Jahr der Ratten. L.U. Ulder. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: L.U. Ulder
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738017168
Скачать книгу
Kaum dass sich die gut aussehende Frau im Dienstgebäude befand, kümmerten sich mehrere niederländische Kollegen um sie und ihr Anliegen. Es fand sich sofort ein Beamter, der deutsch sprach und sie unter den neugierigen Blicken seiner Kollegen durch das Haus geleitete.

      In der ersten Etage schließlich stand Valerie einem baumlangen, etwas dicklichen Mann in einem kahlen, unpersönlich eingerichteten Büro gegenüber. Wäre nicht das Namensschild an der Wand neben der Eingangstür gewesen, sie hätte annehmen müssen, in einem Warteraum oder einem lediglich für Vernehmungen genutzten Raum zu stehen.

      Behördenbarock, wohin das Auge schaute. Schreibtisch, Regal, Schrank. Alles in der gleichen tristen Farbe. Nichts Persönliches, weder eine Pflanze auf der Fensterbank noch ein aufgestelltes Bild auf dem Schreibtisch. Noch nicht einmal herumliegende Akten. Nichts, das darauf hindeutete, dass hier ein Mensch einen großen Teil seines Lebens verbrachte.

      Nur eine Schreibunterlage und eine längliche Schale mit einigen Stiften und anderen Schreibutensilien. An der Wand hing ein von einer Polizeigewerkschaft gesponserter Dreimonatskalender, der einzige freundliche Akzent im Raum.

      Fantasielose Wirkungsstätte eines hoffentlich nicht genauso fantasielosen Menschen.

      Und der Mensch war riesig. So groß, dass er trotz ihrer für eine Frau beachtlichen Größe von 1,79 m von oben herab auf sie herunter schauen konnte. Seine Augen strahlten eine feine, kaum merkliche Herablassung aus, als schien er sich nur aus gespielter Höflichkeit zusammenzunehmen.

      Valeries Gespür dafür war ebenso fein, trainiert durch die größte Enttäuschung ihres Lebens.

      Godelief Prins besaß rotstichiges Haar, eine helle, teigige Haut und so gut wie keinen Bartwuchs. Auch seine weißen Arme waren völlig unbehaart. Über seinem Gürtel wölbte sich ein wabbeliger Bauchansatz. Nicht, dass er übermäßig dick war, aber er wirkte durch und durch schwabbelig und unsportlich. Wie eine Aufblaspuppe, die etwas von ihrem Druck verloren hatte und sich nun weich eindrücken ließ. Bei Frauen war er sicher nicht sonderlich erfolgreich, dürfte sich manche Abfuhr eingefangen haben. Vielleicht trat er deshalb der Kollegin so abweisend entgegen.

      Prins hatte die Todesermittlungen im Fall Piet Lijsen geführt.

      Er klemmte sich hinter seinen Schreibtisch, erst danach bot er Valerie mit einer knappen Handbewegung Platz an. Stirnrunzelnd hörte er sich an, dass sich ausgerechnet jemand von Europol für den Tod des Mannes interessierte.

      „Ich wusste gar nicht, dass Europol selber Ermittlungen anstellt. Ich dachte, ihr sammelt nur Informationen und lasst sie dann verschwinden, damit keiner mehr etwas damit anfangen kann.“

      Dabei lachte er aus vollem Hals, lehnte sich zurück und schlug mit der rechten Hand auf den Schreibtisch, dass die Stifte in der flachen Schale fast heraussprangen.

      Dem gut und gerne zehn Jahre älteren Kollegen, der sie spöttisch von oben herab betrachtete, antwortete sie trocken:

      „Bei manchen Fällen ermitteln wir auch selbst, bevor wir dann die Akten verschwinden lassen.“

      Ihr Blick war eisig, der Ton gereizt, ein bisschen aggressiv vielleicht.

      Und gar nicht spaßig, wie er besser zu dieser flapsigen Bemerkung gepasst hätte und wie er es in einer anderen Situation mit einem anderen Kollegen auch gewesen wäre.

      Manchmal musste man ganz früh zubeißen, um sich Luft zu verschaffen. Und es funktionierte, der Mann zog zurück, er wurde vorsichtiger, handzahmer.

      Zum Glück für Valerie, der nicht der Sinn nach einer derartigen Auseinandersetzung stand. Dafür war sie nicht in der richtigen Position und viel zu angespannt..

      Er zuckte genervt mit den Schultern.

      „Was wollen Sie wissen? Für uns war es eine routinemäßige Todesfallermittlung ohne den geringsten Hinweis auf ein Fremdverschulden. Die Nachbarn haben die Polizei verständigt.“

      Sein Deutsch hatte einen ausgeprägten Akzent, er machte keinerlei Anstalten, die Ermittlungsakte zu Hilfe zu nehmen.

      „Warum? Haben die etwas gehört oder gesehen?“

      „Nein. Nur gerochen. Es hat etwas, sagen wir, unfein gerochen, das ganze Blut auf dem Fußboden. Man kann sogar sagen, dass es ziemlich gestunken hat.“

      „Was haben Sie denn nun genau festgestellt?“

      Der Kerl ließ sich wirklich jede Einzelheit aus der Nase ziehen. Er verdrehte genervt die Augen, schob seinen Stuhl vom Schreibtisch zurück und beugte sich nach unten.

      „Am einfachsten ist es, Sie schauen sich einfach die Tatortbilder an, die sprechen für sich.“

      Mit dem Kopf nach unten klang seine Stimme gepresst.

      Als er wieder nach oben kam, war sein Gesicht von dem kurzen Moment knallrot angelaufen. Er sah aus, als hätte er sich gerade sportlich betätigt und sich dabei ungeheuer angestrengt.

      „Ich habe nur noch unsere Duplikate. Die Originale sind bei dem Untersuchungsbericht.“

      In der Hand hielt er einen grauen Aktenordner, den er hinterhältig grinsend vor sich auf den Tisch legte, aufklappte und ganz langsam, als würde er jeden Augenblick genießen, zu Valerie herüber schob.

      Sie spürte seinen Blick auf ihrem Gesicht. Er belauerte sie, als sie sich über den Ordner beugte und schien nur auf eine Reaktion von ihr zu warten, um sich in allen seinen Vorurteilen bestätigt zu sehen.

      Valerie war wild entschlossen, so cool wie möglich zu bleiben.

      Aber sie ahnte bereits, dass es ihr schwerfallen würde, äußerlich teilnahmslos zu bleiben, unglaublich schwer. Schon damals, beim Kriminaldauerdienst, waren Todesermittlungen die Fälle gewesen, die sie die meiste Überwindung gekostet hatten.

      Sie atmete unmerklich tief durch und wappnete sich innerlich.

      Sie wusste, was auf sie zukam, es waren nur Bilder. Tote Bilder eines toten Körpers, kein Geruch, zum Glück kein Geruch.

      Autoerotisch, ausgerechnet. Und dazu ein schmieriger Kollege, der ihr gegenübersaß, jede noch so kleine Regung von ihr registrieren würde und sich an ihrem Entsetzen aufgeilen wollte.

      Valerie verfügte nicht annähernd über genügend Fantasie für das, was auf sie zu kam. Das Grauen, das diese Bilder transportierten, überstieg ihre Vorstellungskraft um ein Vielfaches.

      Ein schlanker, drahtiger Mann hing in einer Vorrichtung. Auf den ersten Blick sah es aus wie ein Ritualmord, eine Kreuzigung. Als ihn das Leben verließ, verblasste die Haut zu Wachs. Der Kopf ruhte auf der Brust, vom Gesicht war auf dem ersten Bild nicht viel zu erkennen. Der linke Arm war ausgestreckt und mit Riemen an etwas festgeschnallt, das aus der vorhandenen Perspektive nicht zu erkennen war. Der rechte Arm war nur von der Schulter bis zum Ellenbogen angeschnallt. Der Unterarm baumelte nach unten. Eine bizarre Haltung, als mache er eine bedauernde Geste. Am rechten Handgelenk hing ein kleines schwarzes Gerät, wie ein Schaltkasten, aus dem ein Kabel herauskam.

      Dieses Kabel führte aus dem Bild hinaus, ins Nirgendwo. Erst beim Umblättern sah Valerie ein technisches Gerät von der Größe eines Schuhkartons, auf einem kleinen Schränkchen, das vor dem Mann stand, mit einer Art Klemme befestigt.

      Sie hatte nicht viel Ahnung von technischen Dingen, für sie sah das Gerät aus wie ein Elektromotor. Das nächste Bild, eine Detailaufnahme, zeigte einen Plastikriemen, einen innen gezahnten Plastikriemen, der kräftig genug war, in jeder Position seine ovale Form beizubehalten. Er saß auf dem Motor, das andere Ende ragte ins Freie, wurde von einem Gewicht seltsam verdreht.

      Etwas Dunkles, Fleischiges hing an diesem Riemen, unregelmäßig, unwirklich.

      Auch das nächste Bild, deutlich vergrößert, wollte noch keinen Aufschluss bieten, zu absurd war der Gedanke, der Valerie durch den Kopf schoss.

      Dann, nach dem Umblättern eine Großaufnahme des Unterkörpers, gab es keinen Zweifel mehr.

      Sie hielt die Luft an und starrte ungläubig auf das Bild. Sie fühlte,