Misstrauisch musterte ich die schmalen Seiten der Gasse und machte mich auf den Rückweg. Nichts geschah; auch mein Fahrrad lehnte weiterhin unangetastet am Zaun. Während ich langsam nach Hause radelte, blickte ich mich immer wieder nervös nach allen Seiten um. Was hatte Mattes nur mit seinem „Nimm dich in acht!“ gemeint?
Die nächsten beiden Tage verliefen zum Glück ohne große Zwischenfälle. Ich verspürte keine Lust dazu, ins Freibad oder hinüber ins Golderbachtal zu gehen und verbrachte meine Zeit daher vor allem mit dem Lesen von Comics und Abenteuerromanen. Ich half meinem Vater sogar beim Bau eines neuen Vogelhäuschens. Von den übrigen Mitgliedern der 4M sah und hörte ich nichts.
Das sollte sich allerdings am Donnerstag schlagartig ändern.
Schon kurz nach dem Frühstück bemerkte ich eine seltsame Unruhe auf der Straße. Nachbarn standen in kleinen Grüppchen zusammen und gestikulierten aufgebracht. Ich hielt natürlich einen gewissen Sicherheitsabstand ein, bekam aber trotzdem mit halbem Ohr mit, dass es wohl einen schlimmen Unfall gegeben hätte. Nur wenige Tage nach dem Tod des jungen Mädchens war offenbar ein weiterer Fahrradfahrer ums Leben gekommen. Fast an derselben Stelle des ersten Unfalls. Obwohl niemand etwas über die genauen Umstände wusste, kursierten bereits Gerüchte über einen Wahnsinnigen, der Jagd auf Radfahrer machte. Sofort musste ich an Miri denken, verwarf die Idee aber im selben Moment wieder. Allein die Vorstellung, Miri mit dem Laster über die Landstraße fahren zu sehen, auf der mörderischen Suche nach einsamen Radlern, war einfach zu abstrus. Total verrückt. Wenn ich nicht aufpasste, bastelte ich mir bald ähnlich wirre Theorien wie Mattes zusammen. Wollte er mich mit seinem „Nimm dich in acht!“ etwa davor warnen?
Ich saß gerade wieder grübelnd auf meinem Baumstumpf, als mich plötzlich Moppels Fistelstimme aufschreckte.
„Treffen an der Hütte. Jetzt gleich! “, verkündete er atemlos. Dicke Schweißperlen standen auf seiner Stirn.
„Jetzt gleich?“, fragte ich verwirrt. „Warum denn? Gibt's was Dringendes?“
Moppel trat schon wieder in die Pedale. „Mattes“, rief er nur zurück.
„Mattes? Was ist mit ihm? Soll ich ihm Bescheid sagen?“
Mein Kumpel schüttelte heftig den Kopf. „Es war Mattes!“, antwortete er und verschwand mit dem Rad in der Nebenstraße.
Es dauerte eine ganze Weile, bis ich verstand oder glaubte, zu verstehen, was Moppel da gerade angedeutet hatte. Doch ich musste mich irren. Das KONNTE einfach nicht wahr sein.
***
Eine seltsame Stille lag über dem Wald. Als ich hinauf zu unserem Baumhaus spähte, hatte ich die verrückte Empfindung, es würde seinerseits zu mir hinabstarren. Wie ein großer Raubvogel oder ein unheimliches Waldmonster. Zum ersten Mal überkam mich an unserem Klubhaus eine Woge des Unbehagens, ja, sogar der Angst. Etwas hatte sich verändert. Eine unbekannte Bedrohung hatte sich in unser schönes Golderbachtal geschlichen und es mit einem Fluch belegt. Alles wirkte auf einmal blasser und dunkler auf mich. Ich wusste auch genau, wann alles seinen Anfang genommen hatte.
Moppel traf etwa eine halbe Stunde später an der Kiefer ein. Sein ohnehin schon schweißglänzender Kopf hatte sich zwischenzeitlich in eine dunkelrote Tomate verwandelt.
„Was soll denn der ganze Aufruhr?“, bedrängte ich ihn, noch ehe er vom Fahrrad gestiegen war.
„Mattes! Er … er ist tot“, keuchte er.
Obwohl er genau das aussprach, was mir schon seit einer Stunde durch den Kopf ging, zeigte ich ihm einen Vogel. „Du spinnst doch!“
„Nein!“, schnaufte er. „Der Fahrradfahrer, der heute Morgen auf der Landstraße ums Leben gekommen ist, war Mattes.“
„Blödsinn! Woher willst du das denn wissen?“
„Ich weiß es von der Kranitz. Und die hat es vom Ebersbächer von der Freiwilligen. Die waren nämlich als Erste am Unfallort.“
„Ich hab gehört, es soll sich genau an der Stelle ereignet haben, wo wir… du weißt schon. Was hatte Mattes denn um diese Zeit da getrieben? Als ich ihn das letzte Mal getroffen habe, hatte er sogar Angst davor, auch nur das Haus zu verlassen.“
Moppel wischte sich einige feuchte Strähnen aus der Stirn. „Es ist genau dort passiert, wo wir …“ Er stockte. „Du weißt schon. Ich habe keinen Schimmer, was er dort gemacht hat.“
„Die Leute reden von einer erneuten Fahrerflucht. Stimmt das?“
„Nee. Der Ebersbächer meinte, es hätte so ausgesehen, als ob Mattes dort einfach vom Rad gestiegen wäre … und …“
„Na ja … was?“
„Und einfach gestorben wäre.“
Wütend schlug ich gegen den Baumstamm. „Was ist denn das für ein Fucksinn? Hey! Mattes war erst dreizehn! Dreizehn, Mann!! Kein Dreizehnjähriger steigt vom Rad und fällt einfach tot um!“
Moppel zuckte nur hilflos mit den Schultern.
Erst jetzt fiel mir auf, dass wir nur zu zweit waren. „Wo ist eigentlich Miri?“
„Hab ihn nicht gefunden“, sagte Moppel. „Das ganze Haus war leer. Keine Ahnung, wo er gerade steckt.“
„So ein verdammter Dreck!“, fluchte ich. „Ich kann es einfach nicht fassen! Mattes … tot. Glaubst du, es hat etwas mit unserem … Unfall zu tun? Der Ort kann doch kein Zufall sein.“
„Schwer vorstellbar“, murmelte Moppel. „Die ganze Sache ist jedenfalls mehr als schräg. Ich dachte schon, es könnte was mit diesen Typen zu tun haben.“
„Von welchen Typen sprichst du da?“
„Na, von diesen 'Schattenmännern', die angeblich in Mattes Garten waren.“
Ich stöhnte laut auf. „Nun fang du nicht auch noch damit an!“
„Nein, hör doch mal zu! Ich hab mir gedacht: Vielleicht existieren diese Typen ja wirklich. Ich meine jetzt keine Besucher aus dem All oder Gespenster, verstehst du? Vielleicht gibt es tatsächlich ein paar finstere 'reale' Kerle, die Mattes beobachtet haben.“
„Und warum hätten sie das tun sollen? Mattes kannte doch keine Staatsgeheimnisse und er war auch nicht gerade Rockefeller. Sein Vater verdient bestimmt nicht schlecht, doch da dürfte es hunderttausend andere Teenager geben, deren Eltern deutlich mehr Kohle besitzen.“
„Hast ja recht“, erwiderte Moppel. „Aber als ich hörte, wo man Mattes gefunden hat, da fing ich halt an, ein wenig rumzuspinnen.“ Er ließ sich schwer auf ein bemoostes Stück Waldboden fallen und vergrub sein Gesicht in den Händen. „Ich weiß doch auch nicht, was ich denken soll. Alles ist plötzlich so sinnlos geworden. So beschissen!“
Das letzte Wort spuckte er förmlich aus. Ich rutschte, mit dem Rücken gegen die Kiefer gepresst, langsam zu Boden. Da hockten wir nun, zwei zutiefst verstörte Jugendliche, die innerhalb von nur wenigen Tagen gleich zwei Mal Bekanntschaft mit dem Tod gemacht hatten.
„Drecks-Sommer!“, war alles, was mir dazu einfiel.
Wir verbrachten noch einige Zeit vor uns hin brütend am Baumhaus und stiegen dann wieder auf unsere Räder. Ohne jedes 'Bis bald!' fuhr jeder seines Weges. Hatte der Unfall mit dem Laster unserer Clique schon einen schweren Schlag versetzt, so war sie nun endgültig zerbrochen. Die 4M existierten nicht mehr.
Ich bemerkte die Schattenmänner zum ersten Mal, als ich in meine Straße einbiegen wollte. Unter dem Blätterdach einer alten Kastanie hatten sie offenbar Schutz gesucht. Zwei äußerst dürre Gestalten, die trotz der Hitze Mäntel und Hüte zu tragen schienen. Vor Schreck bremste ich so stark ab, dass ich beinahe einen Salto über den Lenker