Anna-Lena legte die Akte schließlich doch zur Seite und bückte sich hinunter zu den Schubladen. Sie kramte sich durch die einzelnen Schubladen, bis sie endlich in der untersten fündig wurde. Versteckt unter Bergen vom Stanniolpapier der Süßigkeiten, die sich fortwährend in den Mund schob, lag sie, ihre Eingangs-und Ausgangsliste. Natürlich verfügte auch ihr Computerprogramm über eine derartige Listenfunktion, aber Anna-Lena war durch und durch misstrauisch. Schon gar nicht mochte sie sich unpersönlicher Technik anvertrauen. Deshalb führte sie, ganz altmodisch und vorsorglich, eine handgeschriebene Liste, nebenbei, versteht sich. Denn sicher ist sicher.
Sie ließ den Finger die Zahlenreihen hinuntergleiten, bis sie die gesuchten Eintragungen gefunden hatte. Sie schrieb sich die Aktenzeichen auf und ging damit an den großen Wandschrank, in dem die eingegangenen Todesmitteilungen abgelegt wurden. Schnell wurde sie auch hier fündig und zog zwei Aktenordner aus dem Regal, ebenso dünn wie die von Florian Rosbacher.
Ja, da waren sie, Piet Lijsen und Felix Jacquemin, beide aus der gleichen Einheit wie der Österreicher und beide genauso tot, las sie in den knappen Notizen.
Es kamen ständig Mitteilungen über NATO-Soldaten herein und das jemand davon starb, war für sich genommen noch nicht ungewöhnlich. Aber drei tote Soldaten im besten Alter, die gemeinsam Dienst gemacht hatten, wenn das nicht auffällig war.
Und ausgerechnet bei dieser Einheit. Zwei Wochen vor dem Ende des SFOR-Mandats in Bosnien war es zu diesem Zwischenfall gekommen, der im Hauptquartier der NATO kräftige Blasen gezogen hatte. Der Überfall war im ganzen Haus das beherrschende Thema gewesen, die Gerüchteküche kochte hoch. Die abstrusesten Theorien wurden gehandelt, von Korruption und Verrat war die Rede gewesen. Dann urplötzlich, als wäre von jemandem ein Schalter umgelegt worden, herrschte das große Schweigen.
In diesen unruhigen Tagen trat Anna-Lena ihre neue Tätigkeit bei der NATO an. Interessiert verfolgte sie die Versuche ihrer neuen Kollegen, an Informationen zu gelangen. Aber obwohl die hektischen Aktivitäten der Diplomaten und Verbindungsoffiziere der einzelnen Nationen die Gerüchteküche schürten, es drangen so gut wie keine Details ans Tageslicht. Die NATO-Führung gab ein offizielles Kommuniqué über diesen Zwischenfall heraus, wonach es sich um einen Angriff von Rebellen auf eine SFOR-Patrouille gehandelt habe. Mehr war niemals durchgesickert. Jedem Insider war klar gewesen, dass diese Mitteilung nicht das Papier wert gewesen war, auf dem sie abgedruckt wurde. Aber wie immer, wenn irgendetwas zum Himmel stinkt, hörten auch hier die Fragen mit der Zeit auf. Neue Schlagzeilen schoben sich in den Vordergrund und verdrängten die alten. Und irgendwann legte sich der Schleier des Vergessens über die Affäre.
Drei ehemalige Angehörige ausgerechnet dieser geheimnisumrankten, fast vergessenen Militäraktion schieden kurz hintereinander aus dem Leben. Die ersten beiden Todesfälle lagen gut zwei Wochen auseinander, das Unglück auf dem Großglockner hatte nicht ganz solange auf sich warten lassen. Das konnte kein Zufall sein.
Neugierig arbeitete sich Anna-Lena durch die anderen Akten und bemühte ihren Computer.
Piet Lijsen – autoerotischer Unfall.
Ihre Augen glänzten, sie erinnerte sich an die Meldung und an Valeries Ausführungen zum Thema Autoerotik bei Männern. Sie las wieder und wieder in der Akte, fand aber keine Antwort, die ihren Wissensdurst zu stillen schien.
Dann der Franzose.
Felix Jacquemin war von einer Brücke gehüpft, direkt vor einen Lkw.
Selbstmord.
Sie alle waren durch irgendwelche obskuren Unfälle oder durch einen Selbstmord ums Leben gekommen.
Aufgeregt wischte sich Anna-Lena die Haare aus dem Gesicht, das eine deutliche Rötung angenommen hatte. Schnell nahm sie einem Schluck aus dem Glas Orangensaft, das auf ihrem Schreibtisch stand.
Ihren leuchtenden Augen war deutlich anzusehen, dass sie etwas ausbrütete.
Kapitel 6
Slufterstrand, Maasvlakte.
Niederlande
Die beiden vollen Brüste wippten wie große, schwere Bälle auf und ab, der dünne Sport-BH schaffte es kaum, sie unter Kontrolle zu bringen.
Auf dem Parkplatz, nur wenige Schritte entfernt, waren zwei niederländische Kitesurfer aufmerksam geworden, die gerade ihren VW-Bus entluden. Die beiden schlanken, braun gebrannten Jungs ließen ihre Surfausrüstung Surfausrüstung sein und beobachteten wie hypnotisiert die Szene. Die Köpfe bewegten sich simultan zu Annas wogenden, sekundären Geschlechtsorganen.
„Anna, Mensch“, zischte Valerie und deutete, als die Angesprochene herüberschaute, unmerklich mit dem Kopf zu den beiden.
„Die Hälse der Kerle werden immer länger, und wer weiß was noch.“
Aber die Freundin ließ sich durch Publikum nicht beirren, im Gegenteil. Sie hielt kurz inne und schaute hinüber.
„Huhu.“
Mit der Linken hielt sie den Neoprenanzug am Kragen fest, mit der Rechten winkte sie den beiden Langhälsen zu, die den Gruß fröhlich erwiderten. Valerie wäre am liebsten im Boden versunken. Zum Glück fassten die beiden Typen Annas Unbefangenheit nicht als Einladung auf, sondern blieben bei ihrem Transporter und kümmerten sich schließlich wieder um die Sportausrüstung.
Anna machte weiter mit ihrem Versuch, den Surfanzug über die Hüfte zu bekommen. Der widerspenstige Einteiler mit dem Rückenreißverschluss wollte ums Verrecken nicht über das ausladende Hinterteil rutschen.
Es war Samstagmittag und auf der Nordsee wehte ein Westwind, der sich nicht zwischen vier und fünf Beaufort entscheiden konnte. Auf den Wellen waren kleine, weiße Schaumkrönchen, die die Wasseroberfläche wie einen überdimensionierten Cappuccino aussehen ließen. Alle Zeichen sprachen für einen vielversprechenden Tag.
Anna-Lena und Valerie befanden sich am Slufterstrand von Maasvlakte, niederländische Nordseeküste, südlich von Den Haag. Oben auf dem Deichparkplatz hatten sie ihr Surfequipment aus ihren Kombis entladen und bereiteten sich nun auf einen Nachmittag auf dem Wasser vor.
„Ich wusste gar nicht, dass Neopren einlaufen kann“, stöhnte Anna.
Valerie prustete.
„Doch, aber nur in der Breite, in der Länge bleibt es gleich.“
Anna, den Anzug mit Mühe und Not über den Hintern gezogen und einen Arm hineingesteckt, drehte sich langsam zu ihrer Freundin um. Dann lachten beide so laut, dass sich die Kitesurfer wieder aufmerksam wurden und sich umdrehten.
„Los, mach mir mal bitte den Reißverschluss zu“, forderte sie, nachdem auch der zweite Arm im Gummi untergebracht war. „Früher habe ich das noch allein hinbekommen, aber seit ich immer mehr wie dieses Reifenmännchen aussehe, ist es nur noch Quälerei.“
Das mit dem Männchen war zwar maßlos übertrieben, aber es ließ sich nicht abstreiten, dass der hinterlistige Snackautomat seine Spuren auf ihrer Figur hinterlassen hatte.
Valerie schloss den Anzug, drückte die Klettverschlüsse zusammen und befestigte das lange Reißverschlussband auf dem Rücken der Freundin. Gleich darauf saß Anna auf dem Boden, den Fuß an den Surfmast gedrückt und bemühte sich nach Kräften, mit der Trimmschot das Segel zu spannen.
„Also ehrlich, dieses Zusammenbauen vorher verdirbt einem die ganze Vorfreude. Es ist so was von mühselig, da wäre ein Mann wirklich mal nützlich.“
Durch die Anstrengung klang ihre Stimme gepresst.
Valerie lächelte verkniffen in sich hinein, sie hatte sich beim Trimmen des Segels gerade den Nagellack ruiniert.
„So ein Mist.“
„Was ist denn jetzt schon wieder?“
„Nagel