Jahr der Ratten. L.U. Ulder. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: L.U. Ulder
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738017168
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war sie mit dem Kollegen verbunden, der mit den Unfallermittlungen im Fall Florian Rosbacher vertraut war.

      Im breitesten österreichischem Dialekt erklärte ihr der Hauptmann, dass es kaum etwas zu ermitteln gegeben hatte. Ein Unfall wie jeder andere auch.

      „Aber Sie müssen unbedingt in unsere schöne Gegend kommen. Verbindens doch einfach Ihre Ermittlungen mit einem Kurzurlaub und fahren Sie über unsere wunderbare Großglocknerstraße. Und dann kommens vorbei und wir schaun gemeinsam in die Akte. Vielleicht hilft's Ihnen doch ein wenig.“

      Die lange Fahrt bot viel Zeit, über ihre derzeitige Situation nachzudenken.

      Etwas über ein halbes Jahr war vergangen nach der Enttäuschung mit Jan und der geplatzten Hochzeit.

      Die Hospitationsmöglichkeit bei Europol ergab sich kurzfristig, als ein bereits feststehender Bewerber ausfiel. Ob der Kollege erkrankt war oder was immer sonst für Gründe eine Rolle gespielt hatten, sie wusste es nicht und hatte es auch nie erfahren.

      Es gab die Option, den Aufenthalt nach der zwölfmonatigen Hospitationszeit auf mehrere Jahre zu verlängern. Wenn sie diese Frage sofort beantworten müsste, käme sicherlich ein klares Nein. Zu kühl und abweisend war der Empfang in der Abteilung gewesen, es hatte den Anschein, als wüsste man nicht so recht, was man mit ihr anfangen sollte.

      Ihr direkter Vorgesetzter, First Director in der Abteilung zur Bekämpfung von Geldwäsche, war ein Brite. Ein kleines, schmächtiges Männchen mit dünnen, hellen Haaren und Sommersprossen auf blasser Haut. Beinahe lächerlich seine Versuche, durch eine besonders straffe Haltung größer zu wirken, weil die attraktive Frau ihn überragte. Eine Goldrandbrille verlieh ihm immerhin ein intellektuelles Aussehen.

      In den ersten Tagen wusste sie nicht, wie sie den Mann einschätzen sollte. Im persönlichen Gespräch reagierte er merkwürdig ablehnend auf sie. Valerie fühlte sich wie ein mühsam geduldeter Störenfried, wie ein Besucher, der nicht vom Hofhund gebissen wird, weil sein Herrchen daneben steht. Wenn er nicht mit ihr reden musste, beobachtete er sie verstohlen, direkt unheimlich. Sie spürte, dass in dieser Abteilung etwas nicht stimmte. Die Luft knisterte geradezu, so viele negative Schwingungen waren auszumachen. Dann, nach einigen Tagen ihrer Anwesenheit wurde ihre Ahnung bestätigt.

      Er begrapschte bei jeder sich bietenden Gelegenheit seine Sekretärin, konnte seine Finger kaum von ihr lassen.

      Die beiden pflegten ein inniges Verhältnis miteinander, das sie zu vertuschen suchten. Denn beide waren verheiratet, unglücklicherweise nicht miteinander.

      Aber Liebe macht bekanntlich blind, blind und unvorsichtig. Deshalb war es für Valerie ein Leichtes gewesen, die beiden Turteltauben nach wenigen Tagen zu durchschauen. Die Hospitantin, die so plötzlich in die Abteilung versetzt wurde, störte das junge Glück. Beide konnten sich nicht mehr so ungestört hingeben wie zuvor. Und das ließen sie die deutsche Kriminaloberkommissarin deutlich spüren. Sie deckten sie mit den unsinnigsten Aufträgen ein, aus der selbstständigen Ermittlerin war eine Aktenbotin geworden. Ermüdend der Auftrag, Statistiken der verschiedenen Länderpolizeien für das europoleigene System kompatibel umzuarbeiten.

      In dieser Abteilung würde sie definitiv nicht bleiben. Ihre Entscheidung für eine Verlängerung des Aufenthaltes in dieser Behörde würde sie davon abhängig machen, ob es ihr möglich sein würde, die Abteilung zu wechseln.

      Zu allem Übel lag ihr ihre Mutter in den Ohren, bei der Polizei hinzuschmeißen und wieder das Jurastudium aufzunehmen.

      Bei dem Gedanken dachte sie wehmütig an das alte Kapitänshaus ihrer Eltern in Blankenese, nur wenige Schritte vom Elbestrand entfernt.

      Mit den beiden verwitterten Holzintarsien in der Eingangstür. In der oberen Hälfte ein altes Segelschiff, unten ein dicker Pottwal, der gerade seine Fluke auf das Wasser klatschen ließ. Wie oft hatte sie auf dem abgewetzten Hausstein gesessen und fasziniert den Wal angeschaut und mit ihren kleinen Fingern über das narbige, von den Jahren gezeichnete Holz gestreichelt. Oder hatte mit einem Blatt Papier vor sich auf dem Trittstein gekniet und den Wal nachgezeichnet.

      Sie erinnerte sich, wie ihr Vater einmal früher von seiner Arbeit aus der Kanzlei heimgekommen war und ihr zuschaute, wie der Wal auf ihrem Blatt Formen annahm. Ohne auf seinen teuren Anzug Rücksicht zu nehmen, setzte er sich auf den Boden, nahm sie auf den Schoß und erzählte ihr die Geschichte von Moby Dick, ließ sie mit staunenden Augen und offenem Mund eintauchen in Melvilles' Welt von Kapitän Ahab, dem Matrosen Ismael und dem Harpunier Queequeg. Und als ihr eine Träne über die Wange lief, weil sie den Wal jagten, wischte ihr Vater sie mit seinem Daumen fort.

      Ihre Liebe zum Wasser wurde an diesem Tag erweckt. Schon als Kind begann sie zu segeln, als sie größer wurde und nach mehr Action verlangte, fing sie mit dem Surfen an.

      Einen kurzen Augenblick gönnte sie sich noch und genoss den überwältigenden Ausblick von der höchsten Stelle der Großglocknerhochalpenstraße, dann machte sie sich auf den Weg. Am südlichen Ende der Ausflugsstraße, in Lienz, war sie mit einem Hauptmann der österreichischen Bundespolizei verabredet.

      Der überaus freundliche Beamte hatte ihr in dem Telefonat bereitwillig die Einsicht in die Ermittlungsakten angeboten und die Fahrt über die Hochalpenstraße in den rosigsten Farben beschrieben. Als sie das Gespräch beendet hatte, war sie nicht mehr sicher, ob sie mit der Polizei oder dem örtlichen Fremdenverkehrsverein telefoniert hatte. Ganz nebenbei beschrieb er ihr noch die Stelle, an der der Exsoldat ums Leben gekommen war. Und so stand sie wenig später an der Absturzstelle und schaute mit einem fröstelnden Gefühl hinunter in den Abgrund, der an dieser Stelle eher seicht war und gar nicht so bedrohlich wirkte.

      Der Zauber der Fernsicht war dahin. An dieser unscheinbaren Stelle auf dem Weg zum Pasterzengletscher war der Tod zu Hause.

      Jemand hatte ein Holzkreuz aufgestellt, mit dem eingelassenen Bild des Verstorbenen. Ein schöner Brauch, dachte sie. Aus der Akte wusste Valerie, dass Florian Rosbacher verlobt gewesen war. Unter dem Vornamen standen das Geburtsdatum und der Sterbezeitpunkt. „Zu Früh“, war darunter geschrieben.

      Nachdenklich fuhr Valerie nach unten, noch ein wenig langsamer und vorsichtiger als zuvor.

      Der erste Eindruck am Telefon hatte sie nicht getäuscht. Mauritz Obermeier war ein freundlicher Mensch, der mit offenen Armen und herzlichem Lachen auf sie zu ging. Seine braun gegerbte, ledrig wirkende Gesichtshaut mit den tiefen Furchen bildete einen starken Kontrast zu schlohweißen, vollen Haaren und einem ebenso weißen, penibel gestutzten Kinnbart. Helle, unternehmungslustige Augen blitzten sie unternehmungslustig an.

      Mit den Worten „und, habe ich zu viel versprochen?“ holte er sie an der Wache im Eingangsbereich ab und begrüßte sie dabei wie eine alte Freundin, die er lange nicht gesehen hatte. Weil sie nicht gleich auf seine Frage reagierte, bohrte er nach.

      „Na, unsere Hochstraße meine ich. So etwas Fantastisches haben Sie bestimmt noch nicht gesehen.“

      „Ja, wunderbar. Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit.“

      Er schaute irritiert, vermutlich war er mehr Enthusiasmus gewohnt.

      Mit elastischen Schritten ging er dann voran und führte sie in sein Büro. Dabei wirkte er nicht wie ein Beamter, der kurz vor seiner Pensionierung stand, sondern wie ein Skilehrer, der eine neue Gruppe voller Tatendrang an den Hang geleitet.

      Valerie riss die Augen auf und runzelte die Stirn, als sie den großzügigen Raum betrat. Es war, als trete sie vom kahlen, schmucklosen Flur in eine andere Welt. Alle Büros der Polizei in den unterschiedlichsten Ländern sehen immer irgendwie gleich aus. Quadratisch, praktisch, hässlich und meistens hellgrau. Wobei der Raum des niederländischen Kollegen in Leiden auf der Skala der größtmöglichen Abscheulichkeiten ganz oben landen würde, dicht gefolgt von der Abstellkammer, in der Valerie in Den Haag ihr Dasein fristen sollte.

      Obermeier dagegen hatte sein Büro in ein gemütliches Wohnzimmer umgewandelt. Die Wände waren farbig, in einem zarten Cremeton gestrichen worden, sogar eine umlaufende Zierbordüre war nicht vergessen worden. Ein mächtiger alter Schreibtisch mit lederner Oberfläche dominierte den Raum, dahinter stand ein ebenso wuchtiger