„Soll ich …?“, fragte Inga, die wusste, wie verhasst ihm das vergebliche Wählen von Telefonnummern war.
Er nickte und ließ seine Gedanken schweifen. Sein Privatleben beeinträchtigte gegenwärtig seine Daseinsfreude und schlug auf sein Gemüt, mehr als ihm lieb war. Er litt merklich unter seinen Missstimmungen, an denen er hin und wieder auch seine Mitarbeiter und Kollegen teilhaben ließ, obwohl sie keine Schuld daran trugen. Sie hatten notgedrungen in vielen Jahren der Zusammenarbeit mit ihm gelernt, sich mit seinen Launen abzufinden.
Anna, seine Frau, zehn Jahre jünger als er, hatte ihn verlassen, des Zusammenlebens mit ihm überdrüssig, mit einem Mann, dem der Beruf und oft sogar der Fußball wichtiger erschienen als die Vorzüge einer einträchtigen Ehe. Die durch seine Müdigkeit entstandene Vernachlässigung ihrer sexuellen Bedürfnisse hatte die Glut in ihrem Schoß eher gesteigert als ausgelöscht und damit ein Problem heraufbeschworen, das wie ein Damoklesschwert über ihrem Ehebund hing. Anna, deren Held der Jugendzeit er einstmals gewesen war, als er noch für die Schwarz-Weißen die Fußballstiefel schnürte, hatte ihre Konsequenzen aus dem unbefriedigenden Zustand gezogen und war ohne eine ausgesprochene Vorwarnung, jedenfalls keine, die er registriert hatte, mitsamt dem notwendigsten Teil ihrer Garderobe und ein paar Utensilien, die ihr besonders am Herzen lagen, vor drei Wochen ausgezogen. Für ihn hatte sie nur einen Zettel mit einer kurzen Nachricht in ihrer schnörkellosen Handschrift hinterlassen, die da lautete:
Falls Du zufällig mal nach Hause kommst und mich noch zufälliger vermissen solltest: Ich bin nicht mehr da! Einen Mann wie Dich braucht keine Frau – ich schon gar nicht. Ich will nicht nur warten, ich will auch leben! Lass uns in Frieden unserer Wege gehen. Du wirst von mir hören. Ich wünsche Dir alles Gute und danke Dir für die schönen Zeiten, die wir miteinander verbracht haben.
Deine Anna.
Cernik, völlig überrumpelt von ihrem Auszug, empfand ihren Entschluss als persönliche Schmach, die es erst einmal zu verdauen galt. Niederlagen nagten schon seit jeher erheblich an seinem Wohlbefinden und nagten schmerzhaft an seiner Seele. Zu allem Überfluss hatte gestern Schwarz-Weiß nach einer völlig undiskutablen Leistung den Anschluss an die Tabellenspitze verspielt, was den Pegel seiner Lebensfreude am vergangenen Wochenende unter den Gefrierpunkt hatte sinken lassen. Einmal mehr fragte er sich, warum nur rege ich mich über diese Anfänger immer wieder auf? Dennoch ließ er sich keinen Sonntag davon abhalten, dem Spiel beizuwohnen. Er lebte den Masochismus eines Mannes aus, den zu dulden und zu respektieren mancher Ehefrau nicht eben leichtfällt.
Cernik verwarf seine trübsinnigen Gedanken und erkundigte sich bei Inga, ob sie eine Ahnung habe, worum es sich bei dem neuen Fall handele?
Inga besaß trotz ihrer Jugend die außergewöhnliche Gabe, alle Vorfälle sofort zu erfassen, die Informationen einzuordnen und auch zu analysieren. Sie war die Tochter des besten Freundes von Polizeidirektor Schütz, auch dessen Patenkind, und hatte von Kindesbeinen an nichts anderes als Polizistin werden wollen. Der Direktor hatte sie Cernik mit Bedacht zugeteilt, für den er ein unausgesprochenes Faible besaß. Im Geheimen mochte er unbürokratische Einzelgänger wie ihn, zumal, wenn sie immer wieder beachtliche Erfolge vorweisen konnten, wenn er auch in seinen Vorträgen vor Mitarbeitern die Notwendigkeit der Teamarbeit stets über alles stellte. Cernik, den einsamen Jäger, hatte er zum Leiter einer SOKO ernannt, die ihre Aufgaben nur von ihm oder dem leitenden Oberstaatsanwalt erhielt. Niemand im Hause sonst erfuhr gewöhnlich, mit welchen Fällen diese SOKO gerade befasst war, wenn nicht Amtshilfe von anderen Abteilungen benötigt wurde.
Inga hatte sich aus innerer Berufung die Aufgabe auferlegt, für eine zuträgliche Stimmung in der Abteilung zu sorgen. Ihr Naturell versprühte den ganzen Tag über gute Laune. Sie besaß einen ausgesprochen analytischen Verstand, den ihre Ausbilder zu schätzen wussten. Jedermann fiel auf den ersten Blick ihr freundliches Gesicht auf, das umrahmt war von schulterlangen rotbraunen Haaren, die fast immer zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren, sowie ein paar lustige Sommersprossen auf ihrer Nase und ihr aufgewecktes Augenpaar. Ihrer sportlichen Figur mangelte es keineswegs an weiblichen Reizen. Die jüngeren Kollegen ließen kaum eine Gelegenheit vergehen, sich bei ihr ins rechte Licht zu rücken, ohne dass bisher ein Bewerber ihre Gunst errungen hatte. Sie trennte streng Privatleben, das ihr aus guten Gründen heilig war, und Beruf.
„Im Stadtwald hat sich jemand erhängt, jedenfalls ist dort ein erhängter Mann aufgefunden worden. Mehr weiß ich auch noch nicht“, ließ sie ihren Chef wissen.
Inga drückte auf die Wahlwiederholung ihres Telefons, doch der Apparat des Staatsanwalts meldete weiterhin „besetzt“.
Derweil blätterte der Kommissar lustlos in den Akten eines unerledigten Falls auf dem Schreibtisch, der ansonsten – im Gegensatz zu denen seiner Mitarbeiter – ausgesprochen aufgeräumt wirkte. Seine Augen wanderten sinnierend auf das Mannschaftsfoto seiner Schwarz-Weißen, das an der Wand hing, ein Relikt aus jener Zeit, als er noch zu den Aktiven der Reservemannschaft gezählt hatte. Erneut begann sich sein Unmut über das gestrige Spiel zu regen. Er konnte und wollte kein Verständnis für die Profis von heute aufbringen, fast ausschließlich Söldner von irgendwo, die nur für Geld und nicht mehr für das Trikot spielten, das sie trugen, wie es für ihn und seine Kameraden noch selbstverständlich gewesen war. Während Cernik noch über die sich drastisch ändernden Zeiten nachsann, läutete sein Telefon. Er meldete sich und hörte am anderen Ende die schneidende Stimme des Oberstaatsanwalts bullern: „Schneider hier. Auch schon da? Da kann ich wohl mal wieder ‚Mahlzeit‛ sagen. Ich hatte um Ihren sofortigen Rückruf gebeten. Können Sie sich nicht auch einmal an die selbstverständlichen Spielregeln einer funktionierenden Zusammenarbeit halten?“
„Entschuldigen Sie“, unterbrach Cernik gereizt den Redeschwall seines Vorgesetzten, „bei Ihnen ist immerzu besetzt. Wie soll ich Sie dann erreichen?“
„Unsinn! Lassen Sie sich endlich mal eine gescheitere Ausrede einfallen, sonst sind Sie ja auch nicht auf den Mund gefallen. Kommen wir zur Sache: Ich erhielt soeben einen Anruf, dass im Stadtwald ein Mann erhängt aufgefunden worden ist.“
„Was ist so Besonderes an dem Tatbestand, dass Sie sich persönlich engagieren, wenn ich fragen darf?“
„Weil sich der Fundort, die sogenannte Hexeneiche, sicher schon mal von gehört, unweit von der Villa Saersbeck – genauer gesagt oberhalb der Villa – auf dem Gipfel des Hügels befindet.“
„Ja, und …?“
„Nun ja, die Saersbecks sind mir nicht ganz unbekannt, und ich hoffe, dass nicht ein Mitglied dieser Familie …“
„Höre ich eine bestimmte Vermutung aus Ihren Worten? Geht’s auch konkreter?
„Übernehmen Sie diesen Fall und sehen Sie erst einmal nach dem Rechten! Belästigen Sie bei Ihren Ermittlungen, bitte, die Saersbecks nicht mehr als unvermeidlich. Falls der Tote etwas mit dem Hause Saersbeck zu tun haben sollte, so bitte ich um strengste Diskretion. Alle Berichte sind ausschließlich an mich zu richten, und zwar an mich persönlich! Und keine Kontakte zur Presse, wenn ich bitten darf, vorläufig zumindest! Von allen übrigen Fällen sind Sie und Ihre Abteilung während der Untersuchungen befreit.“
„Das hört sich sehr nach – wie soll ich sagen …?“
„Sagen Sie nichts! Ermitteln Sie! Ich habe bereits das gesamte Gelände absperren lassen, Spurensicherung und Gerichtsmedizin verständigt und jedermann zum Schweigen verpflichtet. Noch Fragen?“
„Meinen Sie, Saersbeck oder ein Familienmitglied könnte der Tote sein? Die haben doch selbst genug Bäume auf ihrem Gelände, falls ich das richtig im Kopf habe.“
„Lassen Sie gefälligst Ihre Witze! Fahren Sie erst einmal hin und nehmen Sie eine Identifizierung des Toten vor! Dann sehen wir weiter.“
„Herr Oberstaatsanwalt, warum habe ich nur das ungute Gefühl, dass Sie über mehr Informationen verfügen, als Sie mir gerade zukommen lassen? Es würde meine Arbeit erheblich erleichtern, wenn Sie mir jetzt schon reinen Wein einschenkten. Sie scheinen mir zu sehr überzeugt, dass der Tote mit den Saersbecks zu tun hat, und ich frage mich, warum?“