Jahr der Ratten. L.U. Ulder. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: L.U. Ulder
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738017168
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etwas Glück gab Anna irgendwann Ruhe und ließ die Sache auf sich beruhen. Manchmal half es, etwas Gras wachsen zu lassen.

      Insgeheim gestand sie sich ein, dass dies ein frommer Wunsch bleiben würde. Sie hatte die Augen ihrer Freundin gesehen, als sie von den Todesfällen sprach. Anna würde nicht so schnell locker lassen.

      Realistischer war es, sich schon einmal eine passende Legende zu stricken, bevor sie in den nächsten Tagen die örtliche Polizeidienststelle aufsuchen würde.

      Valerie legte die Akten an die Seite und widmete sich schulterzuckend einer anderen, nicht wesentlich angenehmeren Aufgabe. Auf sie warteten Berge von Statistiken, die in ein einheitliches System überführt werden wollten.

      Kapitel 8

      „War das die erste Mail?“

      „Die erste, die wir abgefangen konnten. Es gibt keinerlei Hinweise auf weitere Mails. Auch aus dem Text ergibt sich das nicht.“

      „Wir müssen herausbekommen, was sie weiß.“

      „Sie kann nichts wissen, überhaupt nichts. Sie stochert in etwas herum, was ihr seltsam vorgekommen ist.“

      „Das ist alarmierend genug, sie muss überwacht werden. Wenn sie keine Ruhe gibt, sorgen Sie dafür, dass sie versetzt wird. Das dürfte zum Anfang reichen.“

       ****

      Der Kopf des kleinen Äffchens war im Laufe der Jahre ganz blank gestreichelt worden. Während sich die restliche Oberfläche rau und narbig anfühlte, wirkte der Kopf wie poliert. Seit dem Mittelalter hatte das schmiedeeiserne Kerlchen seinen festen Platz an der Fassade des Rathauses von Mons.

      Der Sage nach soll es dem Glück bringen, der den Kopf des Affen mit der linken Hand streichelt.

      Die Bürger von Mons, dem charmanten, kleinen Städtchen am Fluss Haine in der belgischen Region Wallonien gelegen, scheinen eine ganze Menge Glück zu benötigen.

      Möglicherweise bedingt durch die prominente Nachbarschaft, schließlich ist in Mons, knapp siebzig Kilometer von Brüssel entfernt, das SHAPE ansässig.

      SHAPE, das Supreme Headquarters Allied Powers Europe, eines der beiden strategischen Hauptquartiere der NATO. Als Allied Command Operations, kurz ACO, unterstehen ihm „Operative und Taktische Kommandos“ und mehrere multinationale Korps als sogenannte Task-Force Einheiten. So fiel auch die SFOR-Operation in Bosnien und Herzegowina in den Zuständigkeitsbereich der ACO.

      Es versteht sich von selbst, dass die Informationsflüsse dieser Behörde als Top Secret eingestuft sind und überwacht werden.

      ****

      Automatische Suchprogramme scannen die überwachten Daten nach bestimmten, zuvor programmierten Keywords durch.

      In den von Anna per Mail verschickten Aktenauszügen war vom Tod die Rede, dem Tod in seinen verschiedensten Facetten.

      Unmengen von Schlüsselworten, die eine routinemäßige Aktivität in Gang setzten.

      Der Offizier vom Dienst erhielt eine automatisierte Warnung vom System, loggte sich ein und überprüfte die angezeigten Informationen. Der Zufall wollte es, dass an diesem Tag ein Vertreter der US-Streitkräfte seinen Dienst verrichtete und sofort die Brisanz, die ihr Inhalt enthielt, erkannte. Der Mann verließ unter einem Vorwand seinen Platz im Lagezentrum. Sobald er sich unbeobachtet fühlte, hatte er es plötzlich verdammt eilig. Er beschleunigte seine Schritte und suchte auf dem kürzesten Weg sein Büro auf. Hier überflog er ein weiteres Mal die wenigen Blätter. Besonders interessiert schaute er sich die Stellen an, die Anna-Lena mit einem farbigen Textmarker hervorgehoben hatte und die jetzt, bedingt durch die schwarz-weiße Kopie, wie ein durchsichtiges Grau aus dem Rest des Textes hervorstachen. Anschließend führte er ein kurzes Telefonat. Das war am frühen Morgen. Im Laufe des Tages war er mit so vielen anderen Problemen beschäftigt, dass er die Kopien beinahe vergessen hatte. Am späten Nachmittag, er war gerade dabei, seinen Schreibtisch zu ordnen und sich auf den Feierabend vorzubereiten, klopfte es an der Tür.

      Ein Schrank von einem Mann, vielleicht Mitte fünfzig, militärisch kurzer Stoppelhaarschnitt, stand vor der Tür. Grau-blonde Haare glitzerten im Neonlicht des Flures.

      Das gebräunte Gesicht war tief zerfurcht und endete in einem markanten, eckigen Kinn, das energisch vorgereckt war.

      Eine Narbe schräg über dem linken Auge verlieh dem Mann ein gefährliches, grausames Aussehen. Seine teure Kleidung war nicht in der Lage, die sportliche, austrainierte Figur zu kaschieren.

      „Sie haben uns angerufen“, sagte der Mann wie beiläufig und trat ein, ohne aufgefordert worden zu sein.

      Er hatte ein Problem mit dem linken Bein, zog es kaum merklich nach. Durch einen besonders zackig-militärischen Schritt wäre es ihm fast gelungen, es zu verbergen, aber der Mann, der ihn mit seinem Anruf auf den Plan gerufen hatte, war nicht umsonst mehrere Jahre Drill-Sergeant gewesen. Soldaten, die bei der Formalausbildung aus der Reihe tanzten, weil sie den Schritt nicht halten konnten, waren ihm augenblicklich aufgefallen.

      Vorn am Revers klammerte ein Besucherausweis.

      Laut diesem Ausweis war der Name des Mannes Madsen. Aber der Offizier war sich bewusst, dass da auch genauso gut Miller oder Smith hätte stehen können. Der Name war eine Legende, pure Erfindung.

      Keine Erfindung, sondern überaus real war die eisige Kälte, die dieser Typ ausstrahlte. Zusammengepresste, schmale Lippen, hellgraue Augen eines Wolfes, die durchdringend wie Röntgenstrahlen starren konnten.

      Madsen ließ sich die Kopien geben und studierte sie Wort für Wort. Es verging einige Zeit, bis er seinen Kopf wieder hochnahm und sein Gegenüber aufmerksam, eindringlich musterte.

      Der Mann, immerhin ein hochrangiger und hochdekorierter Offizier, fühlte sich sichtlich unwohl. Er tänzelte vor dem Besucher wie ein Schüler bei der mündlichen Prüfung und zerrte nervös an seiner Krawatte.

      „Mich würde eines interessieren. Wieso haben Sie uns angerufen? Was hat sie alarmiert?“

      Die hellen Augen bohrten tief in ihn hinein.

      Der Offizier trat von einem Fuß auf den anderen. Er wirkte völlig verunsichert. Es schien, als wüsste er nicht, wie viel von seinem Wissen er preisgeben dürfe.

      „Ich habe mich seinerzeit mit meiner Einheit in Bosnien und Herzegowina befunden und war an dem Tag im Befehlsleitstand. Ich war dabei, als der Befehl Star... .“

      Eine energische Handbewegung ließ ihn abrupt mitten im Wort abbrechen.

      „Der Name dieses Befehls darf niemals genannt werden, niemals. Es hat ihn nie gegeben.“

      Madsen sprach leise, die Eindringlichkeit seiner Worte unterstrich er mit seinen stechenden Augen.

      Der Offizier nickte.

      Sein Besucher stand auf, er behielt die kopierten Unterlagen in seiner rechten Hand.

      „Und? Haben wir etwas mit den Toten zu tun?“

      Madsen schaute den Offizier eindringlich an, der Mann wich unmerklich zurück.

      „Rufen Sie wieder an, sobald Sie etwas Neues haben.“

      Das war keine Bitte.

      Dann verließ er grußlos den Raum, die Unterlagen ließ er in der Innentasche seines Jacketts verschwinden.

      Der Militär blieb allein zurück, ganz grau im Gesicht. Er sah aus wie jemand, der unbedingt einen schmiedeeisernen Affen streicheln sollte.

      Kapitel 9

      Das Telefon klingelte unaufhörlich. Obwohl sie selbst die Anruferin war, ging ihr das unterdrückte Geräusch in der Hörmuschel auf die Nerven. Wieder und wieder die gleiche monotone Melodie. Jeden Augenblick musste