Ich locke dich. Wolf L. Sinak. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolf L. Sinak
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742758361
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sich, nickte nur und schnitt damit das unangenehm gewordene Gespräch ab.

      Sie wünschte ihm einen schönen Urlaub und ging zurück zu ihrem Corolla.

      4

      Am Montagmorgen hörte Anna zunächst sanfte, dann schrille Töne und kam dahinter, dass es nicht die Stimme der Eisentraut war, sondern der Wecker.

      Sie sprang aus dem Bett. Heute wollte sie nicht der Prügelknabe dafür sein, dass der Eisentraut schon mit Ende vierzig das Kinn stoppelte. Eine Stunde später kam sie in der Praxis an, halb nass vom Regen. Sie dachte an ihre Mutter, die gestern aus Südtirol angerufen und von einem Sonnenbrand geschwärmt hatte.

      Der Geruch von Fendi verriet, dass die Eisentraut bereits durch die Zimmer geisterte. Anna verzog sich in den Umkleideraum und machte aus ihren langen Haaren einen Pferdeschwanz. Da spazierte Doktor Bunsel herein, als wäre das hier öffentlich.

      „Weitermachen!“ Er lächelte. „Das sagt der Vorgesetzte den Soldaten, wenn er die zum Gruß Strammstehenden auffordert, die Tätigkeit fortzusetzen, mit der sie zuvor beschäftigt waren.“

      Anna nahm die Arme herunter. „Sehr interessant. Aber könnten Sie vorher anklopfen, wir sind nicht beim Bund.“

      Bunsel erklärte ihr, dass er sich wegen Platzmangels bei den Helferinnen umzog, und bewunderte sogleich ihr schwarz glänzendes Haar, dessen Herkunft seiner Meinung nach eine dominante genetische Linie voraussetzte. Anna spürte einen Schwapp Röte im Gesicht.

      „Um zu solchem Haar zu kommen, muss vor wenigen Generationen eine Spanierin in deinen Stammbaum geraten sein, eine, die zu Zuchtzwecken taugte.“

      Anna wusste nicht, wie sie das auffassen sollte. Es klang eher positiv. Deshalb machte sie ihren Rücken etwas krumm und zog die Schultern vor; andersherum wäre ihre Brustlosigkeit sofort ins Auge gefallen. Eine Spanierin, überlegte sie, wusste aber nichts von solchen Vorfahren. Dann müsste die stoppelige Eisentraut Kaiser Barbarossa in direkter Linie gefolgt sein. Der Witz des Monats.

      Die erste Patientin war Frau Beate Zarusch. Ihre Schwellung war größer geworden. Anna assistierte Doktor Bunsel und ein bisschen klopfte ihr Herz wie am 1. September beim Start ins Berufsleben. Frau Zarusch war auch nicht locker, ihre Hände zitternden. Anna dachte an Parkinson.

      „Jetzt beruhigen Sie sich“, sagte Bunsel zu der Patientin. „Wenn Sie weiter so schwitzen, sind Sie in zehn Minuten ausgetrocknet und der Eiter wird hart wie Beton.“

      Frau Zarusch legte ihren Kopf zurück. Bunsels lockere Art kam an. „Ohne Hypnose läuft bei mir nichts“, sagte sie und presste die Lippen zusammen.

      Anna fragte Bunsel, ob sie die Unterlagen holen soll, den Hypnoseordner mit der Anamnese und dem ganzen Zeug.

      „Um der Patientin ihren Wunsch zu erfüllen, benötige ich nichts Schriftliches. Nur einen Gegenstand, der zwischen Daumen und Zeigefinger passt, damit ich ihn über ihre Augen halten kann.“

      Frau Zarusch musste auf die Toilette. Bunsel schaute Anna ernst an. „Das mit der Hypnose bleibt unser Geheimnis. Dein Chef will nicht, dass ich ihm ins Handwerk pfusche. Hoffentlich rückt uns Frau Eisentraut nicht auf die Pelle.“ Er holte aus und gab ihr fünf.

      Dann drehte er die Operationslampe weg vom Behandlungsstuhl und wurde selbst beschienen. Anna gelangte zu der Auffassung, dass er ein attraktiver Mann wäre, wenn man sich die Verunstaltung seines Kehlkopfes wegdachte. Oben knöpfte er sein Hemd auf und zog an einer Kette einen grünen Stein mit weißen Streifen heraus, der die Größe einer Haselnuss hatte und in Silber gefasst war.

      „Ein Malachit“, sagte er. „Die Worte des Hypnotiseurs sind nur das Gaspedal in eine tiefere Trance, denn wir befinden uns ständig auf einer unteren Ebene dieses umnachteten Zustandes, ganz raus sind wir nie; es kommt bei der Hypnose darauf an, die Trance zu verstärken, wenn du weißt, was ich meine.“

      „Wir sind ständig in Trance?“, fragte Anna. Doktor Klemmer hatte ihr schon viel zu diesem Thema erklärt, einen Dauerzustand aber nicht erwähnt. Er benutzte einen silbernen Kugelschreiber. Einmal hatte er ihn verlegt, suchte nicht lange und nahm einen Radiergummi, um ihr zu demonstrieren, dass es bei der Hypnose nicht auf den Gegenstand ankam. Und über die Zarusch hatte er gesagt, sie sei das ideale Medium und benötige für Hypnose nur einen Händedruck und ein paar Worte.

      Bunsel riss sie aus ihren Gedanken: „Erinnerst du dich, wie du in der Garderobe mit erhobenen Händen erschrocken bist, als ich reinkam. Ich war die Respektsperson, vor der du erschrakst, und erst in zweiter Linie war es der Mann in der Damenkabine. Und warst du nicht froh, als ich dich wegen der Haare gelobt habe – ein weiteres Gaspedal in eine tiefere Trance. Das ist Hypnose. Lerne, damit umzugehen, sie zu gebrauchen, und du wirst im Leben weit kommen – oder auch nicht.“ Bunsel sagte das bedrückt, als säße er wegen Hypnose hinter Gittern. „Wenn du willst, erzähle ich euch heute Abend über meine Erfahrungen. Vorausgesetzt, dir, der Eisentraut und Frau Grünwald passt es, dass ich im Schwarzbierhaus meinen Einstand gebe.“

      Frau Zarusch kam zurück und wurde von ihm sofort in die Liegeposition gefahren. Er hielt den Stein über ihre Stirn, auf dass ihre Augen beim Hinsehen hochrollten und mehr Weiß preisgaben. Anna fand es lustig, dass die Patienten in dieser Phase leicht schielten.

      „Fixieren Sie den Stein weiter, Frau Zarusch, bewegen Sie sich nicht, gut so, ruhig atmen …“

      Bunsels Tonfall war monoton, aber nicht überzogen, die richtige Mischung aus Autorität und Schlaftablette.

      „… Der Stein wird unscharf, das nicht zulassen, sondern scharf hinsehen, das strengt an und macht die Augen schwer, den Stein scharf ansehen und ruhig atmen, die Augen tränen und brennen …“

      Bunsel gab den Befehl zum Schließen der Augen. Frau Zarusch lag da und unterschied sich von einer Toten nur dadurch, dass sich ihr Brustkorb hob und senkte und ihre Lidspalten feucht waren.

      „Sie machen alles sehr gut, Frau Zarusch. Zur Belohnung dürfen Sie in einen noch tieferen Schlaf sinken. Sie vergessen alles und genießen, wie Sie auf einer Bahn aus Watte hinabgleiten in eine noch wohltuendere Entspannung.“

      Er suggerierte Schmerzfreiheit im Gebiet des schlechten Zahnes und begann mit der Behandlung. Frau Zarusch atmete gleichförmig und langsam weiter, bis der Zahn provisorisch verschlossen war. Was als Nächstes folgte, war neu für Anna. Bunsel wies an, dass Frau Zarusch nach ihrem Aufwachen aus der Hypnose einen Kugelschreiber von der Rezeption nehmen und in ihre Handtasche stecken sollte, ohne zu wissen, warum sie das tat.

      „Und noch etwas: Wenn Sie heute Abend im Bett liegen, werden Sie daran denken, wie glücklich Sie über diese Zahnarztpraxis sind, die Ihnen wirklich hilft, und dass die entstehenden Kosten nebensächlich sind angesichts der Gesundheit und der Wohlgestalt, die Sie erwarten. Deshalb werden Sie aus einem Bedürfnis heraus, ohne Aufforderung, den Vorschuss von eintausend Euro auf das Praxiskonto von Doktor Klemmer überweisen und einen Beitrag zum Überleben der Praxis in einer wirtschaftlich und politisch schwierigen Zeit leisten. Ich wiederhole, Sie werden eintausend Euro …“

      Plötzlich kam Frau Eisentraut ins Zimmer. Bunsel beugte sich ausladend über seine Patientin. Die Eisentraut kam näher. Ihr keimfreier Blick traf Anna anhaltend lang – eine Strapaze für ihre Gesichtsfarbe, die nicht länger standhielt und auf rot umschaltete.

      „Anna, hast du Fieber?“

      „Fieber ist meine Betriebstemperatur. Ich glaube, sie lag noch nie unter achtunddreißig Grad.“ Von ihrer Schlagfertigkeit war Anna selbst überrascht. Frau Zarusch wurde unruhig, obwohl Bunsel seine Hand auf ihre Schulter gelegt hatte und ihren Atembewegungen folgte, um sie zu beruhigen, mehr konnte er in Frau Eisentrauts Gegenwart nicht tun.

      Dann furzte Frau Zarusch ungebremst durch die schmale Spalte zwischen Gesäß und Polsterung und erzeugte einen unreinen Ton, ohne die geringste Anstrengung, das Geräusch zu verhindern. Anna fing den Blick der Eisentraut ein wie eine Beschuldigte und spürte heiße, rote Farbe im Gesicht, als sei es in Ordnung, ihrer sittenlosen Generation alles zuzutrauen. Die Eisentraut