Miri nickte und wandte sich dann mir zu: „Und wie sieht's bei dir aus, Mike?“
„Ungefähr so ähnlich wie bei Mattes“, entgegnete ich. „Meine Mutter verträgt das Zeug nicht und mein Vater trinkt nur mal gelegentlich etwas, wenn er draußen in einem Restaurant oder Biergarten ist. Das Hochprozentigste bei uns im Haus dürfte wohl das Parfum meiner Mutter sein.“
„So versessen bin ich auf Alk nun auch wieder nicht“, sagte Miri mit einem schiefen Grinsen. „Ich werde mal versuchen, von meinem Alten ein Sixpack zu zocken. Oder auch zwei. Bei uns stehen so viele Flaschen rum, da kann er unmöglich noch den Überblick haben.“ Er tippte sich mit zwei Fingern an die Schläfe. „Haltet die Ohren steif, Mädels. Und vergesst eure Badehosen nicht.“ Er folgte dem Pfad, der hinauf zum Hauptweg führte. Nach einigen Schritten drehte er sich nochmals zu uns um. „Das wird bestimmt extra-geil am Samstag!“, rief er. „Großes Gonga-Zonga-Ehrenwort.“ 'Gonga-Zonga' war Miris Sammelbezeichnung für Manitou, Zeus, Osiris, Jahwe, Odin oder jedes andere Gottwesen. So weit ich wusste, waren die Adamczyks zwar katholisch, Miri glaubte aber nur an das, was er sehen und anfassen konnte. Die meiste Zeit jedenfalls. Wir kannten zwar damals natürlich die Ausdrücke noch nicht, aber Miri dürfte wohl mehr ein Agnostiker als ein Atheist gewesen sein. Nach seiner Kommunion hatte er jedenfalls um die Kirche einen großen Bogen gemacht; wenn er auch nicht an den einen bestimmten Gott glaubte, so war er doch von der Existenz 'übernatürlicher Mächte' überzeugt. 'Gonga-Zonga' klang vielleicht wie die wilde Kannibalen-Gottheit aus einem John Sinclair-Roman, Miri war es damit aber durchaus ernst. Wenn er etwas in Gonga-Zongas Namen versprach, dann hielt er es auch. Komme, was da wolle.
Alles lief glatt. Meine Eltern hegten keinen Verdacht, als ich sie um eine weitere Nacht im Baumhaus bat. Nur die Clique und ich; einfach abhängen und quatschen. Alles vollkommen harmlos. Jungenzeugs halt.
Wir sollten nur keine 'Dummheiten' anstellen, meinte meine Mutter. Auf die Idee mit Zigaretten und Alkohol kam sie glücklicherweise erst gar nicht. In ihren Augen waren wir ja alle noch unschuldige Kinder. Unschuldig? Wir? Falls wir damals tatsächlich noch Reste von Unschuld besaßen, so sollten wir diese in jener Nacht endgültig verlieren.
Wie üblich war ich kurz nach sechs von zu Hause losgefahren; bevor ich mich aber daran machte, den Trojansberg zu bezwingen, fuhr ich erst noch eine kleine Schleife durch den Ort, die mich zufälligerweise auch an Miris Haus vorbeiführte. Der verbeulte Laster seines Vaters stand hinten in der Auffahrt. Perfekt. Das 'Projekt Biestersee' konnte also steigen.
Da ich wie befürchtet keinen Alkohol hatte auftreiben können, war mein Rucksack von einem Dutzend Cola-Dosen ausgebeult. Mit irgendwas musste man den Stoff schließlich mixen.
Als ich schließlich am Baumhaus eintraf, war ich der Erste; im Laufe der kommenden halben Stunde trudelte dann aber auch der Rest der 4M ein. Stolz präsentierte Moppel seinen Rum, den er in eine Plastikflasche abgefüllt hatte. Wie es sich gehörte, zollte ich ihm gehörig Anerkennung. Tatsächlich erinnerte mich die dunkelgelbe Flüssigkeit aber eher an den Urinbeutel auf einer Krankenstation. Da sah Mattes leicht verstaubte Flasche Bordeaux schon wesentlich ansprechender aus.
Der Einzige, der jetzt noch fehlte, war Miri, doch der war ja auch gerade mit 'gewissen Vorbereitungen' beschäftigt.
Wir vertrieben uns die Zeit mit Mau-Mau oder Fachgesprächen über Fußball und Formel 1. Irgendwann tippte Moppel auf seine Uhr und sagte: „Kurz vor elf. Action, Männer!“
Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, ließen wir unsere Fahrräder an der Hütte und marschierten einfach los. Es war fast Vollmond und so benötigten wir keine Taschenlampen, um den Weg zu finden. Nach nur wenigen Minuten brannte mir bereits der Schweiß in den Augen. Trotz der späten Stunde herrschten noch immer tropisch schwüle Temperaturen.
Als wir den Ort schließlich erreichten, huschten wir von einer Schatteninsel zur nächsten. Außer uns war tatsächlich keine Menschenseele unterwegs, doch es galt trotzdem, jedes Risiko zu vermeiden. Schließlich sollte niemand unseren Eltern verraten, wo wir uns um diese Zeit herumgetrieben hatten.
In Miris Haus war schon alles dunkel. Wir hockten uns deshalb hinter einen Rhododendronbusch gegenüber der Auffahrt und gaben das vereinbarte Signal. Mattes gelang der Ruf eines schläfrigen Käuzchens überraschend gut. Eine Weile lang blieb es still, dann ertönte plötzlich vom Haus her die Antwort.
In geduckter Haltung überquerten wir die Straße. Miri lehnte lässig neben der Fahrertür und klimperte mit den Autoschlüsseln. „Ihr auch hier? Was für'n Zufall!“
Da die Auffahrt nur über ein schwaches Gefälle verfügte und jeder unnötige Lärm vermieden werden musste, schoben wir den Laster mit Miri am Steuer vorsichtig rückwärts auf die Straße. Nervös drehte ich mich immer wieder um, doch im Haus rührte sich nichts. Sicherheitshalber ließ Miri den Wagen sogar noch zwei Häuser weiter rollen, bis er den Motor startete. Wir warfen die Rucksäcke auf die Ladefläche und quetschten uns dann alle gemeinsam vorne auf die Sitzbank.
Angesichts der Tatsache, dass uns ohnehin kein Bulle anhalten durfte, machte sich auch niemand über fehlende Gurte Gedanken.
Schwitzend und nervös starrten wir hinaus auf die finstere Straße. Erst als der Laster das Ortsschild passiert hatte, brach die Anspannung aus uns heraus. Wir schrien und johlten wie ein Rudel tollwütiger Kojoten. Moppel fuchtelte dabei so wild mit seinen Armen, dass Miri arg ins Schlingern geriet.
„Hey, verdammt!“, übertönte er uns alle. „Kommt gefälligst wieder runter, ihr Idioten! Oder sollen wir schon nach drei Kilometern irgendwo im Graben landen?“
Das saß. Verdutzt beobachteten wir, wie der klapprige Kia mehrere große Bögen über die gesamte Fahrbahn beschrieb, bevor er sich endlich wieder auf der richtigen Seite befand. Nur gut, dass es zu dieser späten Stunde kaum Gegenverkehr gab.
„Ist ja schon gut, Paps“, witzelte Mattes. „Dein Fahrstil ist aber auch gewöhnungsbedürftig. Hast du deinen Führerschein eigentlich beim Autoscooter gewonnen?“
Während der nächsten halben Stunde versuchten wir uns, trotz der Enge und unseres übersprudelnden Adrenalins, wie halbwegs zivilisierte Menschen zu benehmen. Miri schaltete das Radio ein und suchte einen Rock/Pop-Sender. Mit Rammstein, Udo Lindenberg und The Cure im Hintergrund holperten wir durch die Nacht.
Alles lief wie am Schnürchen. Kein einziges Auto begegnete uns. Es schien fast so, als ob die Straße an diesem Tag extra für die 4M reserviert worden wäre.
Wir passierten gerade ein Gebiet mit Wiesen und kleinen Fichtenwäldern, als Miri plötzlich Moppel anstupste. „Dreh mal deinen Astralkörper um“, sagte er. „Hinter meinem Sitz hab ich ne kleine Überraschung verstaut.“
Da wir den Bewegungen unseres massigen Freundes auszuweichen versuchten, stimmten wir alle in einen Chor des Stöhnens ein. Plötzlich erschallte ein kieksender Aufschrei hinter uns.
„Ey cool, Mann!“
Moppel rotierte wieder in seine Ausgangsposition zurück und hielt jetzt ein Sixpack Bier in die Höhe. „Das ist doch genau das, was mir mein Arzt verordnet hat.“
„Mir auch!“, riefen Mattes und ich beinahe gleichzeitig.
Moppel zog zwei Dosen aus der Papphalterung und gab sie an uns weiter. „Nur blöd, dass der Fahrer nichts trinken darf“, sagte er grinsend.
Miri versetzte ihm einen Ellbogencheck in die Seite. „Dumpfclown! Dose her, oder du wanderst den Rest der Strecke zu Fuß durch die Pampa!“
Es klang wie das Mündungsfeuer von Schalldämpfern, als wir kurz nacheinander allesamt die Dosen aufrissen. Miri streckte seinen Arm mit dem Bier demonstrativ nach oben. „Auf eine geile Tour und auf die 4M!“
„Auf die 4M!“, antworteten wir im Chor.
„Zapp-Zapp!“
„Zapp-Zapp!“, kam die vielstimmige