Treffpunkt Hexeneiche. Claus Karst. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Claus Karst
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738051018
Скачать книгу
Leben sogar im Rollstuhl beenden musste.

      Cerniks Mutter entstammte einer armen halbjüdischen Familie, die sich so unauffällig wie möglich durchs Leben schlug. Sie war zwar im Rahmen des rassistischen Ausleseprozesses von den Nazibehörden aufs Korn genommen worden, zumal sie als Ehefrau eines fragwürdigen Sozialdemokraten ebenfalls als bedenklich einzustufen war, doch wollte ein gütiger Zufall, dass ihre Akte verlegt wurde. Erst 1944 gelangten ihre Unterlagen durch die Denunziation einer immer noch verblendeten Nachbarin wieder ans Tageslicht. Daraufhin wurde sie noch Ende 1944 in das Konzentrationslager nach Dachau verbracht, wo sie ein halbes Jahr später befreit wurde, von wo sie aber völlig gebrochen heimkehrte und bald darauf verstarb.

      Cernik sah immer wieder, so auch jetzt, die großen sprechenden Augen seiner Mutter vor sich, als wollten sie ihn auf etwas Wichtiges hinweisen, wie so oft, wenn er einen Rat benötigte. Er nahm ihre Botschaft brav zur Kenntnis und fühlte sich in seinen Vermutungen bestätigt. Besonders, wenn Dinge die Vergangenheit berührten, erschien sie ihm, als wenn sie noch lebte, und er fühlte, wie ihre von harter Arbeit rauen Hände liebevoll über seinen Kopf streichelten.

      Nie hatte er vergessen können, was ihm in seiner Kindheit widerfahren war. Er hielt seine Erinnerungen in Ehren. Trotz der bescheidenen Verhältnisse, in denen er aufgewachsen war, und der Unbilden, die der Krieg mit sich gebracht hatte, war es ihm als ausgesprochen fleißiger und strebsamer Schüler gelungen, die Schule mit dem Abitur abzuschließen. Danach war er zwar noch im letzten Kriegsjahr zur Wehrmacht eingezogen worden, doch schon nach wenigen Tagen in französische Gefangenschaft geraten und nach dem Krieg sofort freigekommen. Sein Leben lang war er seinen Eltern dankbar für ihre Opferbereitschaft, die ihm die Basis für eine Berufslaufbahn nach seinen Wünschen errichtet hatte.

      In jungen Jahren schon hatte er sein eigenes Bild von Gerechtigkeit entwickelt und die Berufung verspürt, an der Errichtung einer Welt mitzuarbeiten, in der alle Menschen gleich behandelt werden, ohne Ansehen ihres Standes und Bankkontos, in der Verhältnisse wie in der Nazidiktatur keinen Platz hatten. Als Polizeibeamter glaubte er, am besten der Gerechtigkeit dienen zu können, und hatte demzufolge diesen Berufsweg zielstrebig verfolgt.

      Bereits während seiner Ausbildungs- und ersten Berufsjahre war er seinen Vorgesetzten aufgefallen, die seine untrügliche Spürnase, seinen Scharfsinn und seine Arbeitsweise hoch einschätzten. Allerdings erkannten sie auch, dass er wohl zu der ungeliebten Gruppe der einsamen Jäger gezählt werden müsse, deren Erfolge zwar für sich sprechen, die sich jedoch in der Zusammenarbeit nicht immer als bequem erweisen. Sie sollten mit ihrer Einschätzung recht behalten, denn Cernik löste in den vergangenen Jahren erfolgreich eine Reihe durchaus kniffliger Fälle, meistens Gewaltverbrechen, besonders auch solche, die mit der Nazivergangenheit zu tun hatten. So entstand ein unanfechtbarer Nimbus um seine Person, der ihm eine gewisse Narrenfreiheit unter den Ermittlern sicherte.

      Bereits mehrmals hatte Cernik Angebote erhalten, ins LKA oder gar BKA überzuwechseln. Zum Teil hatte er auch in Sonderkommissionen mitgearbeitet, doch fühlte er sich viel zu sehr in seiner Heimatstadt verwurzelt, um gänzlich zu einer Landes- oder Bundesbehörde zu wechseln. Er war nämlich – warum wusste er auch nicht – davon überzeugt, dass in seiner Heimatstadt eine Aufgabe seiner wartete, die es für ihn zu erfüllen galt. Daher hatte er einen Wechsel nie wirklich ernsthaft in Erwägung gezogen. Je länger er über seinen neuen Fall nachdachte, umso mehr gewann das Gefühl Oberhand, nun vor dieser Aufgabe zu stehen.

      Cernik liebte seine Arbeit und konnte durchaus nachempfinden, dass Anna von seinem Eifer nicht immer begeistert gewesen war, denn er ging stets völlig in seinen Fällen auf. Er lebte ziemlich zurückgezogen in einem Dreifamilienhaus, das zu einem Gehöft gehörte in einem Vorort nahe der südlichen Stadtgrenze. Er war freundlich zu seinen Nachbarn, ohne mit ihnen zu verkehren, wie er auch stets vermied, mit seinen Kollegen privat zusammenzukommen. Meist zeigte er sich unnahbar. So blieb es nicht aus, dass vor seinem 50. Geburtstag seine Kollegen vor einem Rätsel standen, als es darum ging, ihm ein Geschenk zu kaufen. Keiner hatte auch nur die blasseste Ahnung, welchen Hobbys Cernik außer seiner Arbeit und dem Fußball nachging, womit man ihm eine Freude bereiten konnte. Als der Polizeidirektor bei Anna anrief und hörte, dass er bei italienischen Opern oder klassischen Sinfonien seine Entspannung finde, war dessen Überraschung mehr als groß gewesen.

      Cernik ging in Gedanken die bisher gewonnenen Erkenntnisse noch einmal mit der ihm eigenen penetranten Gründlichkeit durch. Er hatte einen Toten, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ermordet worden war. Ein klares Motiv ließ sich noch nicht erkennen. Es konnte in der Familie liegen, was jedoch eher unwahrscheinlich war, in den Aktivitäten des Unternehmens, was schon eher möglich war, waren doch Stahl- und Waffenhandel nicht immer zu trennen, wie er wusste. Es konnte aber auch in seinem Privatleben, das noch zu durchforschen war, oder aber auch in der Vergangenheit, die einige Fragen offenließ, seine Ursache haben. Schließlich gab es immer wieder Gerüchte, die einen Bogen spannten aus der Nazizeit nach Südamerika, und er hielt es nicht für völlig ausgeschlossen, dass auch in diesem Fall die Vergangenheit eine gewisse Rolle spielen könnte.

      Erst aber musste herausgefunden werden, wer Friedrich von Saersbeck wirklich gewesen war. Cernik schrieb einen Dringlichkeitsvermerk in sein virtuelles Notizbuch. Es war eine Marotte oder auch Fähigkeit von ihm, alle seine Notizen im Kopf zu behalten und abzurufen, wenn er sie benötigte, etwa wie ein Pianist die zu interpretierenden Noten. Er war mit einem ausgeprägten visuellen Gedächtnis ausgestattet, und er konnte auf diese Weise vermeiden, dass andere in seinen Gedanken und seinen Notizen herumschmökerten.

      „Auf Cernik!“, ermahnte er sich, an die Arbeit zu gehen, richtete seinen Sitz wieder hoch und startete den Wagen. Ein Plan, den es Schritt für Schritt abzuarbeiten galt, war zurechtgelegt. Mit allen Sinnen fühlte er, dass dieser Fall sein bisher wichtigster werden könne, und seine rote Seele, die er von seinen Eltern geerbt hatte, forderte ihn nachdrücklich auf, mehr noch als sonst zu leisten, um Licht in das Dunkel der Saersbecks zu bringen. Cernik fühlte die Verpflichtung, dass er allen Werktätigen eine Lösung des Falles schuldig sei, denn zu selten bestand die Möglichkeit, hinter die Kulissen der gewöhnlich Unantastbaren, jener Minderheit der Gesellschaft zu blicken, die in Wirklichkeit in einer Demokratie die Macht ausübt und die hehre Idee einer Volksherrschaft ad absurdum führt. In Cerniks Adern kribbelte das Blut. Er schwor sich, den Nachweis anzutreten, dass in der heutigen Zeit der ihm verhasste Geldadel nicht ohne die Kontrolle des Volkes und seiner Instanzen seine Spielchen treiben kann. Nach diesem Vorsatz rief er sich jedoch zur Ordnung. „Reiß dich zusammen, Leo Cernik! Verwässere die gebotene Objektivität nicht durch dein Wunschdenken!“, ermahnte er sich.

      Obwohl Cernik zu den aufmerksamen Autofahrern zählte, wäre er unterwegs fast mit einem anderen Wagen zusammengestoßen, so sehr waren seine Gedanken mit dem Fall beschäftigt. Er musste ausfindig machen, wer sich hinter den Musketieren verbarg und was sie mit Saersbeck zu schaffen hatten, falls dieses Papier nicht ein Scherz oder als falsche Fährte ausgelegt war. Mit Dumas’ Musketieren waren sie wohl kaum identisch, nutzten den Namen vielleicht aber als Sinnbild für Rache oder Vergeltung. Also galt es herauszufinden, wie und wo ihre Spur aufzunehmen war. Plötzlich fiel ihm ein, was Frau von Saersbeck über das Schulfest des Gymnasiums gesagt hatte. Der Begriff Musketiere könnte möglicherweise auf eine Jugendbande hinweisen, kam ihm in den Sinn. Ein Gespräch mit dem Direktor der Schule konnte nicht schaden. Er selbst war auf ein anderes Gymnasium in der Stadt gegangen, ein humanistisches, das von seiner Wohnung aus schneller und günstiger zu erreichen gewesen war, doch kannte er das erwähnte Gymnasium, das direkt am Flussufer lag, nur durch einen Leinpfad getrennt, und das damals wie heute wieder einen guten Ruf besaß. Er nahm sich vor, der Schule am nächsten Tag einen Besuch abzustatten.

      Im Kommissariat angekommen – dieses Mal war sein Parkplatz hinter dem Haus nicht belegt –, fragte er bereits auf der Türschwelle: „Gibt es was Neues?“

      Fast gleichzeitig öffneten Willy Klein und Inga Büllesbach ihren Mund, um ihn über Neuigkeiten zu informieren.

      „Langsam!“, stoppte er ihren Redenfluss, „bitte nacheinander. Willy?“

      „Der Mann, der Saersbeck gefunden hat, war hier. Er hat nichts gesehen außer dem Körper, der am Baum baumelte. Er hat daraufhin sofort die Polizei verständigt. Ansonsten ist ihm nichts aufgefallen.