Treffpunkt Hexeneiche. Claus Karst. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Claus Karst
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738051018
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wie Alexander der Große den berühmten gordischen. Hätte er das Telefongespräch mitbekommen, das der Staatsanwalt entgegennahm, nachdem er ihn gerade verlassen hatte, so wäre er in der Lage gewesen, seine Ermittlungen bereits auf eine bestimmte Richtung hin zu fokussieren.

      Schneider schrak zusammen, als der rechte der beiden Telefonapparate, die auf seinem Schreibtisch standen, einen Anruf meldete. Er nahm den Hörer ab, ohne seinen Namen zu nennen, denn nur ausgewählte Anrufer benutzten die Geheimleitung. Am anderen Ende meldete sich eine tiefe Stimme, ebenfalls ohne Namensnennung.

      „Wir haben einen guten Freund verloren, der sich selbst in Schwierigkeiten gebracht hat. Er hatte noch nie starke Nerven. Wen haben Sie in diesem Fall mit den Ermittlungen betraut?“

      „Cernik.“

      „Verdammt, musste das sein? Warum gerade Ihr bester Mann? Konnten Sie keinen Anfänger damit beauftragen?“

      „Ich weiß genau, wie Cernik arbeitet und denkt. Besser er als jemand, den ich weniger gut einschätzen kann.“

      „Wenn Sie meinen … Das gefällt mir aber ganz und gar nicht. Wir werden Ihren Ermittler von nun an im Auge behalten. Und merken Sie sich: Falls die Sache aus dem Ruder läuft …“

      Bevor Schneider bestätigen konnte, dass er verstand, hatte der Anrufer aufgelegt.

      Verdammt, fluchte er und versuchte gegen seine Beklommenheit anzukämpfen. Am ganzen Körper zitternd, ließ sich in den Sessel fallen, wo er noch eine Weile wie in Trance sitzen blieb. Er genehmigte sich zwei Gläser Cognac, den er hinter einem Aktenordner versteckt hielt. Erst als er sich beruhigt hatte, machte er sich auf den Weg nach Hause.

      Cernik fuhr gemächlich heim. Seine Gedanken wirbelten unterwegs mehr als sonst, aber er widmete dennoch dem starken Straßenverkehr seine volle Aufmerksamkeit. Er fuhr gerne Auto, trotz des immer stärker anwachsenden Verkehrs, besonders, nachdem er sich einen getunten BMW 2002 zugelegt hatte, mit dem er ohne Weiteres an Rallyes hätte teilnehmen können. Er stellte sein Fahrzeug vor seinem Wohnhaus am Straßenrand ab, obwohl er eine Garage besaß, stieg die Treppen zu seiner Wohnung hoch und erwischte sich dabei, aus der Diele seiner Wohnung völlig gedankenlos „Anna, ich bin da!“ zu rufen.

      Einmal mehr vergegenwärtigte er verdrossen, dass Anna ihn verlassen hatte. Erst nach der Trennung war ihm mit aller Deutlichkeit aufgegangen, wie sehr sie ihm fehlte. Sie hatten zwar in letzter Zeit meistens abends nicht sehr viel miteinander gesprochen, wenn er spät und müde vom Dienst nach Hause kam, zumal er sie nicht mit beruflichen Problemen belasten wollte, doch hatten sie zusammen in stillschweigendem Einvernehmen auf dem Sofa gesessen und zumindest ihre Gegenwart gespürt. Allerdings hatte er schon lange keine Gedanken mehr daran verschwendet, wie sie sich das Zusammenleben mit ihm vorstellte und welche Wünsche auf der Strecke blieben.

      Anna hingegen hatte versäumt, mit ihm in aller Offenheit dieses heikle Thema anzusprechen. Sie arbeitete halbtags bei einer Bank, füllte dort einen gut bezahlten Job aus und konnte das verdiente Geld für Kleidung und sündhaft teure Unterwäsche ausgeben, ohne dass es deswegen je zu Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen gekommen wäre.

      Zu Beginn ihrer Beziehung hatten sie fast jeden Tag Sex miteinander gehabt. Sie konnten beide nicht genug voneinander bekommen, besonders Anna hatte sich immer wieder neue Spiele im Bett und wo auch immer einfallen lassen, um sich aneinander und den Partner zu erfreuen. Sie kam ihm wie eine Liebesgöttin vor, er hatte nie den Wunsch verspürt, auf andere Frauen einzugehen, obwohl es ihm an unzweideutigen Angeboten nie gemangelt hatte. Anna und er schienen füreinander in jeder Hinsicht bestimmt zu sein. Niemals hätte er sich träumen lassen, dass eines Tages auch in ihre Ehe der triste Alltag Einzug halten könne. Im Laufe der Zeit reduzierte sich jedoch sein sexuelles Verlangen immer mehr, weil sein Beruf ihm ein Zuviel seiner Energie abverlangte, ihn körperlich auslaugte.

      Während seine zahlreichen Fälle ihn im Laufe der Zeit ermüdeten, das Böse in der Welt Narben in seine Seele meißelte und Spuren in seinen Gedanken hinterließ, konnte Anna sich vor Avancen kaum retten. In der Bank galt sie als Sexsymbol wie die berühmten Filmstars ihrer Zeit, obwohl sie ihrem Leo bis vor Kurzem standhaft die Treue gehalten hatte. Es war ihr gegeben, mit ihrer natürlichen Ausstrahlung und einem verführerischen Augenklimpern die Männerwelt verrückt zu machen. Ihre Art, sich zu bewegen, auch sich zu kleiden, weckte Männerfantasien. Sie dachte sich nicht viel dabei, sie war eine geborene Verführerin, ohne derlei Absichten zu hegen. Jeder Mann, der sie missverstand und ihr zu nahe rückte, konnte sich einer Abfuhr gewiss sein, die er so schnell nicht vergessen würde. Das nächste Mal würde er mehr Feingefühl im Umgang mit ihr walten lassen.

      Cernik bekam von alledem so gut wie nichts mit. Nachts lag Anna in seinen Armen, bedeckte ihn mit Küssen, verwöhnte ihn sinnlich, ohne jede Scham, und beglückte ihn, als hätte sie eine himmlische Liebesschule durchlaufen. Er war stolz, mit solch einem Geschöpf verheiratet zu sein. Zudem war Anna nicht nur eine Meisterin der Liebeskunst, sondern auch eine der Küche, was sie mangels Gelegenheit allerdings nur selten demonstrieren konnte. In einem Satz: Anna war als Partnerin schlichtweg perfekt, eine gute Hausfrau mit Sinn fürs Schöne, eine Freundin zum Gedankenaustausch und eine göttliche Geliebte, in jeder Hinsicht eine Frau zum Vorzeigen. Alle seine Bekannten beneideten ihn um sie.

      Das Glück schien sein Füllhorn über ihre Verbindung ausgeschüttet zu haben, zumindest bis zu jenem Tag, als er Annas nächtliche Annäherung zum wiederholten Mal nicht wahrnahm, weil er bereits eingeschlafen war. Es wollte der Zufall, dass sie am nächsten Tag einen neuen Kollegen erhielt, der nicht nur wie ein Filmschauspieler aussah, sondern auch mit einem sensiblen Gespür für unbefriedigte Frauen ausgestattet war. Als er Anna zum ersten Mal tief in die Augen schaute, war’s um sie geschehen, was bisher fernab ihrer Vorstellungskraft gelegen hatte. Der Verdruss über den Zustand ihrer Ehe spülte sich mit einem Mal an die Oberfläche ihres Bewusstseins. Bereits am ersten Abend, als ihr Kollege sie zu einem Abendessen in ein feines Lokal eingeladen hatte, landete sie, ohne sich innerlich dagegen aufzulehnen, nach reichlichem Genuss von Champagner in seinem Bett, wo sie alle Hemmungen abwarf. Er erwies sich als dankbarer Empfänger ihrer Künste und zeigte ebenfalls ein bemerkenswertes Talent auf diesem Gebiet.

      Leo, der sich zu Hause in die Akten eines neuen Falles einlas, hatte verloren und noch nicht einmal eine Chance besessen, gegen seinen unbekannten Nebenbuhler anzukämpfen. Wenige Tage später verließ Anna ihn, ohne Rücksicht auf die harmonischen Tage ihrer Ehejahre zu nehmen. Sie vermeinte, nunmehr den Partner gefunden zu haben, der für sie vom Schicksal vorgesehen war, um aufzuleben wie eine schöne Orchidee, ein Partner, der nicht nur nahm sondern auch zu geben bereit war.

      Cernik betrachtete mit Entsetzen die Unordnung in seiner Wohnung. Er hasste im Grunde jegliches Durcheinander, kam aber nur an seinen freien Tagen dazu, Ordnung zu schaffen. Ein Blick ins Gefrierfach seines Kühlschranks zeigte ihm an, dass noch eine Pizza Tonno vorrätig war. Er nahm sie heraus und legte sie in die Mikrowelle. In der Abstellkammer fand er noch eine ungeöffnete Flasche Bordeaux und entkorkte sie. Als die Mikrowelle ihn durch ein Klingeln die Pizza als zubereitet meldete, setzte er sich mit ihr und dem Wein an den Küchentisch, ergriff die Tageszeitung, die zu lesen er am Morgen nicht mehr geschafft hatte, und nahm sein Abendbrot ein. Anschließend stellte er den Teller in die Spülmaschine, suchte in seiner Musiksammlung, fand nach einigem Suchen die Schallplatte, nach der er Ausschau gehalten hatte, legte sie auf und lümmelte sich mit der Weinflasche und dem Glas in seinen Fernsehsessel. Aus seiner Musikanlage, die er oft so laut aufdrehte, dass die Nachbarn ebenfalls in den Musikgenuss kamen, ertönte die Ouvertüre zu Leoncavallos Meisterwerk Pagliacci. Cernik lehnte sich zurück und ließ mit der Musik das dramatische Geschehen der Oper vor seinen Augen ablaufen. Plötzlich spürte er eine rasende Eifersucht aufsteigen, wie bei Canio, dem Bajazzo in der Oper. Ein Gefühl gewann die Oberhand, das ihm aus seiner täglichen Arbeit nur allzu bekannt vorkam und ihm einflüsterte, dass sein Nebenbuhler den Tod durchaus verdient habe. In diesem Moment wäre er bereit gewesen, dem Liebhaber von Anna aufzulauern und seinen aufgestautem Hass mit einem Messer mitten in dessen Herz zu stoßen. Gerade als Canio seine berühmte Szene „Recitar! … Mentre preso dal delirio …Tu se’ Pagliaccio …“ („Jetzt spielen …“) beendet hatte, läutete sein Telefon. Er wunderte sich, denn seine Telefonnummer war in keinem Telefonbuch verzeichnet