Ein Jahr später war Bluternte erschienen und das Buch war bei den Lesern sogar noch besser angekommen. Wenn man den Zahlen der Großhändler vertrauen konnte, dann waren bereits über elftausend Exemplare über die diversen physischen und virtuellen Ladentheken gewandert. Die Verkäufe der jeweiligen eBooks überstiegen die der gedruckten Bücher nun schon um ein mehrfaches. Reuther hasste diese elektronischen Dateien, die meist auf hässlichen Plastik-Readern oder Smartphones gelesen wurden.
Dreihundert schwer erarbeitete Seiten auf nur wenige Kilobyte zusammengeschrumpft. Im Grunde war er mehr ein Leser als ein Autor. Er liebte das Layout eines gedruckten Buches, das Cover, die Typografie, die Bindung. Neben dem Schriftsteller machten sich eine Menge Leute Gedanken darüber, wie man den Inhalt eines Romans am besten zur Geltung bringen konnte. Bei richtig guten Büchern spürte man diesen Enthusiasmus und die Mühe in jedem noch so kleinen Detail.
Wie er es genoss, ein neues Buch aufzuschlagen, die noch leicht aneinanderklebenden Seiten zu enthüllen, ihren Duft einzusaugen und mit den Fingern über das noch jungfräuliche Papier zu streichen. Ein gedrucktes Buch war einfach ein Erlebnis für alle Sinne. Da konnten die klinisch-anonymen eBooks nicht mithalten, so praktisch und platzsparend sie auch sein mochten.
Trotz seiner anachronistischen Gefühle verschloss Reuther allerdings nicht die Augen vor den Entwicklungen medialer Kommunikation. Warum auch? Die Textdateien seiner Romane mochten vielleicht ästhetisch unakzeptabel sein, sie brachten ihm aber nun einmal deutlich mehr ein als die Printausgaben. Der Verlag musste dafür schließlich keine Druckerei bemühen und Lagerkosten fielen auch weg. Der Versand erfolgte über Glasfaserkabel binnen Sekunden. Mit nur einem Mausklick. Jämmerlich profan, aber durchaus profitabel. Auch wenn er es öffentlich niemals zugab (auch nicht seinen Freunden gegenüber), so setzten sich seine Einnahmen mittlerweile zu fast drei Vierteln aus dem Verkauf von eBooks zusammen. Und der Markt wuchs weiterhin rasant.
Reuther stand auf und zog den Rollladen nach oben. Augenblicklich wurde das Zimmer in gleißendes Sonnenlicht getaucht. Als sich seine Augen endlich an die Helligkeit gewöhnt hatten, betrachtete er nachdenklich die Rhododendren-Büsche und die blühenden Robinien im Garten. Feinster englischer Rasen umgab die Bäume wie ein weicher Teppich. Da das Grundstück nach etwa fünfzig Metern steil abfiel, konnte er die Straße von hier aus nicht einsehen; stattdessen wanderte sein Blick hinüber zum Scharpenacken, dessen sanft gewellte Wiesen in der Sommerhitze zu vibrieren schienen.
Das Haus thronte auf den Südhöhen Wuppertals. Vom Fenster des Büros hatte man einen Blick nach Südosten in Richtung Beyenburg und Remlingrade. So weit das Auge reichte, gab es nur Grün.
Mein kleiner Park. So hatte Reuthers Vater es oft liebevoll genannt. Bei dem Gedanken musste er seufzen, denn sein alter Herr war nun schon seit fünf Jahren tot. Reuther Senior hatte eine florierende Werkzeugfabrik in Cronenberg besessen. Mit nur zwei recht einfachen aber funktionalen Zangen war es der Firma gelungen, in den Weltmarkt vorzudringen. Selbst in China kannte man seine Werkzeuge Made in Germany.
Mit sechzig hatte Herbert Reuther plötzlich beschlossen, ein neues Leben zu beginnen. Er verkaufte die Firma zu einem überaus lukrativen Preis, nahm sich eine dreißig Jahre jüngere Geliebte und jettete mit ihr fortan kreuz und quer über alle Kontinente. Der Traum vom sorglosen Globetrotter währte allerdings nicht lange. Denn keine zwei Jahre später kam er bei einem Tauchgang vor der nordaustralischen Küste mit einer Würfelqualle in Kontakt. Es gelang noch, ihn aus dem Wasser zu bergen, doch alle Hilfsmaßnahmen waren vergeblich. Lange bevor ein Notarzt eintraf, starb Herbert Reuther an akutem Kreislaufversagen. Da Reuthers Lebensgefährtin testamentarisch nicht bedacht worden war und seine Frau schon kurz nach der Geburt ihres einzigen Kindes verstorben war, ging das Gesamtvermögen an seinen Sohn über. Von heute auf morgen war Markus Reuther um sechzehn Millionen Euro reicher, die Familienvilla, die beiden Mietshäuser und ein ansehnliches Aktienpaket nicht mitgerechnet. Mit nicht einmal dreißig Jahren musste er sich fortan um Geld keine Sorgen mehr machen. Mehr aus Routine als aus Notwendigkeit schloss er sein BWL-Studium in Köln ab und kehrte kurz darauf nach Wuppertal zurück. Mit seinem Bachelor in der Tasche wollte er sich eigentlich einen Job als Unternehmensberater suchen, richtige Lust auf das neue Betätigungsfeld verspürte er jedoch nicht. Sechs Monate lang lebte er einfach in den Tag hinein, ohne irgendeinen Rhythmus und ohne Ziel.
Markus Reuther stand kurz davor, ein reicher aber apathischer Messie zu werden, als er eines Tages eher durch Zufall auf ein altes Schreibheft mit Geschichten aus seiner Jugend stieß. Mit sechzehn hatte es ihm großen Spaß gemacht, verrückte, bizarre oder unheimliche Ereignisse zu erfinden und aufzuschreiben. Ein Großteil der Storys (mit so vielsagenden Titeln wie Erdbeer-Regen oder Der achtbeinige Hund meiner Nachbarin) war nur drei oder vier Seiten lang. Flüchtig hingeworfene Skizzen, die ausschließlich auf den Knall-Effekt am Ende setzten. Die Texte strotzten nur so vor orthografischen und grammatikalischen Fehlern und doch besaßen sie einen überraschenden Charme; eine düster-morbide Atmosphäre, die ihn gefangen nahm.
An jenem Tag las er das Heft in einem Rutsch durch, danach begann er direkt von Neuem. Wer war nur dieser seltsame Sechzehnjährige gewesen? Und warum hatte er mit dem Schreiben irgendwann aufgehört?
Die Antwort auf die letzte Frage fiel leicht. Schreiben war uncool. Nur einige kichernde Teenie-Girls hatten damals noch Tagebuch geführt oder etwas in die Poesie-Bücher ihrer Freundinnen gekritzelt. Niemand schrieb jedoch Geschichten. Und außerdem gab es Sachen wie Schule, MTV, Computer, Fußball und richtige Mädchen. Da blieb einfach keine Zeit mehr für künstlerisches Gestammel. Er lebte in der schnelllebigen Zeit von E-Mails und SMS. Es wurde nicht mehr geschrieben, sondern ausschließlich gechattet und gesimst. 160 Zeichen mussten dafür reichen. Warum noch schwülstig „Ich liebe dich“ schreiben, wenn es mit „143“ auch erledigt war. Seit dieser kurzen Phase der Verwirrung hatte Reuther nie wieder einen längeren Text verfasst, Referate und die Bachelor-Thesis über Integrate Social Media Marketing und Media Law einmal ausgenommen.
Viele Jahre später nahm die fast doppelt so alte erwachsene Version von Markus Reuther das Heft mit in sein vernachlässigtes Büro und las es zum dritten Mal. Es war etwas in diesen kurzen Texten, das ihn unruhig werden ließ. Etwas lag hinter den ungelenken mit Kugelschreiber gekrakelten Zeilen. Oder vielleicht auch eher dazwischen.
Ein merkwürdiges ungewohntes Gefühl. Neugier! Es interessierte ihn tatsächlich, was mit diesen erfundenen Menschen geschah, so verrückt und unmöglich die Situationen auch sein mochten. Gleichzeitig schlich sich eine weitere Empfindung in sein Unterbewusstsein: die Faszination vor dem Grauen. Reuther war alles andere als ein mutiger Mann, dunkle Gassen mied er ebenso wie große Höhen oder Börsenspekulationen. Der Anblick einer kleinen Kakerlake konnte bei ihm einen spontanen Fluchtreflex auslösen. Trotzdem gab es in seinem Inneren eine Vorliebe für unheimliche düster-morbide Szenarien. Er liebte es einfach, sich zu gruseln. Jedenfalls solange für ihn dabei keinerlei wirkliche Gefahr bestand. Sein Faible für klassische und auch moderne Horror-Filme war daher durchaus verständlich. Man zuckte erschrocken zusammen, wenn plötzlich ein Wahnsinniger oder ein Monster aus seinem Versteck hervorschoss; gleichzeitig saß man aber im weich gepolsterten Sitz eines Kinos oder auf dem heimischen Sofa, wohl wissend, dass die tödliche Gefahr nur den Figuren einer erfundenen Geschichte drohte. Filme boten die einmalige Chance, Ängste gefahrlos erleben zu können, ähnlich wie Erzählungen und Romane dieses Genres. Die literarische Form besaß sogar noch einen entscheidenden Vorteil gegenüber dem Film: Wenn der Autor nicht all zu viele Informationen vorgab, konnte sich der Leser sein ganz persönliches Monster basteln. Das, was sich nur im Kopf des Lesers abspielte, war nicht selten weitaus unheimlicher als der eigentliche Text. Ein Grund dafür, warum Romanverfilmungen oft so große Enttäuschung hervorriefen. SO habe ich es mir aber nicht vorgestellt!, lautete dann stets die einhellige Kritik.
Reuther fand nicht nur erneut Spaß am Bücherlesen, er entdeckte auch eine neue alte Liebe für das eigene Fabulieren. Am folgenden Tag setzte er sich wieder an den Schreibtisch, klappte seinen Laptop auf und schrieb