Es dauerte eine Weile, bevor sie antwortete: „Wissen Sie, Herr Hauptkommissar, in unseren Kreisen zeigt man nach außen keine Gefühle, wenn Fremde anwesend sind. Was den zweiten Teil Ihrer Frage betrifft: Mir ist im Laufe meines Lebens klar geworden, dass ich meinen Mann nicht wirklich gekannt habe. Ich weiß nicht viel über seine Aktivitäten, hatte aber in den letzten Wochen ein ungutes Gefühl, dass ihn irgendetwas stark beschäftigte – bedrückte würde seine Stimmung wohl präziser zum Ausdruck bringen.“
„Haben Sie ihn darauf angesprochen?“
„Nein, er hätte mir eine Antwort eh verweigert.“
„Hatte Ihr Mann unter den Bediensteten oder Mitarbeitern einen Vertrauten, der ihm vielleicht bei einer Selbsttötung, was immer der Grund dafür hätte sein mögen – vielleicht eine unheilbare Krankheit –, die Gefälligkeit einer Begleitung erwiesen hätte?“
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Er war von Natur aus ausgesprochen misstrauisch und nur wenig zugänglich. Ich denke, dass er mir gegenüber eine Erkrankung zumindest erwähnt hätte.“
„Können Sie seine Bedrückung, wie Sie es nannten, an einem Zeitpunkt oder einem bestimmten Ereignis festmachen?“
„Darüber müsste ich nachdenken …“
Sie brach ab, versank in Gedanken.
„Nun, es gibt da ein Datum. Das kann aber ebenso reiner Zufall sein.“
„Ja?“
„Mir scheint auf dem Schulfest des Schiller-Gymnasiums möglicherweise etwas vorgefallen zu sein.“
„Ein Schulfest? Was haben Sie damit zu tun? Sind Sie oder Ihr Mann dort zur Schule gegangen – oder Ihre Kinder?“
„Nein, ich bin in Argentinien aufgewachsen, und Kinder hat mir das Schicksal leider keine geschenkt. Was wir dort zu tun hatten? Das ehemalige Jungengymnasium hatte endlich, der Zeit gemäß, die Co-Edukation eingeführt und arbeitet seit einem halben Jahr außerdem eng mit der Kunsthochschule zusammen, wo ich als Kuratoriumsmitglied des Fördervereins ein paar Aufgaben innehabe. Entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten hatte mein Mann sich – sehr zu meiner Überraschung – bereit erklärt, ein Referat über das Mäzenatentum in der Kunstszene zu halten, das im Übrigen auf große Beachtung stieß. Während der Veranstaltung habe ich ihn wegen meiner Pflichten die meiste Zeit aus den Augen verloren. Auf der Rückfahrt war er ungewöhnlich einsilbig, noch einsilbiger als sonst, wobei ich mir jedoch nicht viel gedacht habe. Seine Schweigsamkeit musste ja nicht zwangsläufig mit dem Schulfest zu tun haben, war dennoch aber auffällig, zumal er sich auf der Hinfahrt völlig anders, ungewöhnlich locker gegeben hatte. Wenn er sich über etwas Gedanken machte, zog er sich meistens völlig in sich zurück, wie eine Schnecke in ihr Haus. Ich habe ihn dann immer in Ruhe gelassen, da ich wusste, dass er sich mir nicht anvertrauen würde.“
„Welche Verbindung haben Sie denn zu der Kunsthochschule, wenn ich fragen darf? Reines Mäzenatentum?“
„Nein, nicht nur, aber das auch. Nach meinem Abitur habe ich Musik und später Kunstgeschichte studiert, habe sogar einige Jahre im Sinfonieorchester von Buenos Aires Cello gespielt, mich allerdings nach meiner Heirat aus dem Musikgeschäft zurückgezogen. Die Kunst liegt mir aber nach wie vor am Herzen.“
„Die Frage, ob Ihre Ehe glücklich war, erübrigt sich wohl?“
„Eigentlich geht Sie das nichts an und hat auch sicher nichts mit dem Tod meines Mannes zu tun. Unter diesen Umständen will ich aber darauf antworten, damit Sie keine Veranlassung sehen, überall herumzustochern und Gesellschaftsklatsch anzufachen …“
Frau von Saersbeck ließ eine Pause entstehen, in der offenbar einige Szenen ihrer Ehe vor ihrem inneren Auge abliefen. Cernik wartete geduldig, ohne seinen Blick von ihr abzuwenden. Sein Jagdinstinkt war erwacht, er versuchte in den Reaktionen seiner Gesprächspartnerin zu erkennen, was ihre Antworten ihm unterschlugen, falls sie einen Versuch dazu unternahm.
Unvermittelt nahm sie den Gesprächsfaden wieder auf: „Wie alle Menschen, die länger zusammenleben, haben wir uns ein wenig entfremdet. Leider existiert nicht das starke Bindeglied, das gewöhnlich Kinder bilden. Zudem haben uns allerlei unterschiedliche Verpflichtungen in den letzten Jahren immer häufiger genötigt, getrennte Wege zu gehen, abgesehen von seinen zahlreichen Geschäftsreisen. Nach dem Schulfest zum Beispiel habe ich ihn kaum länger als eine Viertelstunde pro Tag zu Gesicht bekommen.“
„Wann haben Sie geheiratet?“
„1950.“
„Wo und wie haben Sie sich kennengelernt?“
„1946 in Argentinien. Meine Familie hatte sich gegen Ende des Zweiten Weltkriegs dorthin auf das Gut des jüngeren Bruders meines Vaters zurückgezogen. Frieder, mein Mann, tauchte eines Tages dort auf. Vor allem mein Vater schien sofort einen Narren an ihm gefressen zu haben. Er besorgte ihm einen Job in unseren Unternehmungen und nahm ihn mehr oder weniger in die Familie auf und unter seine Fittiche.“
„Moment bitte … Sie sind eine von Saersbeck?“
„Oh, das wussten Sie nicht? Ja, ich bin eine Saersbeck. Frieder, eigentlich heißt er Friedrich, nahm vor der Hochzeit auf Wunsch meines Vaters den Namen unserer Familie an. Das Unternehmen, wissen Sie. Mir wurde er mit dem Familiennamen Brockhuis vorgestellt.“
„Brockhuis?“
„Ja, so nannte er sich. Allerdings sind Namen Schall und Rauch, das weiß ich, auch dass in jener Zeit in Argentinien mancherlei im Dunst der Pampa verweht wurde.“
„Wie kam er nach Argentinien?“
„Er hatte im Krieg seine Familie verloren, so erzählte er zumindest, und fand Arbeit auf einem Frachter. Irgendwie ist er in Buenos Aires hängen geblieben und zufällig meinem Vater über den Weg gelaufen.“
„Sind Sie sicher, dass die Begegnung auf purem Zufall beruhte?“
„Heute nicht mehr, wenn Sie mich so direkt darauf ansprechen.“
„Wissen Sie, was er im Krieg gemacht hat?“
„Darüber weiß ich nichts, und das hat mich, ehrlich gesagt, auch nie interessiert. Der Krieg und auch Deutschland kamen mir zu jener Zeit zu weit entfernt vor, wie am anderen Ende der Welt. Mein Vater wird sich wohl ausgiebig über Frieders Vergangenheit erkundigt haben, bevor er unsere Hochzeit gutgeheißen und seinen Schwiegersohn in die Unternehmensleitung eingeführt hat. Jedenfalls bin ich davon immer ausgegangen. Er pflegte niemals etwas dem Zufall überlassen. Abgesehen davon konnte Frieder ausgesprochen charmant sein, wenn er wollte. Somit ist es ihm seinerzeit gelungen, mich sehr von sich einzunehmen.“
Cernik spürte ein Signal, wie immer, wenn sein Instinkt ihn auf eine Spur aufmerksam machen wollte. Sollte etwa das Motiv der Tat in die Vergangenheit reichen? Er nahm sich vor, auch in dieser Richtung zu recherchieren, eine Aufgabe, in die sich seine Assistentin mit Begeisterung hineinstürzen würde.
„Eine letzte Frage fürs Erste, gnädige Frau. Hatte Ihr Mann Feinde?“
„Ach, wissen Sie, Herr Hauptkommissar, in einer Position, wie er sie bekleidete, hat niemand nur Freunde. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass es jemanden gab, der ihm nach dem Leben trachtete, denn dazu gehört doch wohl mehr als Missgunst. Frieder regelte gewöhnlich alles mit Geld und machte seine Feinde von sich abhängig. Für ihn zählten nur materielle Werte.“
„Welcherlei Geschäfte betreibt die INTERSTAHL, so heißt doch wohl Ihre Holding, eigentlich?“
„Ich bin ins Geschäftliche nicht im Detail involviert. Wenn das für Sie von Belang ist, sollten Sie mit meinem Bruder sprechen.“
„Das werde ich sowieso noch tun.“