KALLIOPE. Arthur Gordon Wolf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Arthur Gordon Wolf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958351776
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Fall beschimpfen lassen.

      Möglicherweise bin ich aber auch etwas ganz anderes. Ein vollkommen durchgeknallter Irrer, der reif für die Anstalt ist.

      Welcher halbwegs normale Mensch stritt sich schon mit imaginären Figuren oder ärgerte sich über deren Verhalten? Okay, vielleicht World-Of-Warcraft-Spieler, Harry Potter-Fans und Serien-Nerds von The Big Bang Theory einmal ausgenommen. Wenn man es nüchtern betrachtete, dann war er verrückter als ein jodelndes Eichhörnchen.

      Es war allerdings kein Jodeln, sondern die Klänge einer Panflöte, die Reuther schließlich aus seinen Gedanken rissen. Ennio Morricone. Cockeyes Song aus Sergio Leones Es war einmal in Ameríka. Er liebte alles, was Morricone und Leone jemals fabriziert hatten und die Resultate ihrer Zusammenarbeit waren Meisterwerke für die Ewigkeit. Kein Wunder also, dass er den Klingelton seines Handys entsprechend ausgewählt hatte.

      Er folgte der vertrauten Melodie hinaus auf den Korridor. Eine genaue Ortung fiel ihm jedoch schwer. Die Panflöte klang recht dumpf, als wenn sie hinter einer Zwischenwand eingemauert wäre.

      Reuther seufzte. Er besaß zwar eines dieser Alleskönner-Smartphones, benutzte es jedoch nur höchst selten. Die Schar seiner Freunde war begrenzt und Internet-Recherchen ließen sich viel bequemer von zu Hause aus am Laptop erledigen. Blieben also nur die zehn Milliarden Apps, die man dem kleinen Kasten hinzufügen konnte. Doch auf die meist falsche Wetterprognose konnte er gerne verzichten; da schaute er lieber morgens aus dem Fenster. Eine Uhr trug er bereits am Handgelenk und Spiele jedweder Art hatten schon vor Jahren jeglichen Reiz für ihn verloren. Man konnte sich mittlerweile per SIRI sogar mit seinem iPhone unterhalten, doch leider verriet ihm das elektronische Wunderwerk trotzdem nie, wo es sich gerade befand. Trotz GPS und all dem übrigen Schnickschnack.

      Er blieb kurz stehen. Die Panflöte wurde jetzt zunehmend lauter. Immerhin war es ihm nach unzähligen Versuchen gelungen, einen aufsteigenden Klingelton auszuwählen. Wo hatte er das blöde Ding nur wieder liegen gelassen?

      An der Garderobe wurde er schließlich fündig. Natürlich versteckte sich das iPhone an einem der üblichen Orte: in der Innentasche seines Jacketts. Er zog es heraus und warf einen prüfenden Blick auf das Display. Das schielende Gesicht eines fülligen Mittdreißigers mit schlecht verheilter Akne und rotblonder Jesusfrisur grinste ihm entgegen. Sein alter Kumpel Schotti, wer sonst?

      Reuther drückte auf Annehmen und sagte: „Na, altes Haus. Was …?“

      Weiter kam er nicht.

      „Meine Güte! Du klingst so weit entfernt. Aus welchem Kellerloch hab ich dich denn soeben gezogen?“, dröhnte es ihm entgegen. „Gräbst du gerade auf deinem Herrensitz nach Schätzen deiner Vorfahren oder schachtest du einen Brunnen aus, um noch unabhängiger von uns Normalos hier draußen zu werden?“

      „Nein, ich … ich musste nur erst das blöde Telefon suchen. Ich …“

      „Is ja mal wieder typisch! Andere Leute tragen ihr Handy immer bei sich, weißt du? Das ist recht nützlich, wenn man mal angerufen wird, verstehste? Ein Griff und – Schwupps! – ist man dran!“

      Ich WILL aber gar nicht immer sofort dran sein, dachte Reuther. Stattdessen sagte er: „Keine schlechte Idee. Werde ich mir für die Zukunft wohl merken müssen. Und was verschafft mir die Ehre deines Anrufs, abgesehen von nützlichen Tipps zur Lebensführung?“

      „Was? Ach so, ich wollte dich eigentlich nur fragen, ob du Lust hast, dich heute Mittag mit mir zum Mampfen zu treffen.“

      Zum Mampfen treffen bedeutete bei Schotti stets ein üppiges Gelage in einem Restaurant seiner Wahl. Wenn es jedoch ums Bezahlen ging, durfte dafür gerne sein jeweiliger Gast einspringen. Reuther kannte das füllige Unikum mit der dröhnenden Lache schon seit der Schulzeit, und an dessen chronischem Geldmangel hatte sich bis zum heutigen Tage nichts geändert.

      Er schaute kurz auf seine Uhr. Zwanzig nach elf. „Okay. Und wo gedachte der Herr, zu dinieren?“

      „Was hältst du von der Orangerie? Man hat ne nette Aussicht von dort oben.“

      Reuther musste grinsen. Sein Freund war nicht gerade ein Fan von Dönerbuden oder Fast-Food-Ketten. Die Orangerie war ein bekanntes Café und Restaurant auf den Wuppertaler Höhen in unmittelbarer Nachbarschaft des Botanischen Gartens. Da dort auch mediterrane Küche angeboten wurde, fiel ihm die Entscheidung nicht schwer. Kluger Schachzug, Schotti!

      „Einverstanden. Und wann?“

      „Sagen wir in einer Stunde, okay? Ich bin grad noch in Essen bei einem wahnsinnig interessanten Schulrenovierungsprojekt, aber bis dahin dürfte ich's schaffen.“

      Schotti, der mit richtigem Namen Thorsten Stern hieß, war als Freelance Journalist für diverse kleinere Zeitungen tätig. Nachdem sein ehemaliger Arbeitgeber, Der Velberter Bote, vor drei Jahren Konkurs hatte anmelden müssen, tingelte Stern zwischen verschiedenen Redaktionen hin und her. Die Zeiten waren alles andere als rosig und die wenigen Aufträge, die er überhaupt ergattern konnte, reichten gerade mal aus, um die Kosten für sein Auto zu decken. Der Rest wurde vom ALG II übernommen. Schotti hasste den Ausdruck Hartz IV, aber wie immer man es auch bezeichnete, ohne Stütze kam er einfach nicht über die Runden.

      „Einverstanden“, sagte Reuther. „Dann bis um halb eins in der Orangerie.“

      „See you later, Alligator.“

      „After awhile, Crocodile“, antwortete er automatisch, aber Stern hatte bereits aufgelegt.

      Reuther schüttelte lächelnd den Kopf. Diese blöden uralten Sprüche schienen zwischen ihnen beiden einfach nicht auszusterben. In Schottis Gegenwart erlebte er stets ein beinahe schon unheimliches Zeitphänomen. Sie trafen sich recht unregelmäßig, vielleicht sechs- oder acht Mal im Jahr. Bei dem unsteten Lebenswandel seines Freundes konnte es sogar vorkommen, dass länger als ein Vierteljahr Funkstille zwischen ihnen herrschte. Telefone funktionierten natürlich in zwei Richtungen, doch da Reuther nur in äußersten Notfällen zum Handy griff, fielen ihm die langen Pausen immer erst dann auf, wenn Schotti sich plötzlich wieder einmal bei ihm meldete. Dann konnte es allerdings geschehen, dass sie zwei oder drei Stunden quatschten, oder dass sein Kumpel ihn in einer Woche gleich über ein dutzend Mal kontaktierte. Zu jeder Tages- und Nachtzeit wohlgemerkt. Und jedes Mal stürzte er dabei irgendwie durch einen Zeittunnel, der ihn wieder fünfzehn oder sechzehn Jahre alt werden ließ. Sie waren beide älter geworden, gar keine Frage, aber Thorsten hatte sich etwas Jugendliches, Kindliches, ja sogar verrückt Revoltierendes bewahrt, das aus irgendeinem Grund ungemein ansteckend wirkte. Oft überraschte er ihn mit derart albernen Ideen, wie sie nur ein Teenager aushecken konnte. Klingeltürchen spielen. Oder täuschend echt kopierte Strafzettel hinter die Windschutzscheiben von Falschparkern stecken.

      Manchmal reichte auch nur sein dröhnendes Lachen aus, das wild und hemmungslos durch jeden noch so noblen Saal hallte, um das feste Korsett gesellschaftlicher Konventionen zu sprengen und vornehme Zurückhaltung augenblicklich in ausgelassene Heiterkeit zu verwandeln. Sein alter Schulkamerad besaß die seltene Gabe, jeden in seiner Umgebung sofort alterslos werden zu lassen. Zumindest diejenigen, die sich dafür empfänglich zeigten.

      Reuther ging zurück in sein Büro, wo er etwas in einen blauen Briefumschlag steckte. Dann warf er sich das helle Leinenjackett über, ließ Handy und Umschlag in der Innentasche verschwinden und fischte anschließend die Autoschlüssel von der Ablage.

      Ready to go!

      Er fuhr einen zwölf Jahre alten Golf IV in Blaumetallic. Angesichts seines Bankkontos hätte er sich zwar auch einen Porsche oder Ferrari leisten können, doch er machte sich nichts aus protzigen Nobelkarossen. Hauptsächlich nutzte er den Wagen für Fahrten in die Stadt, zum Einkaufen, für Restaurantbesuche oder um sich mit Freunden zu treffen. Nur zu Lesungen fuhr er gelegentlich etwas weiter. Was sollte er da mit einem Auto jenseits der hunderttausend Euro-Schallmauer? Abgesehen davon, dass diese Designer-Unikate kaum mehr als zwei Personen Ballast zuließen (und vielleicht noch ein Gepäckstück von der Größe eines platt gedrückten Chihuahuas), gelangte man mit ihnen letztendlich auch nur von Punkt A nach Punkt B. Dabei war es noch nicht einmal sicher, ob sie ihr Ziel schneller erreichten, als sein alter Golf.