Ich locke dich. Wolf L. Sinak. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolf L. Sinak
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742758361
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erzählte mir von Ihren negativen Erfahrungen mit Zahnärzten in der Kindheit. Grausliche Geschichte. Meine eigene Angst hat mir ein paar vorzeitige Milchzahnlücken eingebracht. Und von später rede ich nicht gern.“ Beide lächelten, Beate schief nach links und Doktor Klemmer mit noch zehn Grad wärmeren Augen.

      „Darf ich Ihnen etwas anbieten?“

      „Ja, einen Strick.“

      „Das habe ich überhört. Es gibt viele Wege, den Dämon der Angst auszutreiben, Sie werden staunen. Lassen Sie uns ins Behandlungszimmer gehen.“ Er ergriff mit der linken Hand ihren Oberarm, und jetzt erst merkte sie, dass sie ihre Hände noch gedrückt hielten, statisch wie auf dem Parteiabzeichen ihres Vaters, das sie auf dem Flohmarkt verkauft hatte. Er löste die Verbindung der Hände, ohne den Oberarm freizugeben, und schaute in ihre Augen mit reglosem, abgekühltem Blick. Beate schwankte. Er fasste kräftiger zu und führte sie durch die Tür.

      Neun Stunden später trug der Wind nicht nur sechs Schläge der Kirchturmuhr von Sankt Salvator herüber, sondern prickelte auch auf der Haut von Doktor Jens Klemmer, der seine Praxis verlassen hatte und es genoss, ohne Handschuhe zu sein. Die wellig gewordene Haut trocknete, und die Striemen vom Mundschutz hinter den Ohren kühlten ab – die einzige Wonne, zu der seine Haut fähig war. Nach seinem Empfinden wurde die Pelle eines Rothaarigen im Laufe des Lebens dünn und verletzlich. Es galt, kratzender Garderobe aus dem Wege zu gehen – beim Anprobieren einer Hose oder in einer übervollen Straßenbahn. An oberster Stelle stand Wolle. Sie war Jens’ natürlicher Feind und Klebriges ihr Wirkungsverstärker. Jens genügte der Gedanke, einen Pullover aus Schurwolle zu tragen und einen Löffel Marmelade in den Nackenausschnitt gestopft zu bekommen, um seine Sicherungen durchbrennen zu lassen. In letzter Zeit akzeptierte er selbst Baumwolle nur noch von höchster Güte. Würde irgendwann eine komplette Hauttransplantation möglich sein, ließe er sich auf die Warteliste setzen. Wenn er bis dahin noch lebte. Denn verglichen mit Otto Normalhäutigem, dessen Haut Sonnenbrände wie in einem Langzeitgedächtnis speicherte, betrieben Rotschöpfe das reinste Gehirnjogging und fingen sich Hautkrebs ein wie Herpes.

      Hinter ihm schrie jemand seinen Namen. Es war Frau Eisentraut. „Telefon!“ Sie hielt das Telefon mit gestreckter Hand aus dem Fenster, als ob ihr Chef bis in den ersten Stock langen könnte.

      Jens rechnete damit, dass seine Frau ihn sprechen wollte. Heute mochte er nicht mehr an sie denken, sondern nur noch in die Sauna gehen und alles ausschwitzen, womit die Furie ihn verbal besudelt hatte.

      „Es ist Doktor Bunsel, Ihre Urlaubsvertretung.“

      „Sagen Sie, ich sitze in der Sauna.“

      Auf ein Gespräch mit dem Kollegen hatte er auch keine Lust, den würde er früh genug kennenlernen, und wenn er anrief, um abzusagen, dann auch gut, sogar noch besser. Er ließ sich in seinen BMW plumpsen und fuhr in die Arminiusstraße.

      In der Wohnung im ersten Stock war es kühl. Er drehte im Wohnzimmer den Heizkörper auf und setzte sich auf einen Hocker. Sein Blick verweigerte die Arbeit, blieb starr und wanderte nicht über die nackten Wände mit den grau umrandeten Rechtecken, den Umrissen von Bildern und Möbeln. Die Sachen, die dort gestanden hatten, hätte seine Frau – wie sie sagte – besser gebrauchen können als er. Es waren die meisten, auch Gegenstände, die aus einer Zeit vor ihrer Ehe stammten, aus aufgelösten Haushalten. Die Furie hatte die Wohnung geplündert, während er in der Praxis arbeitete, dabei waren sie noch nicht einmal geschieden.

      Wie unter Hexenschuss stand er auf und holte ein neues Hemd. Die Berührung des kalten, etwas dickeren Stoffes ließ ihn schaudern. Mit spitzen Fingern legte er das Hemd auf den Heizkörper. Bei sofortigem Ankleiden hätte sich eine Armada winziger Pickelhauben gebildet – aufgerichtete Härchen auf den Kuppen der Gänsehaut – und wäre von den Armen zum Rücken marschiert. Während er wartete, aß er eine halbe Tafel Schokolade aus dem Küchenschrank. Den Schrank durfte er behalten, einen von der Sorte, hinter deren Glasscheiben früher Postkarten gesteckt hatten. Zehn Minuten später tauschte er sein nicht mehr frisches Hemd gegen das von der Heizung; es kratzte nicht mehr.

      Die Sauna war Teil des Fitnessstudios im Stadtteil Heinrichsgrün am Fluss Weiße Elster, wohin Jens zu Fuß ging. Ihm gehörte das Studio mit dem Namen fun-sport-XXL zu fünfundzwanzig Prozent. Der Rest war Eigentum von Werner Licht, seinem Freund, den er hinter der Glastür einen Eiweiß-Shake mixen sah. Im Hof standen drei Autos. Jens fragte sich, ob es jemals wieder so viele sein würden wie bei der Eröffnung vor vierzehn Jahren.

      Zwei weibliche Teenager in Sportbekleidung und mit Zigaretten hinter den Ohren kamen aus der Tür, um draußen zu rauchen. Werner schrie hinter: „He, he! Ihr braucht eure Lungen noch zum Blasen.“

      Diese schroffe, ungeschminkte Art hatte Jens vermisst. Das war Werner. Er trat ein und reichte ihm die Hand.

      „Für eine vierwöchige Trainingspause siehst du ganz passabel aus“, sagte Werner. „Du solltest dich trotzdem wiegen.“

      Aus dem Kraftsportraum drang metallisches Scheppern und daraufhin Gelächter. Einer von drei Jugendlichen hatte sich die Hand eingeklemmt. Jens stellte seine Tasche ab. „Mach bitte die Sauna heiß, bis zum Anschlag.“

      „Trainiert denn Herr Doktor nicht?“

      „Der Tag war Training – Überlebenstraining. Renate hat mich in der Praxis besucht und ich wette, in diesem Augenblick erzählen die Patienten herum, wie laut es zuging.“

      „Lass mich raten … Es drehte sich ums Geld. So lieb die Frauen auch sind, bei der Trennung werden sie zu Geldautomaten, und wir Männer füllen Scheine immer wieder nach. Tröstlich ist, dass sich die Damen zu jenem Zeitpunkt auch figürlich nicht von Geldautomaten unterscheiden.“ Werners Halbglatze reflektierte das Licht über dem Tresen nach Art einer Discokugel.

      Jens lächelte süßsauer. „Wir plaudern später. Und leg ein paar Kohlen auf, falls weniger als fünfundneunzig Grad im Saunakasten sind. Sonst muss ich die Socken anbehalten.“

      Beim Betreten des Umkleideraums klingelte sein Handy. Renate. Noch immer spürte er die Nässe ihres Keifens. Er schaltete das Handy aus. Da gab es etwas anderes, was überlegt werden musste: Übermorgen wird er nach Südtirol reisen, und es stand noch nicht einmal fest, ob allein oder zu zweit. Steffi hatte ihre Zusage von der betrieblichen Urlaubsbewilligung abhängig gemacht, er aber wusste, dass sie noch nicht so weit war, ihm so nahezukommen. Wenn er sich überhaupt noch Urlaub leisten konnte, denn wer vergaß, die Güter schriftlich zu trennen, bevor die Eheringe aufgesteckt wurden, braucht sich bei der Scheidung nicht über seine Finanzen zu wundern. Er duschte länger und heißer als sonst und ging in den Raum mit der Sauna. Neulinge waren von ihm beeindruckt, weil sie eine kleine Räumlichkeit vermuteten. In der Ruheabteilung aber standen die Liegen so weit voneinander entfernt, dass eine Unterhaltung nicht vertraulich geführt werden konnte. Hier spürte man die Fabrikhalle, die das Gebäude einst war, mit Fenstern wie von Kathedralen. Im Verhältnis dazu waren die zwei hölzernen Saunen Kaninchenställe.

      Jens war allein. Das Thermometer zeigte 91 Grad, und das wohlige Gefühl stellte sich ein, auf das er scharf war wie ein Opiumsüchtiger auf sein Pfeifchen. Er dachte an Steffi, aber nach zehn Minuten war der größte Teil seines Hirns damit beschäftigt, das Überleben bei 91 Grad zu sichern. Die Tür sprang auf und Werner trat ein.

      „Jetzt lege ich die Kohlen auf“, sagte er und goss so viel Wasser auf den Ofen, dass er im Dampf nahezu verschwand. Dann wedelte er wie ein Blöder mit seinem Handtuch, als wollte er Jens’ vierwöchiges Sauna-Versäumnis rückgängig machen.

      „Was ist passiert?“, fragte er außer Atem. „Die Leute erzählen, Renate hätte dich mit Marlies erwischt. Hast dir gedacht, deine Ehe ist sowieso im Eimer, da darfst du mal die Trainerin vernaschen.“

      „Dummes Malheur. Renate war mit ihren Freundinnen unterwegs ins Kino und hatte die Eintrittskarten zu Hause vergessen. Die ganze Bande kam zurück und ich lag mit Marlies auf der Couch. Den Rest kennst du bestimmt vom Tratsch.“

      „Als Malheur bezeichnest du das? Renate soll in Ohnmacht gefallen sein, als sie nur deinen halben Kopf gesehen hat. Die andere Hälfte steckte in Marlies’ Bauch. Vergiss nicht, Marlies