Valerie starrte gebannt ihre Freundin an und zog die Augenbrauen zusammen, sagte aber nichts. Sie war der Welt um sich herum so entrückt, dass es keinen Sinn machte, sie auf diesem Trip zu stören.
„Ich gehe in diesen Film immer noch auf, obwohl er schon so alt ist“, sagte Anna gleich darauf, in die Gegenwart zurückgekehrt.
„Vor allen Dingen seine Sprüche. Einen Silberreiher erkenne ich noch nicht einmal, wenn ich auf ihn pisse.
Oder
Nach dem Essen schiebe ich gern ein kleines Nümmerchen. Herrlich, ich auch. Obwohl Nicholson überhaupt nicht mein Typ ist, dieser alte Sack. Eher schon der langhaarige Surfer von vorhin, der mit den blonden Rastalocken.“
Anna-Lena lag in einem viel zu weiten Jogginganzug ausgestreckt im Ohrensessel. Von dem Temperaturunterschied zwischen dem kalten Nordseewasser und der heißen Dusche waren ihre Wangen glutrot. Die Füße flegelten auf dem Hocker und sie seufzte auf vollem Herzen.
Valerie musterte ihre Freundin stirnrunzelnd.
Wenn sie so ihr Lover sehen könnte.
„Und? Was war nun mit dem autoerotischen Unfall? Muss ich mir Sorgen um dich machen?“
„Jein, nicht um mich. Aber um die Morde. Das ist eine merkwürdige Geschichte, ziemlich schwammig, wenn du mich fragst.“
Endlich war Anna der Handlung des Spielfilms entrissen.
Ihre Körperhaltung straffte sich deutlich, sie legte ihre Hand auf Valeries Oberarm und schaute ihr tief in die Augen. Ihre Stimme bekam einen verschwörerischen Ton, als sie begann, von merkwürdigen Todesfällen zu erzählen.
Valeries Sorgen bezogen sich auf Annas ausschweifendes Privatleben, ihre ständig wechselnden Sexualpartner und ihr Verhältnis zu diesem verheiratetem Mann. Deshalb hatte sie nachgefragt. Diese eigenartigen Unfälle interessierten sie eigentlich nicht.
Außerdem irritierten sie die Begriffe wie IFOR, SFOR und EUFOR, mit denen Anna herumwarf. Obwohl sie alle irgendwann einmal in den Nachrichten mit halbem Ohr wahrgenommen hatte, wusste sie nichts Rechtes mit ihnen anzufangen. Schließlich ärgerte sie sich, überhaupt nachgefragt zu haben. Annas Vortrag wollte kein Ende nehmen.
„Die SFOR war die Schutztruppe der NATO in Bosnien und Herzegowina, Stabilisation Force, verstehst du? Die IFOR war ihr Vorläufer. Die EUFOR war dann eine Schutztruppe unter dem Kommando der Europäischen Union als Nachfolger der SFOR. Multinationale Verbände, Soldaten aus verschiedenen Mitgliedsländern. Ganz einfach, eigentlich.“
Valerie zuckte mit den Schultern.
„Die Sache mit dem Motorrad auf dem Großglockner konnte genauso gut ein ganz normaler Verkehrsunfall gewesen sein. Es führt eine Passstraße über den Berg, da hat er einen Unfall gehabt. Wahrscheinlich hat er es in einer Kurve übertrieben. Kommt vor, immer wieder.“
„Ja sicher. Aber der Franzose ist von einer Brücke gesprungen, platsch. Genau vor einen Lkw. Und der Niederländer hatte diesen autoerotischen Unfall. Mit dem hat es angefangen.“
Bei dem Wort ‚autoerotisch‘ konnte sie sich ein verschmitztes Grinsen nicht verkneifen, wurde aber augenblicklich wieder ernst.
„Da stinkt etwas zum Himmel, glaub mir. Ich kann es bis hierhin riechen, sage ich dir. Hör mal, das kann doch kein Zufall sein. Alle drei Soldaten waren im Camp Butmir bei Sarajevo, in Bosnien und Herzegowina, stationiert. Sie waren Teilnehmer einer Patrouille, die in der Nähe von Sarajewo von Unbekannten aus dem Hinterhalt angegriffen wurde. Es sind damals mehrere Soldaten und alle Angreifer gestorben. Das Ganze passierte zwei Wochen, bevor das Mandat der SFOR dort unten beendet wurde und sie von der EUFOR abgelöst wurde. Ich weiß noch genau, was damals im Hauptquartier für eine Aufregung geherrscht hat. Und plötzlich gab es eine Nachrichtensperre, nichts, absolut nichts ging mehr an Informationen raus, direkt gespenstisch. Das hat die Gerüchteküche natürlich zusätzlich angeheizt. Ich weiß das deshalb noch so genau, weil ich damals gerade meinem Job begonnen hatte und dachte, was ist denn hier los? Eines weiß ich genau, so viele Zufälle kann es einfach nicht geben.“
Ihre Hand, die sie zuvor zurückgezogen hatte, legte sich wieder auf Valeries Unterarm, schmerzhaft gruben sich die Fingernägel in die Haut.
„Es ist ein Mörder unterwegs. Ich bin mir sicher, ich spüre es. Drei Männer, die diesen gemeinsamen Background haben, die in dieser merkwürdigen Einheit waren, im allerbesten Alter, topfit, sterben doch nicht plötzlich fast zur gleichen Zeit, innerhalb von einem Monat. Und das fast vier Jahre nach dem Vorfall.“
Valerie schaute erst irritiert auf Annas Hand, dann in das Gesicht der Freundin. Die Augen waren weit aufgerissen, aber der Blick war seltsam entrückt, nach innen gerichtet.
Sie war von ihrer Vermutung vollkommen überzeugt, würde sich davon nicht mehr abbringen lassen.
Anna und ihre Verschwörungstheorien.
Unvergessen, beinahe schon legendär war eine kleine Anekdote, die im gemeinsamen Freundeskreis und darüber hinaus über Jahre hinweg für ausgelassene Heiterkeit bei geselligen Zusammenkünften gesorgt hatte.
Anna fuhr mit dem Auto durch eine kleine, gediegene Hamburger Wohnsiedlung. Im Vorbeifahren beobachtete sie vor einem Haus zwei Männer, die eine Frau an den Armen hielten, anhoben und zu einem Auto trugen.
Aufgeregt fuhr sie weiter, hielt an der nächsten Telefonzelle und gab der Polizei das Kennzeichen des Autos und die Fahrtrichtung durch.
Dann verfolgte sie die Kidnapper, die schon bald darauf von einer bis an die Zähne bewaffneten Polizeieinheit gestoppt wurden. Die völlig überraschten Insassen schauten unvermittelt in großkalibrige Pistolenmündungen.
Es stellte sich schließlich heraus, dass es sich um ein Ehepaar mit beinahe volljährigem Sohn handelte. Die Mutter hatte sich beim Abschied an der Tür nicht von ihrer Bekannten trennen können und war kurzerhand mit sanfter Gewalt in den Wagen bugsiert worden.
Die fröhlichen Gesichter bei der angeblichen Entführung musste Anna ebenso übersehen haben wie die winkenden Gastgeber vor dem Haus.
Wenn Anna-Lena erst mal in Fahrt geraten war, ließ sie sich nur schwer ausbremsen.
Aus diesem Grund ließ sich Valerie diesmal nicht von ihrer Freundin anstecken. Es gelang ihr, die Aufmerksamkeit zunächst wieder auf den Film zu richten. Aber es nutzte nichts, gleich darauf fing Anna wieder an.
„Drei junge Männer mit einem gemeinsamen Background sterben innerhalb kürzester Zeit. Überleg doch mal.“
„Aber es hat doch Todesermittlungen gegeben. Du hast gesagt, bei allen steht Unfalltod oder Freitod in der Akte. Zu diesem Ergebnis muss doch irgendjemand gekommen sein.“
„Na und. Ich möchte nicht wissen, wie viele alte Leutchen Jahr für Jahr als Unfalltote begraben werden und in Wahrheit hat jemand nachgeholfen, dass die Erboma auf der Treppe abgeschmiert ist. Du hast selber mal gesagt, dass es eine Grauzone gibt und dass viele unnatürliche Tode nicht entdeckt werden.“
„Ja, mag sein. Aber wenn die Ermittlungen abgeschlossen sind, ist die Luft raus. Wenn Gift im Spiel ist, kann man im Nachhinein, wenn sich neue Erkenntnisse ergeben haben, noch feingewebliche Untersuchungen durchführen, die einen Nachweis erbringen könnten. Aber wenn eine objektive Tatortaufnahme nichts erbracht hat, keinen Hinweis auf ein Fremdverschulden, dann wird nachträglich auch nichts anderes herauskommen. Außerdem sind die Vorfälle alle im Ausland geschehen, da habe ich eh keine Chance.“
Anna verzog das Gesicht zu einer Grimasse und äffte ihre Freundin nach.
„Du bist jetzt bei Europol, natürlich kannst du nachforschen. Du musst nach Verbindungen zwischen den einzelnen Unfällen suchen. Ich bin sicher, du findest etwas, wenn du nur suchst.“
Valerie verdrehte die Augen.
„Warum ich? Sag doch auf Deiner