Ich locke dich. Wolf L. Sinak. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolf L. Sinak
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742758361
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Kehle laufen.“

      „Betrug!“, warf Bunsel ein.

      „Von wegen.“ Unter leisem Poltern zog Jens ein Fach aus dem Schrank der Rezeption. Er nahm eine Akte heraus, auf der stand: Kreihansel, Herbert; geboren 05.11.1953.

      „Der Staatsanwalt sieht das anders. Kein Betrug. Es sei Kreihansel nicht nachzuweisen, dass er von Anfang an nicht zahlen wollte, als er seine Prothese in Auftrag gab. Und jetzt kommt’s.“ Jens holte tief Luft, öffnete die Akte und las von einem Schriftstück ab:

      „Es erscheint durchaus möglich, dass der Beschuldigte zu Beginn der Behandlung vorhatte zu zahlen, jedoch später aufgrund eines finanziellen Engpasses das Entgelt anderweitig verwendete. Dieses Verhalten ist nicht strafbar.“ Er schaute Bunsel in die Augen. „Mit finanziellem Engpass ist wahrscheinlich gemeint, dass Kreihansel der Schnaps ausgegangen war.“

      „Zu pfänden gab es wohl nichts?“

      „Mit den Anwaltskosten belief sich die Summe auf etwa zweitausendfünfhundert Mark. Ich stelle mir vor, wie Kreihansel mit meinem Geld in seinem Auto Bier holte und es vorm Fernseher verdrückte. Auto und Fernsehgerät, erklärte der Gerichtsvollzieher, seien keine pfändbare Habe. Super, was?“

      „Die Justiz müsste man privatisieren und die Regierung obendrein, dann würden die endlich im Leben ankommen.“

      „Das hätte von mir sein können“, sagte Jens und beide lachten gequält. „Jetzt zu Ihnen, Herr Bunsel. Ihre Aufgabe ist es, die Patienten zu halten. Ich setze nicht viel um, weil ich ein Pedant bin und sorgfältig bohre. Dafür könnte meine Frau mich steinigen.“ Jens biss sich auf die Zunge. Vielleicht verriet er ihm noch, dass Renate gegen Hypnose war, weil der Zeitaufwand die Einnahmen niedrig hielt.

      „Und noch etwas: Ich weiß nicht, worauf Ihre Behandlungsmethoden ausgerichtet sind. Heutzutage gibt es alle Schattierungen, vom Universitätszahnarzt bis hin zum pendelschwingenden Alternativ-Ganzheits-was-weiß-ich-für-Modequacksalber. Ich betreibe saubere, wissenschaftlich begründete Zahnmedizin. Vor Scharlatanerie möchte ich meine Patienten bewahren.“

      Jens wartete auf eine Regung. Dann nickte Bunsel und spitzte seinen Mund, als stellte die Bedingung ein Problem dar, vielleicht weil er sein Staatsexamen in der Walpurgisnacht gemacht hatte.

      „Stecken Sie jetzt in der Klemme, Herr Kollege?“

      „Schon gut, ich halte mich daran. Versteht sich.“

      „Sie sind nicht überzeugt.“

      „Ich will den Leuten nur viel bieten. Immer mehr Zahnärzte greifen im Sog abnehmender Geldmittel nach Rettungsringen. Die Alternativmedizin schwimmt zur Zeit ganz oben. Aber es ist auch meine Stärke, mich den Gegebenheiten einer Praxis anzupassen.“

      „Okay, dann sind wir uns einig“, sagte Jens. „Wo sind Sie eigentlich untergekommen?“

      „Letzte Nacht im Hotel Dorint. In der Mittagspause habe ich herumtelefoniert und etwas Günstigeres aufgetrieben. Egert’s Pension.“

      Jens nahm von der Rezeption zwei Schlüssel, die er bereitgelegt hatte, und legte sie schweren Herzens in die Hand von Bunsel. „Wo stammen Sie überhaupt her? Ich meine, wegen Ihres bayrischen Dialekts.“

      „Aus Meiningen. Ich diente bei der Bundeswehr in Regensburg und …“

      „Interessant, das erzählen Sie mir ein andermal.“ Jens, der noch etwas zu regeln hatte, lief die Zeit davon. Ihm klang im Ohr, was ihn erwarten könnte, wenn er in Südtirol anrufen würde: Wir sind seit Ewigkeiten ausgebucht. Sicher hat das der Herr Doktor vergessen. Bedauere, ein zweites Zimmer kann ich Ihnen nicht geben.

      Sie trennten sich, um sich umzuziehen. Bei Jens’ Rückkehr stand Bunsel an der Rezeption und blätterte in Kreihansels Akte. Jens zog sie ihm aus den Händen und steckte sie zurück in den Schrank.

      „Sie waren Ruderer?“ Bunsel hatte sich vor das Bild neben der Rezeption gestellt.

      „Kanute. Ist lange her.“

      „Mag sein, aber die Medaille um Ihren Hals verliert ihren Wert nicht. Ich rede nicht vom Goldpreis.“

      „Das ist Silber. In der DDR waren Schwarz-Weiß-Aufnahmen die Regel.“ Jens ging zur Tür und klapperte mit dem Schlüsselbund, bis Bunsel sich von dem Bild löste.

      Kreihansel hatte ein Problem. Er schaffte es nicht mehr, in erträglicher Lautstärke zu husten. Sobald der Auswurf sich ankündigte, nahm er ein Handtuch und presste es ans Gesicht. Geschah es nachts, erdröhnte der Vulkan in seiner Brust ungehemmt und weckte das Arschloch von Nachbarn im hellhörigen Plattenbau. Nicht nur, dass Kreihansels Anfälle sich häuften, sie dauerten auch länger und fabrizierten Geräusche, die Rauchvergiftete nicht authentischer von sich geben.

      Am Samstagvormittag stieß das Handtuch an die Grenze des Schallschutzes. Kreihansel saß auf der Bettkante und schaute hoch zur Decke, über der der Nachbar wohnte und Beschwerdebuch führte. Sollten die ihn doch rausschmeißen, weil er, Kreihansel, mit der Miete im Verzug war. Er würde Spuren hinterlassen, darauf konnten die Gift nehmen.

      Er griff zur Wodkaflasche auf dem Nachttisch, kam aber nicht mehr zum Nippen. Er stellte die Flasche schleunigst weg, holte tief Luft und bäumte sich auf. Von da an übernahm eine innere Macht die Zügel und verfuhr, als sei sie der Teufel, der seinen Wirt auf einen Ritt verlassen wollte. Kreihansel hustete aus allen Rohren, bis seine Augen aus den Höhlen glotzten und sein Gesicht am Ende der Blauskala angekommen war. Er hatte es geschafft. Husten, der jetzt folgte, war nur Nachbeben. Er schaute ins Handtuch. Kein Blut. Sein Bruder, der an Lungenkrebs gestorben war, hatte welches. Er rechnete ebenfalls mit diesem Schicksal, solange die vierzig Zigaretten am Tag nicht aus Schokolade waren und sein Asthma wie ein Sargdeckel quietschte. Er schlurfte in den Flur, wo der Nylonbeutel mit den leeren Bierflaschen wartete. Da klingelte es. Im weitwinkelverzerrten Bild des Türspions sah er einen Mann, dessen gepflegtes Äußeres ihn von der trinkenden Zunft unterschied. Er öffnete die Tür einen Spalt weit und schob den Nylonbeutel hindurch, dann sich selbst und zog die Tür ins Schloss. Der Fremde war bestimmt einen Meter neunzig groß. Mit seinem Beutel fühlte sich Kreihansel wie ein Zwerg, der seine Habseligkeiten im Säckchen herumschleppt.

      „Keine Zeit, muss weg“, sagte er und klang heißer angesichts einer neuen Ladung Husten im Hals.

      „Moment, vielleicht interessiert Sie der Anlass meines Besuchs.“

      Kreihansels Kehldeckel hielt nicht länger stand und entlud einen Hustenstoß in sein hartes Taschentuch. Demonstrativ schaute er sich das Gebräu aus Schleim an.

      „Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte der Fremde.

      „Die Stadtluft, Sie wissen schon.“

      Der Fremde machte keine Anstalten zu gehen. Unter seiner gebräunten Haut steckte ein Kehlkopf, der aussah wie das Werk eines grob arbeitenden Bildhauers. Und er sprach leicht bayrisch:

      „Wie stehen Sie zu Geld? Mit wenig Aufwand können Sie welches herausschinden. Fünf Minuten Ihrer kostbaren Zeit müsste das doch wert sein.“

      Kreihansel drehte den Kopf zur Seite, hustete das letzte Konglomerat heraus und hörte zu.

      „Ich stehe einer Interessengemeinschaft von Patienten vor, die sich das Ziel gesetzt hat, die Kunstfehler von Doktor Klemmer ans Licht zu bringen. Wir wollen nicht hinnehmen, dass für Pfusch Geld kassiert wird und die Kleinen wieder mal auf der Strecke bleiben. Sie waren doch Patient von Doktor Klemmer? Unser Gespräch bleibt vorerst unter uns, versteht sich.“

      „Warum vorerst?“ Die Bedeutung war Kreihansel nicht klar, ihm gefiel das Wort vorerst nicht.

      „Weil, wenn es zur Entschädigung kommt, Ihr Name natürlich bekannt sein muss.“

      „Um welche Summe handelt es sich denn? Bei den Schwierigkeiten, die mir der Zahnarsch gemacht hat, müsste ich einen Zuschlag bekommen. Auch wenn das schon etliche Jahre her ist.“

      Er streichelte mit der Zunge den polierten Kunststoff seiner dritten Zähne, die noch nie gedrückt