Jahr der Ratten. L.U. Ulder. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: L.U. Ulder
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738017168
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seufzte und schnappte sich den Aktenordner, der auf seinem Schreibtisch lag. Er schlug ihn auf und blätterte mit seinem braun gebrannten, sehnigen Händen, bis er die Einträge für den richtigen Tag gefunden hatte. Der Tag, an dem Florian Rosbacher starb.

      Obermeier gab ihr einen Ausblick in die österreichische Polizeiarbeit an diesem Tag und kommentierte sie gleich mit knorrigen Halbsätzen.

      Jede Menge leichter Unfälle, ein paar aufgebrochene Urlauberautos, man muss schließlich seine mobile Navigation schön sichtbar an der Scheibe kleben lassen, damit der Dieb es leichter hat. Verletzte Spaziergänger, die auf den Felsen herumgekraxelt und abgerutscht waren und sich dabei die Haxen gebrochen hatten, diese Deppen. Ein entlaufener Hund. Was schleppen sie auch ihren Köter mit auf den Berg, damit er alles vollscheißt. Ein Zechpreller oben am Restaurant. Schlägt sich den Wanst voll, ohne einen Cent in den Taschen. Alles in allem ein ruhiger Tag, es war halt noch Vorsaison gewesen, und das Wetter war auch nicht so toll. Kein typischer Ferientag oben auf der Hochalpenstraße.

      Es war der übliche polizeiliche Routinekram, wie er so oder leicht abgewandelt auf jeder Polizeidienststelle bearbeitet werden musste. Obermeiers bissige Kommentare waren noch das Interessanteste an dem Vortrag.

      Valeries Gedanken schweiften ab. Innerlich dachte sie daran, aufzustecken. Wieder nichts Greifbares. Schaute es nur so aus, oder war es wirklich an der Zeit, sich von der Verschwörungstheorie zu verabschieden?

      Der österreichische Hauptmann bemerkte nichts davon, er zählte unverdrossen die Einsätze auf, die seine Kollegen in Lienz zu bewältigen hatten.

      „Der ausgebrannte französische Porsche“, sagte er wie beiläufig.

      Er verhielt kurz und blätterte dann weiter.

      „Aber das hatte nichts mit der Strecke oben zu tun.“

      Ein französischer Porsche. Ein Porsche aus Frankreich?

      „Ein französischer Porsche?“, fragte sie laut. Schlagartig war sie wieder voll konzentriert, rutschte auf ihrem Sessel elektrisiert nach vorn.

      „Ja, hier in Lienz. Stand in einer kleinen Nebenstraße und ist völlig ausgebrannt. Die Verkleidung des Hauses, vor dem er parkte, brannte bereits. Es konnte gerade noch rechtzeitig gelöscht werden. Wenn der Zeitungsausträger nicht gewesen wäre, hätten wir vielleicht ein paar Tote gehabt. Es war pures Glück. Die Kriminaltechniker haben bei der Spurensuche festgestellt, dass der Wagen in Frankreich gestohlen wurde. Dafür ist ein paar Straßen weiter ein fast neuer Mercedes von Landsleuten von Ihnen verschwunden. Das Gejammer habe ich jetzt noch in den Ohren.“

      „Wo genau in Frankreich ist der Wagen gestohlen worden?“

      Valerie beugte sich bei der Frage noch weiter nach vorn und wartete angespannt auf seine Antwort.

      „Moment“, sagte Obermeier und schlug die Seite noch einmal um.

      Mit seinem Finger fuhr er die Zeilen ab, um keine Information zu überlesen.

      „Nein, steht hier nicht drin“, antwortete der österreichische Kollege dann bedauernd und klappte den Ordner zu. “Hier sind nur die bloßen Einsätze festgehalten.“

      Valerie fixierte ihn bittend mit ihren grünen Augen und neigte den Kopf zur Seite. Ohne dass sie etwas sagen musste, schnappte er sich seufzend den Hörer und drückte auf eine Kurzwahlnummer.

      Seinen Kollegen, der sich am anderen Ende der Leitung meldete, sprach er in einem derartig breitgezogenem Dialekt an, dass Valerie bis auf das Wort Porsche kaum etwas verstand.

      „Metz“, sagte er dann wie beiläufig, als er den Hörer in die Gabel knallte.

      Metz.

      Ein Wort wie ein Stich, ein kurzer, bohrender Schmerz.

      In der Nähe von Metz war Felix Jacquemin gestorben. Wie hatte Anna in ihrer unnachahmlichen Art gemeint, hüpft von einer Brücke, platsch, genau vor einen Lkw.

      Sofort stellte sich bei ihr dieses undefinierbare Gefühl ein. Immer wenn sie etwas Bedrohliches wahrnahm, breitete sich von einem Punkt im Hinterkopf zwischen den Ohren Wärme aus, wurde immer heißer, wanderte bis hinunter in den Nacken. Schließlich hörte sie das Blut in den Ohren rauschen. Das erste Mal, dass sie sie verspürte, war bei einem nächtlichen Einsatz im Kriminaldauerdienst gewesen. Ein Kneipeneinbruch. Die Polizei fuhr vor, als der Täter gerade aus einem Oberlicht klettern wollte. Er sah die Fahrzeuge und war sofort wieder im Gebäude verschwunden. Es gab also keinen Zweifel daran, dass er noch drinnen war und er kam einfach nicht heraus. Ein Diensthund war in dieser Nacht nicht zu bekommen. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Kneipe zu betreten und zu durchsuchen. Ein Scheißgefühl im Magen, stockfinster, nur das Licht der Taschenlampen, weil niemand wusste, wo in dieser verdammten Pinte die Schalter waren. Dann konnte sie ihn hören, trotz des Rauschens in den Ohren, sein Atmen, Adrenalin pur. Er stand versteckt hinter einer Tür. Sie schlich sich weiter heran, dann konnte sie ihn auch riechen.

      Eingeschissen hatte er sich, vor lauter Angst. Sie drückte ihm die Taschenlampe an den Hals, mindestens genauso aufgeregt wie er.

      Metz.

      Dieses eine Wort veränderte alles. Nun war auch Valerie davon überzeugt, dass es einen Zusammenhang gab, geben musste.

      Die Antwort konnte nur bei den noch lebenden Soldaten der kleinen Kommandoeinheit zu finden sein. Aber wie sollte sie vorgehen? Drei Todesfälle in drei verschiedenen Ländern, als Unfälle behandelt und von den Ermittlern längst abgehakt.

      Und außerdem, die dringlichste Frage bei einem Verbrechen ohne Täter, der wichtigste Ansatzpunkt, das Motiv.

      Sie musste zurück nach Den Haag, so schnell wie möglich.

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