Ich locke dich. Wolf L. Sinak. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolf L. Sinak
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742758361
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jetzt streiche ich über Ihre Arme und Beine und das Gefühl wird wieder normal, Sie fühlen sich frisch und munter, Ihr Körper ist erholt und Sie brennen darauf, die Augen zu öffnen. Augen auf!“

      Frau Zarusch blickte sich um. Sie entdeckte das offene Fenster und rieb sich fröstelnd die Oberarme.

      „Wie geht es Ihnen?“, fragte Bunsel.

      „Ich fühle mich ausgeruht, erholt. Aber könnten Sie das Fenster schließen?“

      Anna ging sofort hin und schloss es, weil sie nicht Doktor Bunsels nach innen gekehrtes Wiehern sehen und sich anstecken lassen wollte. Er erklärte Frau Zarusch, was er mit dem Zahn gemacht hatte.

      „Doktor Klemmer hat mir aber gesagt“, fuhr sie dazwischen, „dass der Zahn offen bleiben muss, damit der Eiter abfließt.“

      „Das war vorige Woche, die Situation ist jetzt eine andere.“

      Sie nickte und bat, eine Frage stellen zu dürfen. „Würden Sie vor einer Gruppe von Leuten einen Vortrag über Hypnose halten und denen zeigen, was Sie so drauf haben?“

      „Ich mache fast alles, wenn der Rahmen stimmt, versteht sich. Wir telefonieren, okay?“

      Damit war die Behandlung abgeschlossen, Anna fuhr die Patientin zurück in die Sitzposition und Bunsel händigte ihr ein mit dem Logo der Praxis und der Kontonummer versehenes Blatt Papier aus.

      Als Letzte kam Anna ins Schwarzbierhaus, dessen Gaststätte aus zwei Etagen bestand. Die Grünwald hatte sich krankgemeldet. Doktor Bunsel stand auf und gab Anna die Hand. Er hatte einen grauen Rollkragenpullover an, unter dem sein Kehlkopf steckte wie eine kleine Brust. Anna setzte sich neben die Eisentraut, die zwei Lagen Lippenstift aufgetragen hatte. Und frisch rasiert, dachte Anna belustigt. Nach dem Essen fiel Frau Eisentraut ein, dass sie unbedingt etwas erzählen musste.

      „Erinnern Sie sich an Frau Zarusch heute Vormittag? Während ich einen Termin für sie suchte, langte sie über die Rezeption und nahm einen Kugelschreiber. Sie sah ihn komisch an und steckte ihn in ihre Handtasche. Vor meinen Augen! Ich sagte, wenn sie einen Kugelschreiber braucht, soll sie fragen oder in ein Fachgeschäft gehen. Ich forderte sie auf, ihn zurückzulegen, ansonsten würde ich den Zwischenfall nicht für mich behalten.“

      „Und?“, fragte Anna mit schwerer Stimme.

      „Kaum zu glauben, die hat noch gekränkt getan, als sie ihn wieder aus ihrer Tasche holte. Sie wäre in Gedanken gewesen und Diebstahl nicht ihre Art …“

      Frau Eisentraut wurde von etwas abgelenkt. Ein Mann kam die Treppe herunter. Seine Augen schauten konträr, als gehörten sie nicht zusammen. Auch schien es, dass er ohne das Geländer aufgeschmissen wäre. Die Eisentraut ging hin und führte ihn beiseite, konnte aber die eckigen Bewegungen des Mannes nicht verhindern.

      „Scheint ihr Mann zu sein“, sagte Bunsel und nippte an seinem Glas. „Und sieht aus, als macht er das öfter. Eine rote Nase kriegt man nicht von Mineralwasser.“

      Frau Eisentraut kam zurück. Der Lippenstift war nicht mehr das einzige Rot in ihrem Gesicht. Anna entdeckte es auch an den Ohren. Willkommen im Club. Frau Eisentraut verabschiedete sich und nahm den Mann mit.

      „Warum haben Sie Frau Zarusch das mit dem Kugelschreiber tun lassen?“, fragte Anna.

      „Um zu testen, ob die posthypnotische Suggestion wirksam ist und ob die Erinnerungslücke funktioniert.“

      „Und sie wird eintausend Euro überweisen, ohne eine Rechnung gesehen zu haben. Ist das legitim?“, fragte Anna.

      „Ist es vielleicht legitim, wenn Patienten ihre Rechnung nicht bezahlen? Ein Vorschuss ist legal.“

      „Sieht aus, als ob Hypnose neue Horizonte eröffnet.“

      Bunsel nickte und winkte der Kellnerin.

      „Noch andere Horizonte sind längst Realität, nur dass wir sie nicht gebührend nutzen. Sonst würden nicht abertausende Frauen ihre Brüste aufschneiden, mit Silikon ausstopfen und zu strammen geometrischen Wunderwerken formen lassen, von denen die Natur nichts Vergleichbares kennt.“ Bunsel zog ein Gesicht, als wäre er auf irgendeine Weise Leidtragender gewesen. Und als ob es Annas Markenzeichen war, schoss ihr Röte ins Gesicht. Sie wusste nicht, ob es wegen des pikanten Themas war oder der Tatsache, dass sie, Anna Lang, ganz oben stände, wenn es eine rechtmäßige Rangliste zur Brustvergrößerung gäbe – etwas, worüber sie bestimmt nicht mit Doktor Bunsel reden wollte.

      Auf der anderen Seite aber rebellierte ihr Minderwertigkeitskomplex, denn morgen und ohne den Wein in den Adern würde sie sich nicht trauen, aus dem Nichts heraus zu fragen, inwieweit Hypnose eine Alternative zu Silikonimplantaten darstellt.

      „Was hat Hypnose damit zu tun?“ Aber sie spürte die Antwort bereits.

      „Einer Reihe von Krankheiten ist Hypnose auf den Leib geschnitten. Ich nenne mal den Abbau von Ängsten, das Bettnässen, das Erröten …“

      Anna bekam Farbe und lachte.

      „Ich kenne jemanden“, sagte Bunsel, „dem würden die Schönheitschirurgen mit ihren Skalpellen liebend gern an die Kehle gehen, so erfolgreich ist er mit Hypnose. Gregor, mein Bekannter, schafft keine Guinness-Plastiken, er ist nicht Frankenstein. Er gibt den Frauen nur das, was ihnen zusteht, weil ihre Körper Aussetzer hatten, als die Brustzellen an der Reihe waren, sich zu bilden. Gregor sagt dem Körper, dass es endlich losgehen soll. Und das Ergebnis kann sich sehen lassen: fünf bis sieben Zentimeter Gewinn an Brustumfang. Und die Brüste, die er suggeriert, sehen nicht nur aus wie echt, sie sind es auch.“

      Anna hatte am Stiel ihres Weinglases einen Tropfen entdeckt. Sie rieb daran, rieb und rieb noch, als er längst verschwunden war. Doktor Bunsel glaubt bestimmt, dass ich frage, wo sein Bekannter wohnt. Eher gehe ich zu Frankenstein.

      „Gregor war mein Lehrer …“, sagte Bunsel. Er lehnte sich zurück und ließ die Hände auf dem Tisch, als sei deren Zugegensein beweisführend für das Gesagte. „… Das bedeutet, dass ich es auch kann.“

      Mit einem Schluck trank Anna den Rest des Weines. Zum Glück kam die Kellnerin zum Kassieren.

      5

      Seit einer viertel Stunde saßen Jens und Steffi vor der Hütte der Zirmaitalm, umgeben von Kühen mit schweren Glocken an den Hälsen, zwei Stunden Aufstieg vom Hanserhof in Spiluck entfernt. Steffis Gesicht steckte hinter der Videokamera. Sie hatte gesagt, einen Heimatfilm drehen zu wollen, und ihn gedrängt, pathetisch in die Ferne zu blicken. Jens lehnte sich auf der Bank zurück, deren Holz rissig und grau vom Gebirgswetter war, und blickte hoch zur Karspitze. Oben war der Berg leicht geweißt und zusammen mit der Sonne das einzige Objekt am blauen Himmel.

      Pathetisch zu blicken fiel Jens nicht schwer, das Zimmerproblem war dank einer Stornierung gelöst, Steffis Zimmer lag sogar neben seinem, und sie beide waren im BMW angereist, weil am Freitagabend ein steifhalsiger Rentner im Rückwärtsgang die Fahrertür von Steffis parkendem Corsa leicht eingedrückt hatte.

      Als die Szene abgedreht war, zog Jens aus seinem Rucksack die Creme fürs Gesicht. Dabei bekam er den Beutel zu fassen, den Steffi heute Morgen eingepackt hatte.

      „Was ist da drin?“, fragte er.

      „Wurst und Honig vom Frühstücksbüfett. Denn ich esse keinen Graukäse, den es hier oben geben soll.“

      Er spürte den Hauch eines Schauers auf seiner hellen Haut, der die Arme hinauf zu den Schultern huschte und am Rücken wieder hinablief, wie gewöhnlich, wenn das Wort Honig oder Marmelade fiel.

      Stampfend kam eine Kuh so nah heran, dass Jens seine Füße vorsichtshalber einzog. Steffi konnte die Kamera nicht schnell genug anschalten. Sie legte sie nieder, nahm ihm die Creme und den Honig aus der Hand, stellte sich hinter ihn und rieb seinen Nacken ein. Beiläufig erschrocken sagte sie: „Sorry, ich habe versehentlich den Honig erwischt …“

      Jens katapultierte von der Bank hoch, hob die Arme und wusste nicht,