doch einmal jemand etwas sagte, so hatte es immer gleich eine traumhaft bizarre Note. Ich erinnere mich noch genau daran, wie Mattes eines Abends von seinen 'Schattenmännern' erzählte. Wir lagen wie gewöhnlich auf dem Rücken, starrten in die Nacht und rauchten gemeinsam eine Marlboro, als Mattes unvermittelt sagte: „Ich glaube, sie kommen von irgendwo dort oben.“

      Es dauerte eine ganze Weile, bis einer von uns darauf reagierte.

      „Wer?“, fragte schließlich Miri.

      „Die Schattenmänner“, sagte Mattes. „Vielleicht von Alpha Centauri oder dem großen Hundsstern.“

      „Hundsstern?“, fragte Moppel. „Was soll'n das sein?“

      „Alpha Canis Majoris“, erklärte Mattes. „Vielleicht kennt ihr ihn ja eher unter der Bezeichnung Sirius. Er ist nur knapp neun Lichtjahre von uns entfernt. Schon die alten Ägypter haben Sirius beobachtet und mit ihm die Zeit der Nilschwemme errechnet. Leider kann man ihn jetzt von hier aus nicht sehen. Er taucht an unserem Himmel erst wieder gegen Ende August auf.“

      „Nur neun Lichtjahre“, witzelte ich. „Ist ja praktisch direkt nebenan. Was hat das aber denn alles mit den Schattenmännern zu tun?“ Wir alle wussten von Mattes Astronomie-Tick, aber von kleinen grünen Männchen oder welchen aus Schatten hatte er bislang nie etwas erwähnt.

      Mattes nahm mir die Kippe aus der Hand und ließ die Spitze für mindestens drei Sekunden hell aufglühen.

      „Sie kommen manchmal in der Nacht.“ Seine leise Stimme klang seltsam entrückt, so, als ob er mehr zu sich selbst als zu uns spräche. „Zuallererst habe ich sie draußen auf der Straße vor unserem Haus bemerkt. Dünne lange Schatten, die sich seltsam bewegten. Dann, einige Tage später, kamen sie näher; in den Vorgarten, direkt unter mein Fenster.“

      „So ein Fucksinn!“ Miri liebte es, seine ganz persönlichen Flüche zu erfinden. 'Fucksinn' war dabei eine seiner Lieblings-Kreationen. Er beugte sich weit über mich, um sich von Mattes die Zigarette zu holen. „Das waren krassnormale Schatten von Straßenlaternen oder Büschen, Alter. Schattenmänner, dass ich nicht lache! Du hast dir wegen nichts und wieder nichts