„Vielleicht sollten wir es doch mal mit einem Kite versuchen.“ Die beiden Niederländer waren längst die Holztreppe hinuntergegangen und ordneten am Strand die Leinen für ihre Lenkdrachen.
Weil Valerie nicht antwortete, schaute sie auf und sah den genervten Blick der Freundin, mit dem ausgestreckten Daumen hinter sich zeigend.
No Kites.
Wie ein Bannspruch zum Schutz vor Vampiren prangte das durchkreuzte Schild auf den Heckpartien beider Volvos.
Anna zuckte die Schulter und seufzte. Die Aufkleber stammten von ihr. Sie höchstpersönlich pappte sie beiden Autos aufs Heck, nachdem sie sich wieder einmal über die langen Leinen der Lenkdrachen geärgert hatte, die so viel Platz beanspruchten und den halben Strand versperrten.
„Manchmal muss man seine Meinung eben ändern und sich weiterentwickeln.“
Die Oberkommissarin schüttelte nur den Kopf. Sie schnappte sich ihr Sportgerät, den Surfmast in der linken und die Fußschlaufe des Boards in der rechten Hand und balancierte vorsichtig auf der Treppe zum Wasser hinunter. Anna kam japsend hinter ihr her. Ohne weitere Zeit zu verlieren, gingen sie nebeneinander in die Nordsee hinein, bis ihnen das kühle Wasser beinahe an ihre Hüften reichte. Mit beiden Händen am Gabelbaum richtete Valerie das Segel aus und wartete geduldig, bis eine Windböe hineingriff und genügend Druck entstand.
„Sei vorsichtig. Denk an .... .“
„die gefährliche Ringströmung“, hatte sie rufen wollen. Aber Anna stand schon auf dem Brett und zog das Segel dicht. Das Surfboard beschleunigte, schnell schoss sie aufs Meer hinaus. Valerie schüttelte den Kopf und hatte prompt den entscheidenden Moment verpasst. Sie wartete auf die nächste Böe und ließ sich mit dem Segel nach oben auf das Board ziehen. Sofort nahm sie Fahrt auf und hängte sich ins Trapez. Ab jetzt war jeder für sich allein unterwegs.
Der Alltag blieb in der dünnen Schaumblasenspur zurück, die die Finne im Wasser zog.
Einen weiteren abgebrochenen Nagel und knapp zwei Stunden später saßen die beiden jungen Frauen am Strand, die neoprengeschützten Füße ließen sie von den Wellen umspülen. Ihre Frisuren waren von Wind und Wasser zerzaust, Salz klebte in den Haaren und schmeckte auf den Lippen. Hände und Unterarme brannten von der Anstrengung, aber die Laune war bestens.
Valerie streckte sich durch, lehnte sich zurück auf die Ellenbogen und seufzte dann zufrieden.
„Wow, das war besser als Sex.“
Anna stutzte, schaute überrascht und fragte nach, als hätte sie nicht richtig verstanden.
„Moment mal, was war besser als Sex?“
„Das Surfen. Surfen ist besser als Sex. Das hat mal ein Bekannter gesagt und irgendwie hatte er ein bisschen recht.“
Anne guckte ein bisschen mitleidig.
„Da hat er aber eine tolle Ausrede gehabt, was? Ich weiß ja nicht, was du bisher für einen Sex hattest, vor allem mit diesem ominösen Surfkumpel. Aber mich hat das Surfen noch nie zufriedengestellt.“
Über beide Ohren grinsend schaute sie Valerie an. Beide mussten wieder lachen. Danach unterhielten sie sich angeregt über die Dinge, die seit ihrem letzten Treffen vor zwei Wochen geschehen waren.
Anna-Lena Holland und Valerie Leving stammten beide aus Hamburg. Sie kannten sich bereits seit der Kindheit durch die Mitgliedschaft im hanseatischen Segelclub, in dem schon ihre miteinander befreundeten Eltern waren.
„Schau mal, da sind die beiden Jungs von vorhin wieder. Niedlich, oder?“
Die beiden sonnengebräunten Surfer waren in Höhe der Treppe zum Parkplatz damit beschäftigt, ihre Kite-Drachen zusammenzulegen. Immer wieder steckten sie die Köpfe zusammen, tuschelten und schauten herüber. Ihr Interesse an einem Flirt war nicht zu übersehen.
Valerie setzte sich auf und verschränkte abwehrend die Arme, sie schaute alles andere als freundlich drein. Die beiden Jünglinge waren kaum zwanzig, fast noch Kinder in ihren Augen.
„He, das Leben geht weiter, meinst du nicht auch. Es wird höchste Zeit, mal wieder an einen Mann zu denken. Wenn du Surfen schon als Ersatzbefriedigung ansiehst. Andere Mütter haben auch schöne Söhne.“ Aber Valerie war noch längst nicht bereit, ihre selbst gewählte Isolation zu beenden. Zu groß war die Enttäuschung gewesen, zwei Tage vor der geplanten Hochzeit den Laufpass zu bekommen.
Das war jetzt ein halbes Jahr her, und Grund für ihre Entscheidung, Hamburg in Richtung Den Haag zu verlassen.
Die Stimmung war verdorben, jetzt, nachdem Anna dieses Thema angeschnitten hatte und alte Wunden aufgebrochen waren. Valerie sah hinauf zum Himmel. Wie ein dunkles Vorzeichen verdeckten Wolken die Sonne, sie begann zu frösteln und drängte zum Aufbruch. Die Freundinnen packten die Ausrüstung zusammen und beluden ihre Kombis, es wurde höchste Zeit für eine heiße Dusche. Der Rückweg führte sie wieder am Europoort vorbei. Valerie kannte den Surfspot bereits, lange bevor sie nach Den Haag umgezogen war. Der Seehafen mit seinen Containerkränen, die wie riesige, stählerne Insekten auf Opfer zu lauern schienen, löste bei jedem Anblick wieder Beklemmungen bei ihr aus.
Um sich abzulenken, schaltete sie das Radio an. Im Rückspiegel kontrollierte sie mit gelegentlichen Blicken, dass Anna den Anschluss nicht verlor.
Über Europaweg und A 15 fuhren sie nach Den Haag, direkt in Valeries kleine Wohnung.
„Du hast ja immer noch kein Telefon“, stellte Anna vorwurfsvoll fest, als sie die ungenutzte Steckdose gleich neben der Wohnzimmertür sah.
„Ach, was soll ich damit? Ich bin auf dem Handy erreichbar. Hier bin ich ja doch nur zum Schlafen“, antworte Valerie und marschierte weiter in ihr Schlafzimmer, ohne sich umzublicken.
„Na ja, wenigstens sieht es jetzt einigermaßen wohnlich aus. Ich hatte schon befürchtet, du lebst immer noch aus Kartons.“
Ein Ohrensessel mit Hocker, eine Couch, die sich als Gästebett umklappen ließ, ein niedriger Glastisch und an der Wand neben dem Fenster ein Schränkchen mit einer Stereoanlage, obenauf ein Fernseher, bildeten die Einrichtung des Wohnraumes. In der Ecke stand ein grauenhaft hässlicher, messingfarbener Deckenfluter.
„Warst du auf dem Sperrmüll?“, stichelte Anna sogleich.
Valerie steckte den Kopf aus der Schlafzimmertür, nur mit einem umgebundenen Badehandtuch bekleidet.
Ihren fragenden Blick beantwortete Anna mit einem Fingerzeig auf die Stehlampe.
„Ach die. Ich brauchte auf die Schnelle eine Lampe, die ich ohne Elektriker zum Leuchten bringen konnte und billig war sie auch.“
„Du hättest dir lieber einen Elektriker kommen lassen sollen, wer weiß, wofür der sonst noch gut gewesen wäre“, meinte Anna, die ihre Andeutungen nicht lassen konnte.
Während Valerie duschte, schnüffelte ihre Freundin im Kühlschrank herum und fand zielsicher das Stück Pecorinokäse, das Valerie extra für diesen Tag besorgt hatte.
„He, den wollen wir gleich zusammen essen“, schimpfte sie denn auch, als sie Anna kauend auf dem Sessel sitzen sah. Und natürlich hatte sie sich auf dem kuscheligen Möbelstück breitgemacht, das in kürzester Zeit zu ihrem Lieblingsplatz avanciert war.
Bei Pecorino, Baguette und frischem Salat machten sie es sich gemeinsam vor dem Fernseher gemütlich, nachdem auch Anna-Lena unter die Dusche gesprungen war. Sie legten ihr gemeinsames Lieblingsvideo ein und nippten zwischendurch an großzügig gefüllten Rotweingläsern.
„Was war nun mit diesen merkwürdigen Unfällen, von denen du mir erzählt hast? Hat sich das geklärt?“
Anna hob die Hand wie ein Haltezeichen, ohne den Blick vom Fernseher zu lassen.
„Warte kurz, ja? Ich liebe diese Stelle.“
Mit großen Augen verfolgte sie das Geschehen auf dem Bildschirm.
„Ja, genau. Er kann ruhig etwas