Hastig riss ich mein Rad herum und raste nach Hause. Jedes Blätterrauschen klang plötzlich wie ein asthmatisches Keuchen, jedes Knarzen von Ästen verwandelte sich in die schweren Schritte unbekannter Verfolger. Ich verkroch mich auf mein Zimmer und kam selbst für das Mittagessen oder das Abendbrot nicht nach unten. Meiner Mutter erzählte ich etwas von einem verdorbenen Magen. Die Versuche, mich mit Musik oder Comics abzulenken, schlugen allesamt fehl. Irgendwo dort draußen lag der kalte tote Körper meines Freundes. Er wurde vielleicht gerade während einer Obduktion aufgeschnitten. Wie konnte ich da unbekümmert auf dem Bett liegen und ein lustiges Comicheft lesen?
Als es schließlich draußen dunkel geworden war, öffnete ich das Fenster, um ein wenig kühle Nachtluft in mein Zimmer zu lassen. Ich wollte gerade wieder die Gardine vorziehen, als ich eine Bewegung unter mir wahrnahm. Und tatsächlich: Direkt unter meinem Fenster standen zwei Männer. Mitten in unserem Garten. Die Fremden wirkten äußerst schmal und unnatürlich groß. Wie feingliedrige Vogelscheuchen. Und beide starrten sie direkt zu mir hinauf.
Augenblicklich verschloss ich das Fenster wieder, löschte das Licht und zog mich in die hinterste Ecke meines Bettes zurück. Sicher fühlte ich mich auf diese Weise aber noch lange nicht. Die Schattenmänner existierten tatsächlich! Waren es Racheengel oder Dämonen? Oder einfach nur Sonderermittler der Mordkommission? Ich wusste es nicht. Keine Zweifel hatte ich aber bezüglich ihrer Motive: Sie beobachteten uns. Sie jagten uns regelrecht. Aktuell mich, um genau zu sein.
Ein tiefes Grauen erfasste mich. Es lag jenseits von normalen Angstgefühlen. Äußerlich blieb ich vollkommen gelassen. Ich zitterte nicht und mir brach auch kein kalter Schweiß aus. Ich spürte eher so etwas wie eine bleierne Taubheit, die meinen Körper umschloss. Vielleicht, weil alles so unausweichlich schien. Wenn ich an Mattes dachte, schätzte ich meine Chancen, wieder heil aus dieser Sache herauszukommen, als äußerst gering ein. Die Schattenmänner schienen nämlich keine Gefangenen zu machen.
ENDE
Kapitel 5
„… wenn ihr Weg auf dieser endlosen staubigen Straße sein Ende finden würde, dann sollte es zumindest mit dröhnendem Motor geschehen.“
Reuther stöhnte auf. Bereits seit über einer Stunde starrte er schon auf diesen einen Satz, ohne dass ihm auch nur der Hauch einer Idee gekommen wäre. Staubige Straßen? Dröhnende Motoren? Sein Arbeitszimmer war dafür einfach viel zu sauber. Und viel zu still. Wie sollte man da in eine entsprechende Schreibstimmung verfallen? Von jenem viel gerühmten Flow mal ganz zu schweigen. Ohne ein entsprechendes Ambiente funktionierte es einfach nicht. Auf der anderen Seite störte ihn schon das weit entfernte Surren einer Heckenschere. Musik lenkte ihn stets vollkommen ab. Es war ihm ein absolutes Rätsel, wie manche Kollegen ihre Romane bei heftigsten Heavy-Metal-Klängen schreiben konnten. Andere wiederum hatten Familien mit kleinen Kindern, Katzen, Hunden und Papageien und fanden dennoch die innere Ruhe zum Fabulieren. Beneidenswerte Zeitgenossen. Geräusche störten seine Konzentration von jeher und absolute Stille machte ihn ebenfalls wahnsinnig. Na, wenn das nicht die idealen Voraussetzungen für eine Bestseller-Karriere waren.
„Eingebildete Zicke!“, verfluchte er seine Romanheldin in spe zum wiederholten Mal. Seit beinahe vier Wochen raste Nora Bolden nun schon über diese dämliche Schotterpiste. Seit fast einem Monat war der rote Faden seiner Erzählung auf Seite sechsundneunzig plötzlich abgerissen. Fast schien es so, als ob ein sadistischer Bücherhasser die übrigen Seiten einfach herausgerissen und ihm nur den Anfang überlassen hätte.
Vielleicht sollte ich stattdessen besser Tagebuch führen!
Reuther stieß ein raues Lachen aus. Er öffnete sein Silberetui, entnahm ihm eine Zigarette und zündete sie an. Mit geschlossenen Augen genoss er den ersten Zug. Die Wievielte war das heute? Die zehnte oder elfte? Dabei war es noch nicht einmal Mittag.
Na und?
Er stand auf und schlenderte zum Fenster hinüber. Obwohl die Scheiben streifenfrei geputzt waren, wirkte der Garten wie eine alte vergilbte Fotografie. Alle Grüntöne wurden irgendwie von einem sepiafarbenen Schleier überlagert. Während der vergangenen Wochen hatte die Sonne unbarmherzig jedes Leben aus den Pflanzen gebrannt. Die Blumen und Büsche erinnerten ihn an eine lieblose Bühnendekoration. An dilettantisch geformtes Pappmaschee, das nur mit einer dünnen Farblasur überzogen war. Er seufzte. Heute Abend musste er unbedingt daran denken, den Garten ausreichend zu bewässern.
Wenn ich's schon wieder vergesse, sieht's hier bald aus wie in der Mojave Wüste.
Sofort musste er wieder an seine heiß geliebte Romanheldin denken.
„Blödes Miststück!“
Ennio Morricones Panflöte unterbrach seinen neu entflammten Ärger.
Dieses Mal lag das Handy griffbereit neben dem Laptop. Er warf einen kurzen Blick auf das Display, konnte aber mit der dort angezeigten Nummer nichts anfangen.
„Ja?“
„Schprisssschenheim von der …ennntura AG. Spreche ich mit Herrn Markus Reuther?“
Er fragte sich, wieso er niemals den Namen oder die Firma eines Anrufers verstehen konnte, aber grundsätzlich immer diesen dämlichen Spreche-ich-mit … ?-Satz.
„Worum geht's?“, fragte er ungehalten.
„Die …ennntura AG macht Ihnen ein tolles Angebot. Telefon- und Internet-Flat mit bis zu hundert Mbits/s Download für nur …“
„Danke, kein Bedarf!“, unterbrach er die säuselnde Aufzählung und drückte das Gespräch kurzerhand weg. Ein weiterer Nachteil dieser blöden Smartphones bestand darin, dass man noch nicht einmal mehr den Hörer auf die Gabel pfeffern konnte.
„Dämliches Idiotenpack!“, rief er daher eher nutzlos in den Raum hinein. Nervös wischte er mit dem Daumen über seine diversen gespeicherten Kontakte. Beim Bild einer zurückhaltend lächelnden Frau mit fransigem rotbraunen Haar hielt er kurz inne. Eva Falkenberg. Oder Evie, wie ihre Freunde sie nannten. Die winzigen Sommersprossen auf ihrer Nase verliehen ihr einen vorwitzigen Pippi Langstrumpf-Look. Evie besaß eine kleine Boutique im Süden von Düsseldorf. Das „Ibhab“. Ibhab war eine Abkürzung für Ibhabhathane, ein Wort aus der Xhosa-Sprache, das Schmetterling bedeutete. Das Mode-Geschäft warb mit zwei Slogans: Afrikanischer Stil und ökologische Mode. Alle verarbeiteten Stoffe wie die ungebleichte oder farbig gewachsene Baumwolle, Jute, Hanf, Leinen oder Merinowolle trugen außerdem das Siegel Fairwear, was für einen fairen wirtschaftlichen Umgang mit den Ursprungsländern und den dortigen Arbeitern bürgte. Evie legte bei ihren Waren großen Wert auf ökologische Nachhaltigkeit und Handelstransparenz. Sie bezeichnete diese Haltung einfach Mo-Mo. Mode mit Moral. Kein Wunder also, dass auch ihr eigenes kleines Label denselben Namen trug.
Reuther erinnerte sich daran, wie er Eva Falkenberg kennengelernt hatte. Im Grunde war Schotti dafür verantwortlich gewesen. Eine Feuilleton-Kollegin war plötzlich erkrankt und so war dem Freelance-Journalisten die unerwartete Aufgabe zugefallen, für eine Independent-Modenschau gleichzeitig Fotos und einen kurzen Bericht zu fabrizieren. Schotti hatte ihn daraufhin so lange bedrängt, ihn nach Düsseldorf zu begleiten, bis er schließlich zugestimmt hatte. Um des lieben Friedens willen.
Reuther interessierte sich nicht sonderlich für Mode. Eine schwarze Jeans, schwarze Lederschuhe, ein einfaches Oberhemd und ein legeres Leinen-Jackett galten für ihn schon als maximales Zugeständnis an die vorherrschende Etikette. Er hasste Krawatten und er verabscheute grelle Farben. In Anzügen kam er sich wie ein greiser Konfirmand vor, oder wie einer dieser aalglatten korrupten Banker. Nein danke, mit diesem Gesocks wollte er keinesfalls verwechselt werden. Für ihn musste Kleidung in erster Linie