KALLIOPE. Arthur Gordon Wolf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Arthur Gordon Wolf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958351776
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Miri. „Was meinst du, Micha?“

      Ich zögerte. „Ich? Keine Ahnung. Ich dachte eigentlich, wir hätten uns wegen einer anderen Sache hier getroffen.“

      „Was denn für 'ne andere Sache?“, fragte Moppel.

      „Ihr habt doch alle den Artikel gelesen“, sagte ich. „Das Mädchen ist noch bis hinauf zur Straße gekrochen. Verdammt! Sie … sie war noch nicht tot, als wir abgehauen sind. Wenn wir sofort einen Krankenwagen verständigt hätten, könnte sie jetzt vielleicht noch leben. DAS meine ich mit der anderen Sache.“

      „Was soll das, Ebers?“ Wenn Miri mich beim Nachnamen nannte, war er wirklich verärgert. „Die Sache ist aber so gelaufen, wie sie gelaufen ist. Du warst doch selbst dabei! Das Mädel sah toter aus als eine überfahrene Katze. Außerdem atmete sie nicht mehr und hatte auch keinen Puls.“

      'Hast du behauptet', wollte ich fast sagen, 'du hast sie schließlich untersucht, nicht wir!' Ich verkniff mir die Bemerkung aber.

      „Das sieht doch ein Blinder, wie beschissen die Sache gelaufen ist“, fuhr er fort. „Die Tour … einfach alles! Mir tut die Kleine ja auch leid, verdammt! Doch, was passiert ist, ist nun mal passiert. Wir können nichts mehr daran ändern, kapierst du? Vielleicht hätte das Mädchen überlebt, vielleicht aber auch nicht. Das kann doch niemand sagen. In der Zeitung steht etwas von 'schwersten inneren Verletzungen'. Woher willst du wissen, ob nicht so oder so jede Hilfe zu spät gekommen wäre?“ Er atmete tief durch, bevor er weitersprach: „Wir müssen jetzt erst einmal sehen, dass aus diesem Unfall keine komplette Katastrophe wird. Also: Bist du dabei? Wir alle waren Samstagnacht hier. Von sieben Uhr abends bis zehn Uhr morgens.“

      „Ich bin dabei“, sagte ich schließlich, wobei ich allerdings einen dicken Kloß im Hals spürte. „Von sieben Uhr abends bis zehn Uhr morgens.“

      „Und was ist jetzt mit Mattes?“, wollte Moppel wissen.

      Miri fuhr sich mit der Hand durch seine schwarzen Locken. „Ich bleibe lieber noch eine Weile hier, falls er doch noch auftaucht. Ansonsten müssen wir morgen noch einmal bei ihm anklopfen.“

      Damit war alles geregelt. Wir verspürten keine große Lust, einfach so abzuhängen, und daher machten Moppel und ich uns kurze Zeit später wieder auf den Weg. Der Unfall hatte etwas in unserer Clique verändert. Er hatte etwas in uns verändert. Es war so, als ob jeder von uns plötzlich sein wahres Gesicht entdeckt hätte. Eine hässliche Fratze, die man nur ungern anderen gegenüber präsentierte. Erst recht nicht seinen Freunden.

      An der Abzweigung, die zu meiner Straße führte, bog ich spontan rechts statt links ab. Etwas in mir drängte mich einfach dazu, bei Mattes' Haus vorbeizuschauen. Sein Fehlen heute bei dem Treffen war wirklich ungewöhnlich. Normalerweise konnte man sich auf ihn verlassen. Wenn Mattes etwas versprach, dann hielt er es in der Regel auch. Vielleicht hatte er sich ja eine Sommer-Grippe eingefangen.

      Das Haus der Wiegands lag etwas erhöht im nördlichen Teil unseres Bezirks. Anders als bei Miri oder in meiner Straße gab es hier vor allem flache Bungalows und schmucke Zweifamilienhäuser. Wenn sie nicht in ihren Garagen standen, parkten vor allen Häusern Autos der Marken Mercedes, BMW und Jaguar. Auch Porsches und wuchtige Range Rover waren darunter zu finden. Nicht umsonst nannte man das Viertel im Volksmund auch 'Dukatenhügel'. Wer hier wohnte, war entweder Anwalt, Arzt oder Firmenchef. Oder ganz einfach stinkreich.

      Ich erreichte Mattes' Grundstück, das von einem hohen schmiedeeisernen Zaun umgeben war. Allein in seinem Vorgarten hätte mein gesamtes Zuhause dreimal Platz gefunden. Unsicher, was ich machen sollte, spähte ich durch die Gitterstäbe. Auf dem englischen Rasen und zwischen den Rhododendronbüschen bewegte sich nichts. Wenn Mattes wirklich zu Hause war, dann befand er sich entweder hinter dem Haus oder in seinem Zimmer. Notgedrungen betätigte ich die Klingel.

      „Ja?“, kam fast sofort eine kühle geschlechtslose Stimme über die Sprechanlage.

      „Ist Mattes … äh … Matthias da?“

      „Wer will das wissen?“

      „Oh … äh …“, stotterte ich, „hier ist Michael. Michael Ebers. Ich gehe mit Matthias in dieselbe Klasse. Und …“

      „Matthias ist krank“, unterbrach mich die elektronisch verzerrte Stimme.

      „Oh, das tut mir leid“, entgegnete ich. „Kann ich ihn …?“

      „Nein“, wurde ich erneut unterbrochen. „Matthias benötigt absolute Ruhe. Ich werde ihm aber mitteilen, dass du da warst. Auf Wiedersehen.“

      „Auf Wiedersehen“, antwortete ich. „Und gute Besserung für Matthias.“ Meine letzten Worte gingen ins Leere, da die Verbindung schon zuvor mit einem deutlichen KLACK beendet worden war.

      Verwirrt betrachtete ich den Lautsprecher. Hier war etwas oberfaul. Immerhin hatte Moppel Mattes heute Vormittag noch gesprochen und nichts von irgendeiner Erkrankung bemerkt. Ich stand immer noch grübelnd vor dem Tor, als plötzlich ein kurzer Pfiff ertönte. Ich schaute mich um und erblickte Mattes, der mir vom Dachfenster aus zuwinkte. Einen Arm hatte er zur Seite ausgestreckt. „Hinten rum“, raunte er mir zu. Noch bevor ich eine Frage stellen konnte, war er auch schon wieder verschwunden.

      Ich folgte seiner Anweisung und entdeckte einen schmalen Pfad, der zwischen den Abgrenzungen der benachbarten Grundstücke entlangführte. Der Abstand zwischen dem Zaun der Wiegands und einer hohen efeuumrankten Mauer gegenüber war so gering, dass ich mein Fahrrad notgedrungen auf der Straße zurücklassen musste. Mit kleinen Sidesteps quetschte ich mich hindurch. Ein weiterer kurzer Pfiff ließ mich irgendwann innehalten. Dieses Mal erschien Mattes Kopf im seitlichen Flurfenster. „Hier kann niemand mithören“, erklärte er mir.

      „Wir haben beim Baumhaus auf dich gewartet“, sagte ich. „Was ist denn los mit dir? Du siehst überhaupt nicht krank aus.“

      „Ist aber so“, entgegnete er. „Ich … ich fühl mich einfach nicht gut.“ Während er sprach, blickte er sich immer wieder nach allen Seiten um.

      „Wonach suchst du denn?“, fragte ich. „Hast du Angst, deine Eltern könnten uns hier erwischen?“

      „Nein, nein“, wehrte er ab. „Nicht meine Eltern. Es sind eher …“ Er stockte.

      „Es sind eher 'was'?“

      „Die Schattenmänner“, meinte er zögerlich. „Gestern Nacht waren sie wieder hier. Sie belauern mich.“

      'Oh nein!', dachte ich. 'Nicht schon wieder DIE Geschichte.' Nur mit Mühe unterdrückte ich ein Stöhnen. „Aber warum machst du dich deshalb am helllichten Tag verrückt? Ich denke, die Typen erscheinen immer nur in der Dunkelheit.“

      „Das war auch eigentlich so“, bestätigte Mattes. „Aber seit … seit dieser Sache, da … da kommen sie plötzlich auch am Tag. Ganz offen, verstehst du? Ich hab den Eindruck, als ob …“

      „Als ob 'was'?“

      „Als ob sie mich für diese Sache bestrafen wollen.“

      Mir war natürlich sonnenklar, was er mit 'dieser Sache' meinte, alles andere überstieg allerdings meinen Horizont. Was um alles in der Welt hatten seine blöden Schattentypen denn mit unserem Unfall zu tun? Offenbar hatte 'diese Sache' einige Drähtchen in Mattes' Verstand durchschmoren lassen.

      „Aber das ist doch totaler Fucksinn!“, war daher auch meine prompte Reaktion, wobei ich mir wie ganz selbstverständlich Miris Lieblingswort auslieh.

      „Nein, ist es nicht!“, widersprach mir Mattes überraschend scharf. „Die Schattenmänner existieren nicht nur in meiner Vorstellung. Es gibt sie wirklich. Ich weiß nicht, ob es sich um Außerirdische oder Dämonen handelt. Ist mir auch egal. Sie … sie machen mir eine Scheißangst!“

      „Ist das etwa der Grund, weshalb du nicht zum Treffen gekommen bist?“

      Mattes antwortete nicht.

      „Aber wir müssen reden, verstehst du? Es ist wirklich wichtig. Wegen 'der Sache'.“

      Er