Ich locke dich. Wolf L. Sinak. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolf L. Sinak
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742758361
Скачать книгу

      „Ein Staatsanwalt fehlte uns noch, nicht wahr, Doktor Klemmer?“ Ihre Stimme war wieder klangvoll, offenbar hatte Jens sie beruhigen können. Er selbst wünschte sich jemanden, der das für ihn tat. Für ihn existierte noch ein Problem mehr. Steffi. Ihre Erwartungen erfüllen, die sie ganz sicher von ihm hatte, wollte er so sehr wie seine Praxis vor weiterem Schaden bewahren. Und Erwartungen hegte eine Frau, wenn sie mit einem fast fremden Mann den Urlaub verbrachte, und sei es nur, um herauszufinden, ob es etwas herauszufinden gab. Zum Beispiel, wie verlässlich der Kerl war, der sich später vielleicht um den Posten des Ehemannes und Vaters bewarb, und ob er die läppische Gepflogenheit einhielt, den Urlaub nach dem vierzehnten und nicht schon nach dem vierten Tag zu beenden. Er würde schwer daran kauen, die richtigen Worte zu finden, wenn er zurück ins Gasthaus ging und Steffi statt zur Besichtigung des Klosters Neustift zur Heimreise nach Gera abholte.

      Er hörte wieder seiner Helferin zu. „Ich halte dann hier mal die Stellung. Sicher werden noch Patienten anrufen, um irgendeinen Reibach in Form von Prozenten auszuhandeln, oder Hypnotisierte setzen Sie als Haupterben ein.“

      Beide lachten gekünstelt und Jens bedankte sich. „Sie haben etwas gut bei mir, Frau Eisentraut. Wir sehen uns morgen früh.“

      Ohne einen Einwand bezüglich des abgebrochenen Urlaubs abzuwarten, legte er auf, und sein Lachen verfloss schlagartig. Er wählte Werners Nummer und bat ihn ohne Umschweife um einen Gefallen, da er erst am Nachmittag zurück in Gera sein konnte.

      „Wieso zurück? Die Azubi-Mutter hat wohl nicht gewusst, dass du schnarchst? Oder hast du im Schlaf von Marlies gesprochen.“ Werners Lachen ertönte in der Leitung, und Jens stellte sich das verrissene Gesicht dazu vor und den Anteil Glatze, der mitlachte.

      „Meine Urlaubsvertretung hat Scheiße gebaut, und ich habe die Befürchtung, wissen zu müssen, wo ihr Wohnsitz ist. Da mir die Adresse unbekannt ist, bleibt mir nur die Autonummer. Alles andere erzähle ich später.“

      Jens schwebte das Bild vom Rettungsseil vor. Ein paar elementare Daten von einer Person zu wissen, die seine medizinische Einrichtung vertretungsweise leitete, wäre das Mindeste, das ein Staatsanwalt erwartete.

      „Wie komme ich an die Nummer? Wo steht seine Karre?“, fragte Werner.

      „Wenn der sich noch in Egert’s Pension aufhält, müsste ein roter Civic davorstehen, mit bayrischem Kennzeichen.“

      Jens legte auf und schaute hinunter auf Brixen. Er dachte an Steffi, wie fröhlich sie war. Ein so helles Bild von einer Frau zu haben, angestrahlt von südlicher Sonne und vordergründig wie ein Relief, machte ihn nervös. Es gelang ihm nicht, das Gespräch mit ihr vorzubereiten. Andere Gedanken drangen immer wieder durch wie Flüssigkeit durch ein Löschblatt. Kaum zu glauben, dass jemand wie Bunsel, den er zwar als aufdringlichen, aber fleißigen Kollegen erlebt hatte, Befriedigung aus pubertären Rachespielen schöpfte, ein Schild an die Praxistür hängte und Patienten vorgaukelte, die Zahnarztpraxis wickele ihre Geschäfte wie auf einem Basar ab. Und da gab es Frau Zarusch, welcher er das Rückgängigmachen der Zahlung zu erklären hatte, aber verheimlichen musste, warum.

      Er schlurfte zurück in den Gasthof. Sie gingen auf ihre Zimmer. Zehn Minuten später klopfte er an Steffis Tür und folgte der Bitte einzutreten. Im Zimmer roch es nach Parfüm, leicht und angenehm. Sie stand vorm Spiegel. Ihre Finger zupften einen Schuss Verwegenheit in die zu brave Frisur. Jens warf einen Blick aufs Bett. Es war ein Mythos, dass Frauen in Sachen Ordnung die Nase vorn hatten; vielleicht unter den Betten, aber nicht auf ihnen, wenn sie zum Ausgehen mobil machten und die Inhalte der Kleiderschränke daraufkippten.

      Steffi drehte sich um. „Komm, lass uns zu den Mönchen gehen. Glaubst du, sie übergeben uns der weltlichen Gerichtsbarkeit, wenn wir vom Weinberg ein paar ihrer Trauben klauen?“

      Er ging auf sie zu und sah hart in ihre Augen, als wollte er mittels Faszinationstechnik eine Hypnose einleiten. Seine Stimme jedoch klang wie die herausgepressten Laute einer Quietschente. „Ich kann den Urlaub nicht fortsetzen. Bunsel ist noch aktiv, quasi kriminell, weswegen meine Anwesenheit in Gera unabdingbar ist.“

      „WAS?“

      Die Klangspitze davon blieb in seinem Herzen stecken. „Mit der Effizienz eines intelligenten Psychopaten übt Bunsel Rache für seine Entlassung. Er nimmt meine Patienten aufs Korn, ruft sie an und erzählt ihnen die ausgebufftesten Märchen. Frau Eisentraut ist überfordert, telefonische Anfragen am laufenden Band.“

      Steffi senkte den Kopf. Dann warf sie den Kamm aufs Bett und genervt, als hätte sie einen Migräneanfall, sagte sie: „Warte unten, ich muss packen.“

      Er trug ihre Reisetasche zum Auto und setzte sie ab, als sein Handy klingelte. Steffi stakste weiter.

      Es meldete sich Werner mit seiner melodisch klingenden Stimme, die jedem Unheil der Welt standhielt. „Die Pension befindet sich in Zwötzen. Von weitem habe ich gesehen, wie ein roter Civic davonfuhr. Ich kam aber nicht so nah heran, das Nummernschild zu erkennen. Er fuhr in der Stadt herum, als wäre er beim Sightseeing. Die Tankanzeige begann, mir Sorgen zu machen. Sorry, ich fuhr tanken und zurück zur Pension. Der Wirt sagte, Bunsel sei ausgezogen, weil Egert’s Pension zu weit abgelegen sei. Der Wirt hat ihm die seines Schwagers in der Wiesestraße empfohlen, Möllers Frühstückspension.“

      Ein kaltes Rinnsal bildete sich in Jens’ Hals und zwang ihn zu schlucken. Der Irre hatte noch nicht genug. Kaum anzunehmen, dass es die Schwarzbiernacht am kommenden Wochenende war, weswegen Bunsel noch in Gera blieb.

      „Ich hatte Marlies angerufen“, fuhr Werner fort, „damit sie mich im Studio vertrat, um dir einen Gefallen zu tun. Könnte mir vorstellen, dass sie für dich ins Studio geflogen ist …“ Jens hielt den Hörer etwas weg vom Ohr und hörte sich Werners obligatorisches Gewieher von weitem an. „Dann bin ich in die Wiesestraße gefahren und stehe seit einer Stunde vor Möllers Frühstückspension. Kein Civic weit und breit, und reinzugehen, um zu fragen, halte ich nicht für helle. Der Wirt könnte Bunsel das stecken.“

      „Schon gut.“ Jens bedankte sich und verabredete sich mit ihm auf unbestimmte Zeit. Dann stand er noch eine Weile apathisch da, nur sein Blutdruck eilte ihm voraus wie bei einem Marmeladenangriff. Zeit für die Polizei? Und somit für die Öffentlichkeit? Seht her, sagte die Öffentlichkeit. Klemmer, ein alter Bekannter. Erst nascht er zwischen den Beinen seiner Trainerin und dann verleiht er seine Praxis an einen Scharlatan. Er schloss die Augen, um kurz zu meditieren, ließ Bilder kitschiger Almidylle wirken und verinnerlichte sie, bis er mit ihnen im Einklang stand.

      „Schließt du bitte den Wagen auf, die Sonne hat es auf mich abgesehen“, rief Steffi, sie schrie fast.

      Er zuckte zusammen und nahm sie als das Primat von hier und jetzt in seinen üppigen Zügen vor der Autotür wahr.

      „Wird erledigt“, versicherte er und ging hin. Es fühlte sich an wie ein Aufbruch.

      6

      Jens stellte den Hartschalenkoffer in den Flur seiner Wohnung und obenauf die Tasche mit der Videokamera. Das fühlte sich an, als legte er einen Kranz auf eine Grabstätte. In der Kamera waren glückliche Momente gespeichert, Szenen mit Steffi, feixend in den Bergen, auf dem Höhepunkt einer lächerlich kurzen Beziehung.

      In der Wohnung war es kalt und ungemütlich wie das Wetter in Gera. Gedanklich versetzte er sich in das wohlige Milieu einer Sauna, und schon fluteten Bilder von Steffi heran, wie sie nackt auf der Pritsche lag und Schweiß absonderte, als handelte es sich um einen vom Liebesakt erschöpften Frauenkörper.

      Was er auch anpackte, es warf ihn zurück. Zuerst Renate und ihr Kahlschlag in der Wohnung, dann Bunsel, der kindische Teufel, und nun Steffi. Er zog den Hinterkopf in den Nacken und hob die Schulterblätter an, eine Position am Rücken suchend, in der die sechshundert Kilometer Autofahrt nicht zu spüren waren. Wirkungslos. Aber seiner Zunge, die trocken und rissig war wie der Boden in der Sahelzone, konnte er etwas anbieten. Da kein Bier in der Wohnung war und ihn die kahlen Wände grausten, nahm er seine Lederjacke, um für eine halbe Stunde in die Kneipe um die Ecke zu gehen.

      Er