„Aber irgendwas MÜSSEN wir doch tun“, gab Moppel zu bedenken.
Miri nickte kaum merklich. „Und zwar sehr schnell, denn jeden Augenblick kann oben auf der Straße ein Auto vorbeikommen. Wenn so ein selbst ernannter Samariter aussteigt und uns hier findet, sind wir geliefert. Habt ihr kapiert? Wir alle!“
Trotz der immer noch hohen Temperaturen spürte ich ein Frösteln in meinen Gliedern. „Was schlägst du vor?“, flüsterte ich stockend.
Unser heimlicher Anführer starrte zuerst auf die Leiche, dann fixierte er jeden Einzelnen von uns. „Dem Mädchen hier kann keiner mehr helfen“, begann er. „Das hier ist wirklich verdammt schlimm. Aber niemand von uns hat es gewollt. Es war ein gottverfluchter Unfall!“ Seine Stimme überschlug sich und daher atmete er mehrere Male tief durch, bevor er fortfuhr: „Das Beste ist, wir lassen sie einfach hier liegen. Wir holen das Fahrrad herunter und werfen es irgendwo in die Büsche. Das war's.“
„Das war's?“, schrie Mattes. „Das war's? Du … wir haben dieses arme Mädchen totgefahren und nun wollen wir sie hier einfach im Nirgendwo liegen lassen? Einfach so? Wie einen Sack Abfall?“
Miris Blick wurde hart. „Ja. Genau. So.“
Moppel zog sich plötzlich sein T-Shirt über den Kopf und stapfte den Hang hinauf.
„Wieso ziehst du …?“, begann ich, doch dann begriff ich, was er vorhatte. Oben angelangt umfasste er den Lenker des Rades mit einer stoffumwickelten Hand und schleifte es so zu uns hinunter. Mit dem Schwung eines angehenden Hammerwerfers beförderte er das verbeulte Gestell seitlich in die Büsche.
„Ich glaube, wir sollten jetzt von hier verschwinden“, sagte er beinahe im Plauderton. „Und macht lieber einen größeren Bogen, damit hier nicht alles platt getrampelt wird!“
Wir waren viel zu verdutzt, um etwas darauf zu erwidern. Mit Miri an der Spitze erreichten wir den Rand des Unterholzes, bis wir eine Stelle mit größeren Steinplatten entdeckten. Zügig kraxelten wir dort nach oben und stiegen dann in den Laster. Glücklicherweise war bislang kein anderes Fahrzeug auf uns aufmerksam geworden.
Da der Kia bereits in der richtigen Fahrtrichtung stand, musste Miri nur noch den Motor starten und Gas geben. Niemand von uns verschwendete noch einen einzigen Gedanken an den Biestersee. Die Tour war gelaufen. Eigentlich sogar die gesamten Sommerferien. Wir wussten es zwar noch nicht, aber in dieser Nacht hatte für uns alle ein unheilvoller Countdown begonnen. Irgendwo standen Sanduhren mit unseren Namen darauf. Bei einigen dieser Uhren rauschte der Sand allerdings deutlich schneller nach unten als bei den anderen.
Einige Kilometer vor dem Ortseingang fuhr Miri auf einen Parkplatz, der etwas abseits der Straße lag. Gemeinsam entfernten wir alle Dosen aus dem Innenraum und putzten die Scheiben und die Ablage. Moppel fand sogar einige Erfrischungstücher, mit deren Hilfe wir dem aufdringlichen Biergeruch zu Leibe rückten. Als wir fertig waren, sah der Innenraum des Lasters fast schon zu sauber aus.
„Das müsste reichen“, stellte Miri schließlich fest. „Bis Montag lasse ich einfach die Fenster auf. Mein Alter wird garantiert nichts merken. Außerdem stinkt's hier drin sowieso immer nach Bier.“
Wir brachten den Laster genauso zurück, wie wir ihn abgeholt hatten: ohne Licht und mit ausgeschaltetem Motor. Alles klappte perfekt, obwohl 'perfekt' angesichts des Unfalls die wohl denkbar unpassendste Umschreibung war. Schweigend holten Mattes, Moppel und ich unsere Rucksäcke von der Ladefläche und marschierten in Richtung Trojansberg davon. Keiner von uns flüsterte Miri ein 'Bis dann' zu. Es gab noch nicht einmal die Andeutung eines Abschiedsgrußes. Wir trennten uns wie Fremde … oder wie Freunde, die sich in einer Art Trance befanden.
Am Baumhaus angekommen, hockten wir uns in verschiedene Ecken und versanken augenblicklich in düsterem Grübeln. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, durften wir frühestens gegen zehn Uhr morgens bei unseren Eltern aufkreuzen. Aber niemand von uns machte während der restlichen Nacht auch nur ein Auge zu.
Als wir endlich auf unsere Räder stiegen, sahen wir tatsächlich so aus, als ob wir eine heftige Party am Biestersee gefeiert hätten: bleich und mit dunklen Ringen unter den Augen. Ich hatte noch nie einen richtigen Kater erlebt, doch ich war mir sicher, dass mir auch drei Liter reinsten Alkohols kaum schlechter bekommen wären.
Auf dem Kopf des Trojansbergs hielten wir kurz an. „Also, bis dann, Leute“, murmelte Moppel. Er wartete unsere Antwort erst gar nicht ab, sondern strampelte sofort wie wild die Straße hinunter. Wir starrten ihm hinterher, bis das Rad hinter der ersten Kurve des Ortes verschwunden war.
„Also dann“, sagte auch Mattes und hob lahm seine Hand.
„Also dann.“
Er zögerte. „Man sieht sich. Die Ferien sind ja noch lang.“
„Ja, sicher“, entgegnete ich. „Halt die Ohren steif.“
Obwohl ich mich sehr einsilbig und mürrisch verhielt, hegten meine Eltern keinerlei Verdacht. Sie schoben mein merkwürdiges Verhalten wohl einfach auf typische Teenager-Stimmung, wenn ihnen die Veränderung überhaupt auffiel.
Zu dieser Zeit verbreiteten sich Neuigkeiten noch im Schritttempo, erst recht hier in der Provinz. Aus diesem Grund entdeckte ich auch erst am kommenden Montag einen passenden Artikel in der Lokalpresse. „Fahrradfahrerin auf Landstraße getötet“ lautete die Überschrift. Die Nachricht selbst überraschte mich natürlich nicht, obwohl ich nicht mit einer so schnellen Entdeckung der Leiche gerechnet hätte. Das, was jedoch neben dem Foto der Fundstelle stand, verknotete mir augenblicklich alle Därme: „Am frühen Sonntagmorgen wurde ein Autofahrer, der sich auf der 'BXY' nach Diezing befand, auf den leblosen Körper einer jungen Frau am Straßenrand aufmerksam. Der herbeigerufene Notarzt konnte allerdings nur noch den Tod der Siebzehnjährigen feststellen. Alle Spuren deuten daraufhin, dass das Mädchen Samstagnacht von einem noch unbekannten Fahrzeug erfasst und in den Straßengraben geschleudert wurde. Unter größter Mühe gelang es dem Mädchen dann offenbar noch, wieder zurück zur Straße zu kriechen, wo es aber wenig später seinen schweren inneren Verletzungen erlag. Die Fahndung nach dem Unfallfahrzeug läuft bereits auf Hochtouren. Sachdienliche Hinweise bitte an die Redaktion oder an jede örtliche Polizeidienststelle.“
Immer und immer wieder las ich diese Zeilen. Ich konnte und wollte einfach nicht begreifen, welches Grauen sich hinter dieser kurzen Mitteilung verbarg. Wie durch einen Nebel stolperte ich hinaus in den Vorgarten und hockte mich auf den Stumpf eines abgesägten Birnbaums. Ich weiß nicht, wie lange ich schon dort saß, als Moppel mit dem Rad vorbeikam. „Wir müssen reden“, raunte er mir über den Zaun hinweg zu. „Heute um vier an der Hütte.“
Ich nickte nur stumm. Oh ja, da gab es tatsächlich eine ganze Menge, was besprochen werden musste.
Der Bote der 4M setzte seine Tour fort, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Ich kam eine Viertelstunde vor dem vereinbarten Termin beim Baumhaus an, doch Moppel und Miri erwarteten mich bereits. Offenbar hatten es beide zu Hause nicht mehr ausgehalten.
„Wo ist Mattes?“, raunzte mich Miri zur Begrüßung an.
„Woher soll ich das denn wissen?“, entgegnete ich ähnlich scharf. „Seit wann bin ich sein Aufpasser?“
Für einige Sekunden lieferten wir uns ein grimmiges Blicke-Duell, aber dann wandte sich Miri mit einem genervten Stöhnen von mir ab. „Ist ja auch egal“, sagte er. „Der Grund unseres Treffens dürfte ja wohl allen klar sein. Wir … wir müssen abstimmen, was wir sagen, falls man uns wegen der Nacht befragen sollte.“
„Warum sollte man das denn tun?“, fragte ich erstaunt. „Hat dein Alter etwa Lunte gerochen?“
Miri schüttelte den Kopf. „Nein. Da lief alles glatt. Aber es wäre ja möglich, dass uns jemand im Ort mit dem Wagen gesehen hat. Sehr unwahrscheinlich zwar aber dennoch möglich. Daher müssen wir uns einig sein, falls die Bullen mal nachfragen.“
„Na