Ich locke dich. Wolf L. Sinak. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolf L. Sinak
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742758361
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Wahnsinn hatte, auch wenn sein T-Shirt nur aus dünner Baumwolle bestand. Diese Vorstellung war zwanghaft und bei ihrer Umsetzung in die Realität so erbarmungslos, dass er nicht ausschließen konnte, selbst jemandem wie Steffi das Köpfchen um die eigene Achse zu drehen.

      Er schnaufte schwer, und in seinem Inneren brüllte er sie an, es nicht zu weit zu treiben, wenn sie beim Almabstieg nicht chronisch bergauf schauen wollte.

      „Nimm das Mineralwasser und reib den Mist ab, gründlich!“ In der Verzweiflungshaltung eines Geteerten und Gefederten stand er da, die Sehnen der ausgestreckten Arme wie Klaviersaiten gespannt, einer Vogelscheuche ähnlich. Obwohl es eine folgerichtige und gängige Reaktion seines Körpers war, beobachtete er verblüfft, wie an den Unterarmen eine Gänsehaut erblühte und sich ausbreitete, als würde er Zeuge der eigenen Transformation zum Federvieh. Ihm gelang es, ein Lächeln freizukämpfen, das sich anfühlte, als verliefen die Lachfalten in die falsche Richtung. Steffis heruntergeklappter Unterkiefer bewegte sich erst wieder, als sie sprach.

      „Langsam, langsam, das war nur ein Scherz. So harmlos wie Senf in einem Pfannkuchen.“

      „Harmlos?“

      „Ja! Soll ich einen Rettungshubschrauber kommen lassen?“

      Der Senner der Zirmaitalm, ein alter Mann in schwerer und abgeschabter Lederhose, die vermutlich seit Generationen in Familienbesitz war, lehnte drüben an der Hütte und amüsierte sich über das Treiben.

      „Ich bin dir eine Erklärung schuldig“, sagte Jens, nachdem sein Blutdruck wieder unten war. „Ich nehme an, schuld sind meine empfindliche Haut und die unzähligen Sonnenbrände, die ich von klein auf hatte. So ist das bei Rothaarigen. Wenn andere Kinder im Schwimmbad in der Sonne lagen, setzte ich mich abseits unter einen Baum. Aber das hielt ich nicht durch und gesellte mich wieder zu ihnen. Abends dann auf dem Nachhauseweg brillierten die anderen mit ihrer Bräune, und ich schlich nebenher wie das Opfer eines Bodypainters, der sich im Rotton vergriffen hat. Und in der Nacht war mir, als nisteten Feuerquallen auf meiner Pelle. Im Winter wurde ich gezwungen, einen Pullover zu tragen, den meine Großmutter aus Stacheldraht gestrickt haben musste, denn ich brauchte keinen Sonnenbrand mehr, um die Farbe einer Tomate anzunehmen. Seitdem kommt nur noch Baumwolle infrage, und wenn es kalt ist, werden die Hemden auf den Heizkörper gelegt, bevor sie mich berühren dürfen.“ Jens machte eine Pause. Er sprach nicht gern über das Thema, er war überzeugt, dass ein vorm Ertrinken Geretteter auch lieber an Berge dachte als ans Meer. „Um die Idiotie auf den Punkt zu bringen, erzähle ich dir jetzt von der schlimmsten Folter, die man mir antun könnte …“

      Steffi stellte die Videokamera an. Jens beschloss, die Szene später zu löschen. Er holte tief Luft:

      „Es muss sich verrückt anhören, aber ich liege gefesselt in der Sahara bei fünfzig Grad und bin nackt. Nach ein paar Stunden, wenn mir die Haut in Fetzen herunterhängt und ich schweißnass bin, kommt jemand und schmiert mich mit Marmelade oder Honig ein. Dann werde ich in einen superengen, tiefgekühlten Overall aus Wolle von alpinen Bergschafen gesteckt, darüber einen dicken Militärmantel, Tornister und Gasmaske darauf und ab geht es zu einem Gewaltmarsch durch die Wüste, sagen wir zehn Kilometer.“

      Steffi setzte die Kamera ab und fing an zu lachen. Jens auch, aber nicht so herzhaft. Seine Erzählung hatte die Gänsehaut knusprig gehalten und in seinem Inneren köchelte noch der Schock wegen der angeblichen Honigcreme.

      „Manchmal habe ich das Gefühl, keine Gänsehaut, sondern Noppen am Leib zu tragen“, sagte er und war der Meinung, dass es jetzt reichte mit diesem Thema. Er nahm sein Handy und erklärte, in der Praxis anrufen zu müssen. „Mal sehen, ob die schon den Laden ruiniert haben.“

      „Bitte nicht jetzt. Ich drehe einen Heimatfilm und keine Dienstbesprechung.“

      „Wenn man selbständig ist, verhält es sich in der Freizeit wie mit einer vollen Blase. Man kann nichts vernünftig tun, ohne sie vorher entleert zu haben.“

      Aber er wartete mit dem Telefonat bis nach dem Essen, das aus Fladenbrot, selbstgemachter Butter und Graukäse bestand und bei Steffi zum Teil aus ihrer mitgebrachten Ration. Danach begann der Abstieg. Sie traten auf feuchte Stellen im Gras, die ein Bach speiste, der sich nicht festlegte, schmal oder breit zu sein. Steffi trällerte ein Lied. Sie war das erste Mal in Südtirol, und es deutete sich eine Gemeinsamkeit an – ein Faible für dieses Stückchen Erde. Am Samstag hatten sie auf das längst überfällige Du angestoßen, und es sah so aus, als stünde der heutige Abend im Zeichen weiteren Näherkommens. Jens wählte die Nummer der Praxis und hatte Frau Eisentraut am Apparat.

      „Wie macht sich Doktor Bunsel?“

      „Momentan ist er mit Frau Zarusch beschäftigt. Er hat gestern Abend einen ausgegeben, seinen Einstand. Reichlich übertrieben, finde ich, wegen der zwei Wochen.“

      Finde ich auch, dachte Jens. „Was ist das für eine Musik im Hintergrund?“

      Frau Eisentraut zögerte. „Damit habe ich nichts zu tun. Doktor Bunsel brachte gestern sein Radio mit und schloss es an die Anlage.“

      In Jens stieg Wut auf, schnell und kalt wie Wasser in einem sinkenden Schiff. Aber mit so etwas hatte er bei Bunsel gerechnet. Solange der den Leuten kein Zyankali spritzt, kannst du damit leben, beruhigte er sich. „Sie sprachen von Frau Zarusch, wie geht es ihr?“

      „Die Schwellung sieht nicht gut aus. War heute zum zweiten Mal da.“

      „Hat sie Bunsel an sich herangelassen?“

      „Ja, ich glaube, er hat sie hypnotisiert und das ganz gut hingekriegt …“

      „Was hat er?“

      Frau Eisentraut sagte leise und unsicher: „Gestern hat er sie hypnotisiert, warum?“

      „Er hatte die eindeutige Anweisung, das nicht zu tun.“ Jens kam sich vor wie jemand, dem eben gesagt wurde, dass die sechs Richtigen doch falsch waren.

      „Oh …“ Frau Eisentraut machte eine Pause. „Da muss ich noch etwas loswerden: Ihm ist ein Zettel aus der Kitteltasche gefallen, auf dem zahnärztliche Medikamente und Materialien beschrieben sind – sah aus wie ne Arbeitsanleitung.“

      In Jens’ Brust zog sich eine Schlinge zu. Er sah hinüber zu Steffi, deren Gesicht Sammelpunkt von Sonnenstrahlen war, die vom Nadeldach durchgelassen wurden. So lebenslustig hatte er sie noch nicht gesehen. Sie bemerkte seine Unruhe und fragte:

      „Was ist los? Deiner Blässe nach zu urteilen hat die Vertretung Marmelade verschüttet und sie gleichmäßig in der Praxis verteilt.“

      Ihr Mund und ihre Augen waren schön, viel schöner als die meisten sechsunddreißig Jahre alten Augen, die er sonst noch kannte. Wie sollte er diesen Augen erklären, dass sie nur noch das von Südtirol zu sehen bekämen, was sie schon kannten, nämlich die Landschaft neben der Straße, diesmal vom Süden nach Norden. Er war gezwungen abzureisen, und möglicherweise knickte er damit den Spross Zweisamkeit ab, der zwischen ihnen gerade keimte. Schöne Praxis, in der Steffi ihre Tochter ausbilden ließ. Gerade machte das ein Zahnarzt, der einen Spickzettel für die routinemäßige Arbeit benötigte.

      Jens gab ihr ein Zeichen, sie solle kurz warten, und widmete sich dann Frau Eisentraut mit Anweisungen bezüglich der Patienten. Frau Eisentraut wiederholte präzise ihre Aufgaben, als handetle es sich um einen Angriff im Morgengrauen. Dann ließ er sich Bunsel an den Apparat holen.

      „Ich weiß nicht, wer oder was Sie in Wirklichkeit sind, sondern nur, dass Sie etwas Falsches vorgegeben haben. So, und nun verlassen Sie meine Praxis.“

      Jens hatte Entrüstung erwartet, stattdessen hörte er nur ein Knacken, als Bunsel auflegte.

      Kreihansels Flur sah noch immer aus wie vor zwei Tagen, als Bunsel ihn verlassen hatte. Ein paar Mal war Kreihansel über den Nylonbeutel mit den Bierflaschen gestolpert, den die säuerliche Dunstwolke einer Flaschenreinigungsanlage umgab. Er hüstelte vor Aufregung, völlig anders als mit jenen tief verwurzelten Lauten, die er sonst von sich gab. Frank, den er angerufen und dessen Kommen dringend gemacht hatte, ließ auf sich warten, während der jämmerliche Vorrat