Der Fahrer rutschte hilflos über den Asphalt hinterher.
Mit beiden Rädern schlug das Krad ungebremst gegen das erhöhte Straßenbord. Die Wucht des Aufpralls hob es an und stellte es aufrecht. Wie in Zeitlupe kippte es schließlich mit einem Scheppern über die Bordsteinkante und verschwand aus dem Sichtbereich.
Rosbachers Sturz wurde von der Lederkombi abgebremst, mit dem letzten Rest der Bewegungsenergie stieß er gegen das Straßenbord und blieb benommen auf dem Bauch liegen. Das linke Bein war unnatürlich verdreht. Er versuchte gerade, sich zu erheben, als zwei Beine breitbeinig über ihn traten.
****
Der fremde Fahrer hatte den Sportwagen am Fahrbahnrand abgestellt und war ausgestiegen. Schnell schaute er sich nach allen Seiten um, dann überquerte er zügig die Straße. Während des Gehens zog er sich dünne Lederhandschuhe an. Als er dann breitbeinig über dem gestürzten Motorradfahrer stand und sich hinunter beugte, sah es zunächst so aus, als wolle er dem Verunglückten helfen. Er erfasste den Helm mit beiden Händen und riss ihn nach oben. Dann zog er den Kopf rücksichtslos nach hinten und drehte ihn brutal zur Seite. Der Hals wurde überdehnt, die Arme des Opfers ruderten ein letztes Mal hilflos durch die Luft. Ein kaum vernehmbares Knacken signalisierte, dass es zu Ende war. Die Arme fielen nach unten, der Körper erschlaffte, ein Halswirbel war gebrochen. Florian Rosbacher war tot.
Vorsichtshalber drehte der Mörder den Kopf seines Opfers nach beiden Seiten.
Es gab keine Reaktion mehr.
Schnell zog der Fremde dem Toten die Lederhandschuhe aus und warf sie mit Schwung in den Abgrund. Er griff sich in die Jackentasche und holte ein Messer hervor. Mit wenigen Handgriffen vollendete er sein Werk und zerrte den leblosen Körper über den erhöhten Rand. Er gab dem Leib einen kräftigen Tritt und der Leichnam rollte und rutschte den Hang hinab, dem Motorrad hinterher.
Keinen Augenblick zu früh, aus Richtung des Pasterzengletschers näherte sich ein Auto. Noch war es zu weit entfernt, als dass die Insassen Einzelheiten erkennen konnten. Schnell überquerte der Mörder die Straße und stieg in den Sportwagen ein. Abgebrüht wartete er, bis der fremde Wagen für einen kurzen Augenblick hinter einer Biegung verschwunden war. Diesen Moment nutzte er, um den Porsche zu wenden. Zügig entfernte er sich wieder in Richtung der Hauptstrecke. Die Insassen des Wagens, der gleich an Rosbachers Todesstelle vorbei kommen musste, dürften ihn nicht bemerkt haben.
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3.
Kapitel 5
Brüssel.
NATO-Hauptquartier.
Gemütlich schlenderte Anna-Lena den langen Flur entlang. Sie kam von der Toilette, heimlich hatte sie in der letzten Kabine am Fenster eine Zigarette geraucht und danach in aller Ruhe ihr Make-up gerichtet, so, als hätte sie alle Zeit der Welt. Jetzt zeigte sie nicht den geringsten Ehrgeiz, sonderlich schnell an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren. Der Tag war schließlich noch lang genug.
Da kam sie wieder, die Nische im Gang, an der sie vorbeigehen musste. Nur noch wenige Schritte.
Angestrengt versuchte sie, geradeaus zu schauen. Aber schließlich blieb sie doch stehen, wie jedes Mal.
Wie ein Exhibitionist, der seinem nichts ahnenden Opfer auflauert, plötzlich vorspringt und den Trenchcoat aufreißt, stand er da. Eine blechgewordene Versuchung, die ihr jeden Tag aufs Neue auflauerte und den Gang zur Toilette, dem einzigen Ort, an dem sie in Ruhe eine Zigarette rauchen konnte, zur Qual werden ließ.
Resignierend blieb sie stehen und drehte sich zur Seite. Interessiert schaute sie sich das Angebot an, wie jeden Tag. Sie kannte es bereits in und auswendig. Und wie an beinahe jedem Tag warf sie eine Münze ein.
Während sich das Geldstück mit gedämpften Klickergeräuschen den Weg durch den Snackautomaten bahnte, betrachtete Anna-Lena sich in der Spiegelung der glänzenden Oberfläche des Gerätes. Sie drehte sich nach allen Seiten und strich über ihre Figur. Das Ergebnis schien sie nicht zufrieden zustellen. Ihr Mund verzog sich zu einem Flunsch, als sie das Hüftpolster eindrückte.
„Na, kneift es?“
Der spöttisch-süffisante Unterton brachte ihre Ohren augenblicklich zum Glühen. Anna-Lena wirbelte erschrocken herum. Sie war so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass ihr die herannahenden Schritte völlig entgangen waren.
Ellen, ihre belgische Kollegin aus der Personalabteilung, stolzierte schnurstracks in Richtung Toilette vorbei. Den Kopf zur Seite gedreht, das Gesicht eine überfreundliche Maske, ein starker Kontrast zu ihren ätzenden Worten.
Ein dunkelblondes Etwas aus Haut und hervortretenden Knochen, das, so wie es aussah, keine Gedanken an Kalorien verschwenden musste. Das Ellen ist kein Mensch, hatte Anna-Lena einmal in einer Mischung aus Neid und Frust zu Valerie gesagt. Das Ellen hat den Stoffwechsel einer Möwe. Und ergänzte ungerührt, als Valerie erstaunt aufblickte und auf eine Erklärung wartete, fressen und scheißen.
Annas Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen, sie öffnete den Mund, wollte diese Frechheit reagieren, aber sie war sprachlos, auf die Schnelle fehlten ihr die Worte. Ellen war längst im langen Flur verschwunden.
Verärgert strich sich Anna die Bluse glatt und stapfte zurück ins Büro. An den Euro im Automaten verschwendete sie keinen Gedanken mehr.
An ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt, schaute sie resignierend auf den Stapel neu eingegangener Akten, die vom Büroboten während ihrer Abwesenheit zurückgelassen worden waren. Sie seufzte. Zur Fremdsprachenkorrespondentin hatte sie sich ausbilden lassen und jetzt verwaltete sie schon seit einigen Jahren an einem winzigen Schreibtisch in einem Großraumbüro des NATO-Hauptquartiers in Brüssel Personalakten von aktiven und ehemaligen Soldaten. Ihre Karriere hatte eigentlich einen anderen Verlauf nehmen sollen, wie sie Valerie wiederholt vorjammerte. Aber der Job wurde ganz passabel bezahlt und überarbeiten brauchte sie sich auch nicht, zwei gewichtige Argumente, um nicht hinzuwerfen.
Mal sehen, was haben wir denn hier? Sprach sie mit sich selbst.
In ihrer Hand hielt sie die dürre, amtliche Mitteilung über einen Todesfall. Eine nichtssagende Nachricht in spröden Worten, ohne jede Pietät. Die Sachbearbeiterin rief das Programm auf und tippte einen Namen ein. Es dauerte einen kurzen Augenblick, dann spuckte der Computer aus der gigantischen Datensammlung die entsprechende Akte aus und stellte die Daten zur Verfügung. Eher desinteressiert arbeitete sich Anna-Lena durch die bereitgestellten Informationen.
Dann fiel ihr Blick auf den Ordner, der die Bilder des Verstorbenen verwaltete. Er enthielt nur Aufnahmen für dienstliche, militärische Zwecke. Passfotos für mehrere nacheinander erstellte Wehrausweise, die die persönliche Entwicklung des Mannes nachvollziehen ließen. Ein junger Kerl noch und ausgesprochen attraktiv dazu. Lange schaute sie das Foto des schlanken, dunkelhaarigen Mannes an, selbstbewusster Blick, kantige Züge.
Florian Rosbacher, ehemaliger Angehöriger des österreichischen Bundesheeres, bis 2004 Freiwilliger der SFOR im Camp Butmir, Sarajewo, Bosnien und Herzegowina.
Neugierig blätterte Anna-Lena in der dünnen, nur wenige Seiten umfassenden Todesmitteilung.
„Mit dem Motorrad abgestürzt, am Großglockner“ las sie stirnrunzelnd den kurzen Bericht laut vor und schüttelte den Kopf. Sie lachte glucksend auf, schämte sich aber gleich dafür.
„Ein Motorrad auf einem Berg“.
Was sie dann aber weiter las, nahm ihre Aufmerksamkeit mehr und mehr in Anspruch. Rosbacher war Mitglied einer kleinen Patrouilleneinheit gewesen, die Mitte November 2004 in der Nähe von Pale, Bosnien und Herzegowina, in einen Hinterhalt geraten war. Es hatte eine wüste Schießerei gegeben, bei denen mehrere Soldaten und bosnische Freischärler auf der Strecke geblieben waren.
Aber das schien es