KALLIOPE. Arthur Gordon Wolf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Arthur Gordon Wolf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958351776
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hasste Tauben! Diese dreckigen ewig gurrenden Ratten der Lüfte. Er hasste ihr Aussehen und ihre torkelnden Bewegungen. Er hasste ihren Gestank und vor allem den ätzenden Dreck, den sie auf Dächern, Fensterbänken und Autos hinterließen.

      Noch viel mehr aber hasste er Judith Krämer. Seine Ex.“

      Bereits vier Monate später war sein erster Roman fertig. Anfangs wusste Reuther gar nicht, was er mit dem Manuskript anfangen sollte. Er hatte das Buch eigentlich nur für sich geschrieben, aus reiner Neugier heraus, wie sich diese Geschichte wohl entwickeln würde. Die 293 Seiten waren irgendwie ein intimes Zwiegespräch zwischen ihm und seinem Unterbewusstsein. Es war ursprünglich gar nicht für fremde Augen und Ohren gedacht gewesen. Aus diesem Grund kam er nicht einmal auf die Idee, den Text auszudrucken. Für einige weitere Monate versteckte sich sein Debüt deshalb als unscheinbare Datei auf der Festplatte des Computers.

      Text1 hatte er sie betitelt. Schlicht, beinahe schon abwertend. Warum aber hatte er die 1 hinzugefügt? Beabsichtigte er etwa, noch weitere Texte zu verfassen? War dies vielleicht erst der Anfang? Er hatte ehrlich gesagt nicht den geringsten Schimmer.

      Irgendwann aber öffnete Reuther Text1 erneut und begann mit einer sorgfältigen Überarbeitung und Korrektur. Nach Abschluss seines Lektorats verfasste er ein dreiseitiges Exposé und verschickte es auf gut Glück an zehn geeignet scheinende Verlage, die er aus dem Netz herausgesucht hatte. Wie zu erwarten, erhielt er bald darauf acht vorgedruckte Absagen. Zwei der Verlage reagierten überhaupt nicht.

      Aber Reuthers Ehrgeiz war nun geweckt worden. Er wählte einige neue Verlage aus, dieses Mal auch kleinere Unternehmen mit einer Backlist von nur einem Dutzend Titel, und versuchte abermals sein Glück.

      Viele Wochen vergingen, aber nichts geschah. Er hatte die ganze Angelegenheit beinahe schon vergessen, als eines Tages plötzlich ein Brief mit einem seltsamen roten Logo eintraf. Das weiße Konterfei eines Mannes mit Fedora, unterlegt von einem blutigen Klecks. Darunter ein schräger Schriftzug: Cornells. Der Verlag zeigte tatsächlich Interesse an seinem Roman und bat um die Zusendung des gesamten Manuskripts. Noch immer war Reuther weit davon entfernt, in Jubelschreie auszubrechen, aber als er einige Zeit später wirklich einen Buchvertrag unterschrieb, musste er sich eingestehen, die Bühne der Literatur betreten zu haben.

      Er wandte sich nun vom Fenster mit all seinen sommerlichen Verlockungen ab und schlurfte nachdenklich zurück zu seinem Arbeitsplatz. Hinter dem Stuhl blieb er stehen und fixierte den flachen schwarzen Kasten auf dem Tisch. Wie ein düsteres Menetekel thronte das Ding vor ihm.

      Schwarz, dachte er. Genau so sieht deine Zukunft als Autor aus.

      Als Cornells ihn ein halbes Jahr später aufforderte, einen Nachfolger zu schreiben, hatte er sofort ein mulmiges Gefühl bekommen. Ideen mochte er zwar haben, doch wie sollte er erneut derart viele Seiten füllen? Reuther war kein Freund von detailreichen Konzepten. Er verspürte weder die Lust, noch verfügte er über die Ausdauer und Disziplin, jeden Handlungsstrang einer Erzählung minutiös auszuarbeiten. Tote Tauben war einfach so geschehen. Es war irgendwie auf wundersame Weise während des Schreibens entstanden. Eine verblüffende mysteriöse Evolution. Er bezweifelte, ob man einen derart nebulösen Vorgang bewusst steuern konnte.

      Nichtsdestotrotz hatte er sich hingesetzt und mit dem Schreiben eines zweiten Teils begonnen. Bluternte nahm einen in jeder Hinsicht unerwarteten Verlauf. Ganz langsam entwickelte sich eine weitere Geschichte, die jedoch mehr und mehr von seiner Grundidee abwich. Der Roman begann ein merkwürdiges Eigenleben zu entwickeln; ständig gab es Wendungen, die er so gar nicht vorgesehen hatte.

      Auf der einen Seite erwiesen sich seine Befürchtungen als vollkommen unbegründet, denn Reuther verzweifelte nicht vor einem leeren Bildschirm. Es wollte sich aber auch partout keinerlei Routine einstellen. Ganz im Gegenteil. Das einzige routinemäßige Ritual bestand in seinem Tagesablauf. Jeden Morgen um halb acht setzte er sich mit einer Kanne Kaffee und ausreichend Zigaretten vor den Laptop und hoffte auf Inspiration. Gegen dreizehn Uhr machte er sich für gewöhnlich eine Kleinigkeit zu essen oder fuhr zu seinem Lieblingsitaliener in die Stadt. Von fünfzehn bis achtzehn Uhr arbeitete er dann erneut am Computer. Den Abend verbrachte er meist mit Lesen, Fernsehen oder dem Treffen mit Freunden.

      Rituale und Routinen waren gut für das Schreiben, hatte er einmal irgendwo gelesen. Sie erforderten Disziplin, und Disziplin war wiederum eine notwendige Voraussetzung für Ausdauer.

      Bluternte verlangte ihm diesbezüglich allerdings ein schon fast unerträgliches Maß ab. Bis zum Schluss blieb der Roman ein Phantom, ein scheues Gespenst, das sich niemals mehr als um zwei weitere Seiten vor ihm enthüllte. Zu seinem maßlosen Erstaunen beeinflusste dieses zähe Ringen allerdings nicht seinen Stil. Das fertige Buch las sich, als ob er es innerhalb von drei Wochen einfach so hingeschrieben hätte. Den Lesern gefiel es jedenfalls noch besser als sein Erstling. Bingo!

       Reuther umklammerte die Stuhllehne, bis sich seine Finger wie Klauen in die Polsterung bohrten.

      Bingo?

      Er stieß ein kurzes Lachen aus, das aufgrund seines Zigarettenkonsums eher wie ein rasselndes Husten klang. Nichts war hier Bingo. Überhaupt nichts. Wenn Bluternte sich wie ein scheues Gespenst gebärdet hatte, dann war sein neues Buch ein … ein …

      „Miststück!“, fauchte er in die Stille hinein. „Ein arrogantes kleines Miststück!“

      Von Anfang an war die Figur der Nora Bolden ein nicht zu entschlüsselndes Geheimnis für ihn gewesen. Nie tat sie das, was man von ihr erwartete oder verlangte. Schließlich war er es doch, der sie ins Leben gerufen hatte. Er war Noras Schöpfer, der jeden ihrer Wege, ja, sogar jeden ihrer Gedanken bestimmte.

      Oder etwa nicht?

      Die junge Dame benahm sich nämlich so, als ob alles nur nach IHREM Kopf liefe. Sie missachtete nicht nur fortwährend seine Lenkungsversuche, sie dachte auch nicht im Traum daran, ihm mitzuteilen, welche Entscheidung ihr stattdessen in den Sinn gekommen war. Sie machte es einfach. Und er hechelte ihr von Seite zu Seite hinterher.

      Reuther tat das, was er immer machte, wenn er nervös, verärgert oder frustriert war: Er zog sein schmales Silberetui aus der Tasche und zündete sich eine Selbstgedrehte an. Dann sog er tief den Rauch in seine Lungen und hielt ihn für eine kleine Ewigkeit dort fest. Wie ein bizarrer Nikotin-Apnoetaucher schlenderte er schließlich zurück zum Fenster und blinzelte in die Sonne.

      Als er stoßweise wieder ausatmete, überzog sich die grelle Außenwelt mit einem angenehm grauen Nebel. Schon viel besser.

      Ganz allmählich wurde der Garten dunkler, bis er sich schließlich in eine nächtliche Prärielandschaft verwandelt hatte. Reuther starrte nun mit Noras Augen durch die mit Insekten verschmierte Windschutzscheibe, aber alles, was er sah, war eine staubige Einöde.

      Was zum Teufel hast du hier nur verloren?

      Seit nunmehr dreiundzwanzig Tagen stellte er sich immer und immer wieder die gleiche Frage. Aber das eingebildete Miststück antwortete ihm einfach nicht. Es war nicht nur ihre spontane Entscheidung, die Interstate zu verlassen, es war die gesamte Szene, die ihm missfiel. Angefangen bei der gescheiterten Entführung am Busbahnhof, über den Geldkoffer, bis hin zu Noras kopfloser Flucht, machte alles einen merkwürdigen Déjà-vu-Eindruck auf ihn. Es wirkte wie ein alter Hollywoodschinken, den er so oder so ähnlich schon dutzende Male gesehen hatte. Reuther stutzte plötzlich.

      Psycho!, schoss es ihm auf einmal durch den Kopf. Die ganze Flucht mit dem Wagen war doch beinahe eine 1:1-Kopie der Eröffnungssequenz aus Hitchcocks berühmtem Thriller.

      Na vielen Dank auch, Miss Bolden!, dachte er. Was für eine gelungene Hommage an den Alt-Meister.

      Er gönnte sich einen erneuten Apnoe-Zug, ließ den Rauch aber dieses Mal mit einem aggressiven Zischen in einer dichten Wolke entweichen.

      Eines schwor er sich jetzt schon: Sollte Nora auf die Idee kommen, in einem Motel abzusteigen (sofern sie überhaupt jemals wieder geruhte, mit ihm zu sprechen oder etwas anderes tat, als sinnlos in der Gegend herumzufahren), so würde er das gesamte Manuskript in den Altpapiercontainer befördern. Sechsundneunzig hart erkämpfte Seiten hin oder her. Markus Reuther