„Also doch … Na gut, dann werde ich mich mal auf den Weg machen. Bis später.“
Mit diesen Worten knallte Cernik den Hörer auf die Gabel und nahm Blickkontakt mit seiner Assistentin auf, die dem Gespräch aufmerksam gefolgt war und fragend ihre Stirn runzelte.
„Wo ist Klein hin?“, fragte Cernik.
„Eigentlich wollte er nur nachsehen, ob Sie schon im Hause sind, Chef. Soll ich ihn suchen gehen?“
„Nicht nötig. Weißt du, welche Kollegen zum Tatort geschickt worden sind?“
„Außer der Spurensicherung Kowalskis Männer von der Schutzpolizei und zwei Beamte mit Suchhunden, soviel ich weiß.“
„Hoffentlich machen die nicht die ganze Umgebung aufmerksam und halten uns die Presse vom Hals. Schneider legt großen Wert darauf, wie du sicherlich soeben bei dem Telefonat mitbekommen hast, dass nichts an die Öffentlichkeit gelangt. Er hat immer gut reden.“
Cernik war sauer auf den Staatsanwalt. Schneider mauerte, dessen war er sich sicher. So schnell ließ er sich nichts vormachen. Verdrießlich erhob er sich, nahm sein Jackett von der Garderobe und blieb grübelnd am Schreibtisch stehen, als ob er auf eine Erleuchtung wartete.
Ungestüm, wie es seine Art war, platzte Kommissar Klein zurück ins Büro und schimpfte los: „Der Kaffeeautomat funktioniert wieder mal nicht. Wie soll ich nur einen klaren Kopf zum Denken bekommen?“
„Der ist dir weder mit noch ohne Kaffee eigen, Willy. Hast Pech mit deinen Genen“, flachste Cernik grinsend und ließ seinen hintergründigen Humor für einen Moment aufblitzen. „Komm, wir haben zu tun! Ich erzähl dir unterwegs, was anliegt. Wir nehmen meinen Wagen.“
Im Hinausgehen wandte er sich an Inga mit der Frage: „Hast du sonst noch irgendetwas für mich?“
Sie verneinte mit einem Kopfschütteln.
„Sie für mich, Chef?“
„Hm, eigentlich nicht. Doch. Stell mir bitte mal alles zusammen, was du über die Familie Saersbeck und deren Unternehmungen herausfinden kannst.“
„Wird gemacht, Chef.“
Die beiden Kommissare verließen ihr Büro. Ohne Eile stiegen sie die Treppen aus der dritten Etage hinab und begaben sich zu Cerniks BMW, wo sie bereits von dem wutschnaubenden Wagenbesitzer erwartet wurden, den Cernik zugestellt und am Wegfahren gehindert hatte.
„Machen Sie das immer so? Unverschämtheit!“, schimpfte er los, als er die Kommissare kommen sah. „Ich werde mich über Sie beschweren. Sie wissen wohl nicht, wen Sie vor sich haben?“
Cernik grinste ihn wortlos an, ignorierte die Beschimpfungen und sagte beiläufig: „Solange Sie sich nicht vorgestellt haben, natürlich nicht. Ehrlich gesagt, interessiert es mich auch nicht.“
Klein flüsterte dem Aufgebrachten zu: „Seien Sie lieber vorsichtig! Der Kollege ist berüchtigt dafür, schon ganz andere für nichts in eine Zelle gesteckt zu haben. Mit ihm würde ich mich an Ihrer Stelle nicht anlegen.“
Schmunzelnd stiegen die Kommissare in den Wagen. Nachdem sie auf der Fahrt zum Stadtwald eine Zeit lang geschwiegen hatten, konnte Klein seine Neugier nicht mehr verbergen.
„Jetzt erzähl schon! Was ist passiert?“
„Wenn ich das mal selbst wüsste. Im Stadtwald ist ein Mann erhängt aufgefunden worden. Schneider vermutet oder weiß sogar, dass es sich um jemanden handelt, den er – vorsichtig ausgedrückt – kennt oder zu seinem oder dessen Bekanntenkreis gehört. Mehr konnte ich aus ihm nicht herauslocken, doch waren seine Gedanken durchs Telefon nicht zu überhören. Irgendetwas gefällt mir an dieser Sache nicht, denn ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er sehr viel mehr weiß, und ich hasse es, wenn mir jemand, besonders ein Vorgesetzter, Informationen vorenthält.“
„Dein berühmter Löweninstinkt, Leo?“, feixte Klein.
„Du sagst es, du sagst es, mein Freund und unverzichtbarer Partner.“
„Wenn du weiter so schmeichelst, werde ich gleich so breit, mein Bester, dass für dich kein Platz mehr im Wagen ist! Womit habe ich das verdient? Du bist doch sonst nicht so großzügig mit Komplimenten“, fragte Klein erstaunt.
Cernik überhörte die Frage. Schweigend setzten sie ihre Fahrt in Richtung Stadtwald fort. Dort befand sich die Villa, in der die Familie von Saersbeck residierte und wo ansonsten kein Normalsterblicher eine Baugenehmigung erhalten würde, wie Cernik wusste. Um die Jahrhundertwende war das Gebäude errichtet worden, inzwischen umzäunt und mit modernsten Sicherheitsvorkehrungen versehen. Die Saersbecks waren bekannte Stahlhändler mit einer weitläufig verzweigten Unternehmensstruktur und weltweiten Verbindungen. Die Familie vermied jedoch so weit wie möglich, öffentlich in Erscheinung zu treten.
Cernik fuhr einen Waldparkplatz an, der sich in der Nähe der Hexeneiche befand und gerne von Spaziergängern, meistens solchen, die ihre Hunde ausführten, benutzt wurde. Bei seinem Eintreffen stellte er mit Genugtuung fest, dass bereits das gesamte Areal weiträumig abgesperrt worden war und sich auch keine Schaulustigen eingefunden hatten. Er wurde bereits von einem Wachtmeister erwartet, der seine Hand zum Gruß an die Mütze legte. Über ein Funkgerät informierte der Wachtmeister Einsatzleiter Kowalski über die Ankunft der Kommissare, wies mit seinem Arm auf einen Fußpfad und sagte: „Dort den Hügel müsst ihr rauf, dann seht ihr schon.“
Die Kommissare stiegen den Pfad hinauf und beobachteten aufmerksam die Umgebung, damit ihnen auf dem Weg zum Tatort nichts entging. Oben angekommen, erwartete sie bereits ungeduldig Polizeimeister Kowalski.
„Morgen, Kollegen, wird aber auch Zeit, sonst fällt uns der noch runter.“
„Soll das heißen, er hängt noch?“, fragte Cernik.
„Ja, der merkt doch nichts mehr davon, und den Anblick wollten wir dir auch gönnen, Cernik. Außerdem hat der Staatsanwalt gesagt, du sollst dir den Kerl genau angucken. Die Spurensicherung ist noch nicht fertig mit ihrer Arbeit. Der Doktor ist auch noch nicht aufgetaucht.“
Kowalski zeigte auf die mehrere hundert Jahre alte Eiche, die im Volksmund den Namen Hexeneiche trug, die wehrhaft den Gipfel des Hügels beherrschte und deren Stamm sich majestätisch in den Himmel reckte. Bereits in längst vergangenen Zeiten, so wollen Legenden wissen, soll ihr knorrig ausladendes Astwerk mehr als einem Individuum als Galgen zu einem neuen Lebensabschnitt verholfen haben – der Glaube an ein Leben nach dem Tod vorausgesetzt. Bis in die Gegenwart hielten sich hartnäckige Gerüchte, dass die Geister der zu Tode Gekommenen – besonders in Vollmondnächten – dort ihr Unwesen trieben und jedermann erschreckten, der um diese Tageszeit noch im Wald unterwegs war.
An einem der gewaltigen Äste des Baumes hing ein Mann mit einem Strick um den Hals. Trotz des schummrigen Lichts, das durch die dichte Belaubung fiel und dem Ort jene gespenstische Ausstrahlung verlieh, um die sich seit Menschengedenken die unzähligen geheimnisumwitterten Geschichten rankten, war unschwer zu erkennen, dass um seinen Hals eine Schlaufe mit einem fachmännischen Henkersknoten verzurrt war.
Der Mann, so schätzte der Kommissar, war fünfzig bis sechzig Jahre alt, wies eine schlanke Figur auf und trug seine blonden Haare mit Seitenscheitel kurz geschnitten. Aus seinem Gesicht quollen die Augen ungläubig hervor, als hätte er nicht nachvollziehen können, was mit ihm geschah. Bekleidet war er mit einem dunkel gestreiften Maßanzug, dessen Hose sich durch einen biologischen Vorgang verfärbt hatte, der sich beim Erhängen nicht vermeiden lässt, sowie einem offen getragenen weißen Oberhemd und teuren englischen Schuhen.
Hauptkommissar Cernik betrachtete die Szene eine Weile.
„Der gehört zweifellos nicht der Gesellschaft armer Leute an“, stellte er nüchtern fest. Darauf richtete er an Kowalski die Frage: „Wer hat ihn gefunden?“
„Ein Spaziergänger, der seinen Hund Gassi führte, obwohl es hier keine Gassen gibt. Der bringt aber gerade mal den Köter weg, weil der zu unruhig war, meine Männer andauernd ankläffte und ansprang.