Ich locke dich. Wolf L. Sinak. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolf L. Sinak
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742758361
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      Der Fremde schien erleichtert. Er schluckte seinen kantigen Kehlkopf einmal hoch und runter. „Ich müsste Ihre Prothese mal ansehen.“

      „Hier?“

      „Äh, ich glaube, Ihre Wohnung wäre der bessere Ort.“

      Kreihansel wühlte das harte Taschentuch und den Schlüsselbund hervor und schloss auf.

      „Ich trage sie nur, wenn ich ausgehe. Länger ertrage ich die Schmerzen nicht.“ Mit einem geübten Griff nahm er die Prothese aus dem Mund und hielt sie dem Fremden hin. Dieser verzog das Gesicht.

      „Könnten Sie sie abspülen?“

      „Wird gemacht, Meister.“ Kreihansel erledigte das im Bad. Als er zurückkam, hatte der Mann einen kleinen Kunststoffbeutel in der Hand. Blitzschnell nahm er ihm die Prothese aus der Hand, packte sie ein und ließ sie in seiner Jackentasche verschwinden.

      „Moment mal. Ich denke, Sie wollen sich das Ding nur ansehen. Wie ist eigentlich Ihr Name?“

      „Bunsel.“

      „Also, was soll das, Herr Bunsel?“

      „Hatten Sie es gehört, die Prothese quietschte, als ich sie einwickelte.“

      „Was tat sie?“

      „Wie Schuhe, die nicht bezahlt sind. Man sagt doch, solche Schuhe quietschen.“

      Bunsel zog den Beutel mit der Prothese noch einmal aus der Tasche und hielt ihn ans Ohr. „Immer noch.“

      Kreihansel schnappte nach dem Beutel, verfehlte ihn. Als beschissener Winzling hatte er keine Chance, an den Arm zu kommen, den dieser lange Idiot wie einen Kranausleger hoch oben vor sich her schwenkte.

      „Sie Schwein!“ Kreihansel sah ohnmächtig zu, wie die Prothese wieder in Bunsels Brusttasche wanderte und der Kranausleger den Abstand zu ihm aufrechterhielt, am Ende die Faust, knorrig wie eine Wurzel.

      „Es ist ganz einfach, du Alkoholauszug eines Staatsbürgers: Ware gegen Bares“, sagte Bunsel. „Selbst dein zapfhahngroßes Hirn wird wissen, dass du Doktor Klemmer immer noch Geld schuldest, auch wenn der Staatsanwalt dir vergeben hat.“

      Kreihansel versuchte, mal rechts, mal links an der Wurzelfaust vorbeizukommen. Wegen des Superarms kam er sich vor, als tanzte er an einem Stab. Dieser Bunsel schluckte lediglich seinen kantigen Kehlkopf hoch und runter.

      „Ich werde jetzt verschwinden, anderenfalls müsste ich mich in diesem Dreckloch übergeben“, sagte er. „Du hast eine Woche, das Geld zu überweisen, sonst landet deine Prothese im Fluss – wie heißt er doch gleich … Weiße Elster.“

      Kreihansel spannte seine kläglichen Muskeln vor dem Bollwerk aus Handknochen und Stahlsehnen und landete einen Schlag auf Bunsels Unterarm. „Ich gehe zur Polizei.“

      Bunsel lachte. „Die werden glauben, du hättest die Prothese verloren und willst eine neue herausschinden. Jemand wie du ist glaubwürdig wie ein Fuchs. Aber bringe die Nachricht trotzdem unters Volk, es soll von Doktor Klemmers Schlagkraft erfahren.“

      Für Kreihansel war die Vorstellung entsetzlich, das Essen wieder in Stücken herunterschlingen zu müssen. Die künstlichen Zähne waren ihm so zu eigen geworden, als seien es nachgewachsene. Plötzlich hatte er Bunsels Faust auf der Brust. Er stolperte über den Nylonbeutel mit den leeren Bierflaschen und erzeugte ein fürchterliches Scheppern, dann lag er daneben. Er zog den Beutel auseinander, atmete aufsteigenden Bierdunst ein, nahm eine leere Flasche Köstritzer Pilsener heraus und schlug sie beim Aufstehen gegen die Wand. Wie ein Wahnsinniger, der seinen Wärter bedroht, streckte er den scharfkantigen Flaschenrest gegen Bunsel, Haare und Vollbart zerzaust, ein irres Funkeln in den Augen. Gib her, wollte er sagen, aber eine Hustenexplosion ohne Vorankündigung verhinderte das. Sein Bellen klang wie das Ergebnis einer wochenlangen Lungenentzündung, die aufgerissenen Augen hatten die Größe und die Farbe von Zitronen. Vor dem Auswurf ging Bunsel in Deckung. Kreihansel konnte die abgeschlagene Flasche nicht mehr ruhig halten, sein Gegner kam auf ihn zu und schlug ihm die Faust ins Gesicht.

      Gefühlte zehn Sekunden später kam Kreihansel zu sich. Er lag auf dem Boden. Das Befühlen des Nasenrückens ergab keine Unterbrechung der Geradlinigkeit, nur Schmerz. Und klar denken konnte er erst wieder im Schlafzimmer. Er saß eine Minute lang auf der Bettkante, verspürte ein Brennen in der Kehle und setzte die Wodkaflasche ein zweites Mal an.

      Die Polizei einzuschalten war tabu, selbst wenn er die Waage und die Tüten verschwinden ließ, mit denen er das Heroin und den anderen Stoff in seiner Wohnung streckte und abpackte. Frank, sein Neffe, wollte nicht, dass er auffiel. In keiner Weise. Frank würde auf die Verwandtschaft pfeifen und ihm den Hals umdrehen. Kreihansel nahm die Flasche und fachte das Brennen in seiner Kehle an, rauchte zwei Zigaretten in Kette und dachte an die Auswirkung, wenn er sich mit seinen zwei im Oberkiefer verbliebenen Zähnen über die Schweinerippchen hermachte, von denen er seit zwei Tagen lebte. Das Einzige, was er beim Nageversuch abbekommen würde, wären fettige Lippen. Er nuckelte den brennenden Rest der Flasche hinein und war plötzlich im Besitz einer grandiosen Idee.

      3

      Aus dem Stadtteil Lusan kommend, fuhr Beate an die Tankstelle der Bundesstraße 92 und bekam zittrige Knie. Der rothaarige Mann, der vor ihr den Zapfhahn hielt, war Doktor Klemmer. Er bezahlte und fuhr seinen weißen BMW zur Waschanlage. Sie ließ nur zwanzig Liter in ihren Corolla und folgte dem Zahnarzt so unauffällig wie möglich. Sein Wagen wurde gebürstet, als sie zu ihm trat.

      „Entschuldigung.“

      Doktor Klemmer erschrak etwas. „Hi, wie geht es Ihnen?“

      „Ich lebe noch, dank Ihrer Hilfe … Verreisen Sie jetzt?“

      „Wenn nichts mehr dazwischenkommt, ja.“

      „Ich will Sie nicht aufhalten, hätte aber eine Frage, die nicht mich als Patientin betrifft.“

      Seine rötlichen Augenbrauen hoben sich, der Blick war auf ihre Wange gerichtet.

      „Ist wieder dicker geworden, was?“ sagte er.

      „Ich bin heute noch nicht zum Kühlen gekommen.“

      „Das gefällt mir nicht.“

      „Dass ich nicht kühle?“

      „Nein, der Rückfall. Genauer gesagt der Nasenrücken. Sollte er noch dicker werden, müssen Sie Montag früh meine Vertretung aufsuchen.“

      „Ungern. Was ich Sie fragen wollte: Ich bin da in so einem esoterischen Zirkel und dachte mir, dass es sehr interessant wäre und für Sie auch Kundschaft bringen würde, wenn Sie dort über Hypnose sprächen.“

      Doktor Klemmer schaute ungläubig.

      „Wir sind Laien“, sagte sie. „Mit Hypnose hat sich noch keiner von uns beschäftigt; das wird einschlagen wie ne Bombe. Sie gewinnen Fans – Patienten von morgen.“

      In der Waschanlage wechselten die Geräusche. Das Gebläse fing an, den BMW zu trocknen.

      „Liebe Frau Zarusch, ich glaube, Sie verkennen, wie weit die Ebenen voneinander entfernt liegen, auf denen Esoterik und medizinische Hypnose angesiedelt sind. Irrationalität und Wissenschaft – da bewirken Vorträge vor einem Publikum wie dem Ihren so viel wie Gießkannen in einem Hochofen. Leider ist das so.“

      „Dann zeigen Sie die Möglichkeiten auf, zum Beispiel indem Sie jemanden von uns hypnotisieren.“

      Doktor Klemmer fügte seinem Blick eine Spur Sarkasmus hinzu. „Wir Ärzte wollen Hypnose vom Ruf einer Jahrmarktsattraktion reinwaschen, denn den hat sie immer noch in den Köpfen vieler Menschen.“ Er schaute auf seine Uhr. „Was haben Sie sich denn so vorgestellt, den hypnotisierten Probanden in ein Brett zu verwandeln, und ich stelle mich darauf? Ihre Leute wollen einen Hanswurst auf der Bühne sehen oder ein Medium, das im Keller seines Bewusstseins auf sein vorheriges Leben zurückblickt, aber bestimmt keinen Referenten, der sie bekehren will. Nehmen Sie’s