Ich locke dich. Wolf L. Sinak. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolf L. Sinak
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742758361
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gestörten Radiosender als Meeresrauschen und Möwengeschrei aus einem Lautsprecher in der Decke.

      In der Tür erschien eine junge Helferin und übergab Beate ein Kühlpäckchen aus derbem Stoff. Laut ihrem Namensschild hieß sie Anna. Dem Alter nach eine Auszubildende. Ihr Lächeln gab Zähne frei, die im Kontrast zu den schwarzen Haaren wie unecht strahlten. DIN-Norm Amerika. Beate dachte an ihre eigenen Zähne: DIN-Osaurier – was die Frische betraf.

      „Ein schönes Wartezimmer haben Sie hier“, sagte Beate. „Nur der Sound ist gewöhnungsbedürftig.“

      Das Mädchen grinste seine weißen Zähne förmlich heraus. Es zeigte an eine Wand, an der unterhalb der Decke ein krakeliger Metallarm hing. „Dort kommt ein Fernsehgerät hin. Die Patienten können Kaminfeuer-Videos schauen. Vielleicht gibt es auch ein Video mit ner Sauna. Das Schwitzen bringen die meisten Patienten selbst mit.“

      Jetzt lachte auch Beate ihr entstellendes Lachen. Phantastisch. Die Zahnarztbesuche ihres Lebens waren geprägt von Kopfschmerzen, die von ihren Zöpfen stammten, an denen ihre Mutter sie in die Praxis gezogen hatte. Und jetzt lachte sie in der Höhle des Löwen.

      Kaum war Anna wieder weg, da betrat ein junger Mann das Wartezimmer. Wenn er so geartet war wie sie, stammte die Vorwölbung auf seiner Brusttasche nicht von einer Zigarettenschachtel, sondern von Tarotkarten. Beate war nicht aus dem Haus gegangen, ohne sich die Karten zu legen. Eine günstige Deutung war das Mindeste vor einem Zahnarztbesuch.

      Sein Blick richtete sich auf das Hosenbein, unter dem der alte Mann seinen Stumpf verbarg. Dort, wo sich üblicherweise eine Beinprothese befindet, hingen lange, gleichmäßige Falten der frisch gebügelten Hose. Der Alte strich eine davon glatt.

      „Eine Erinnerung an den Bergbau, die Wismut, wo ich unter Tage gearbeitet habe, damit die Russen unser Uran bekamen. Jeden Tag denke ich daran, spätestens beim Anziehen.“ Er schaute besorgt zu Beate, so recht und schlecht, wie das ein Glasaugenträger vermochte. „Sie hat es ganz schön erwischt, was?“

      Beate schaute weg. Der Alte nicht.

      „Sind Sie sicher, nicht in die Obhut eines Augenarztes zu gehören?“

      „Das bin ich. Ich kam als Monster auf die Welt und heute verlangt mein Arbeitgeber von der Geisterbahn ein zahnärztliches Upgrade.“

      Es muss ihr eisiger Ton gewesen sein, der den jungen Mann bewog, sich einzumischen. Sie hörte nicht darauf, was er zu dem Einbeinigen sagte, sondern stand im Bann der Äußerung über den Augenarzt – bis ein Wort fiel, das sie aufhorchen ließ. Genau dieses Wort hatte sie hierher in diese eine von hundert Geraer Zahnarztpraxen geführt. Hypnose.

      Der alte Mann bezeichnete Hypnose als etwas Neumodisches und gut fürs Geschäft. Sein Zeigefinger deutete rücklings zur Wand. „Dort über die Straße wohne ich im Altersheim. Ich komme hierher, weil es die nächstgelegene Praxis ist und der Doktor was kann. Hypnose benötigen nur Spinn…“ Er zog entschuldigend den Kopf in den Kragen. „Ich jedenfalls brauche keine Hypnose.“

      Das glaubte Beate glatt, wenn der so akkurat putzte, wie er seine Hose um den Stumpf drapierte. Christo ließ grüßen. Sein Doktorchen verdiente an dem Edelgebiss bestimmt einen Scheißdreck.

      Der junge Mann sprach Beate an. „Ich bin verrückt nach Hypnose. Wie von Geisterhand wird gebohrt und gefüllt.“

      „Ja, Bohren und Füllen – das geschieht auch in dem Film“, platzte der Alte heraus, „in dem der Doktor die Frauen reihenweise schändet. Er stiert in ihre Augen und sie fallen in seinen Arm wie die kleinen …, ich weiß nicht, ob es sie noch gibt – die Spielzeugtiere, die zusammenklappen, wenn man den Boden des Sockels drückt und der Faden sich entspannt. Hinterher wissen die Frauen nichts mehr, bemerken höchstens, dass sie etwas wund sind.“

      Beate überlegte allen Ernstes, ob ihr Slip sauber war. Das war so unwichtig, wie die Vorstellung absurd war, dass der Zahnarzt ihn je zu sehen bekäme. Es sei denn, Dr. Klemmer ist das Gegenstück zu Dr. House und macht abends gleichnamige Besuche.

      „Was schauen Sie sonst noch für Filme?“, fragte sie den Lustgreis, der falsch grinste, als hätte er zwei Glasaugen. Dann zuckte sie zusammen. Aus dem Lautsprecher ertönten ihr Name und die Aufforderung, ins Besprechungszimmer zu gehen.

      Der Alte grinste und präsentierte ein paar seiner Wunderzähne.

      Beim Aufstehen schwang sie ihr Hinterteil in seine Richtung, davon ausgehend, dass er die Bildersprache verstand. Sie ließ sich das Besprechungszimmer zeigen und nahm am Schreibtisch Platz. Weit und breit keine Folterinstrumente, nur Büroutensilien, sogar Videokassetten in einem Regal mit der Überschrift Supervision. Und es herrschte Ruhe, weder Wellen noch Möwen. In einem Nachbarraum schlug die Tür ins Schloss. Wahrscheinlich Zugluft, die ankündigte, dass jemand auf dem Weg durch die Praxis war, auf dem Weg zu ihr. Aber dann hörte sie eine Frau und einen Mann sich unterhalten. Die Frauenstimme setzte sich durch, wurde lauter, und obwohl einzelne Worte nicht zu verstehen waren, verriet der Tonfall eine Kontroverse. Eine Patientin, die hinterher etwas wund war?

      Plötzlich kam Frau Eisentraut durch die andere Tür, zog einen Stuhl neben Beate und setzte sich. Einen Moment saß sie mit bis zum Anschlag gesenkten Augen da, als überprüfte sie das Rot auf ihren gespitzten Lippen. Die Frau im Nebenraum wurde noch lauter. Es fielen Worte wie Spinner und Versager. Frau Eisentraut nahm ein Formular zur Hand und erklärte mit übertönender Stimme ihre Absicht, die Krankengeschichte von Beate durchzugehen und sich mit ihr darüber zu unterhalten, welche Entspannungstechniken von Vorteil sein könnten.

      Beate verriet, dass sie von ihrer Mutter zu einem Zahnarzt geschleift wurde. Die Konzentration fiel ihr schwer. Ihre Ohren suchten gierig nach verbotener akustischer Nahrung hinter der nicht schalldichten Tür, und ihr linkes, gesundes Auge überwachte die regelmäßigen Abstände, in denen Frau Eisentraut zur Tür schielte. Das Auf und Ab ihrer Stimme, das sie dem Krach anpasste, ließ Beate schmunzeln, mehr als sie es mit gesunder Miene gewagt hätte. Frau Eisentraut hätte schreien müssen, um Wortgruppen wie Abmachung einhalten und Bach runtergeht unhörbar zu machen. Allmählich zweifelte Beate daran, die passende Praxis für sich gefunden zu haben. Ein latentes, unbestimmtes Gefühl in ihrem Darm wurde plastisch. Sie entschuldigte sich und ging auf die Toilette.

      Ihr Blick fiel in den Slip, und sie lachte über die Befürchtung, sich beim Zahnarzt mit schmutziger Unterwäsche zu blamieren. Trotzdem kontrollierte sie, ob er richtig herum saß. Der Gedanke, bisweilen unter Blähungen zu leiden, blitzte auf. Würde Sie die Kontrolle behalten? Sie stellte sich vor, wie bei einem unbewussten Furz Hypnotiseur und Assistentin verschmitzt die Blicke wechseln.

      Als sie das Besprechungszimmer wieder betrat, stand Frau Eisentraut neben einem Mann und erklärte etwas anhand ihres Schreiblocks. Die Kleidung verriet den Zahnarzt. Er war nicht groß, aber kräftig – eine Sportlernatur, die studiert hatte und Zähne mit bloßen Fingern reißen konnte. Vorhin wäre er in der Lage gewesen, der keifenden Person im Nebenzimmer mit einem Schlag das Maul zu stopfen.

      Und seine Haare waren rot.

      Nicht, dass Beate rothaarige Männer geringschätzte, sie ignorierte sie lediglich. Unlängst hatte sie einem Typen einen Korb gegeben, dessen Haare farblich eins waren mit seinen Sommersprossen, obwohl die Diskothek halb leer war und sie mit dem Schlaf rang. Den Zahnarzt hätte sie vielleicht nicht abgewiesen, das Gesicht war oberes Mittelmaß. Nur fand sie seinen Versuch bedauerlich, die tonsurartige Lichtung auf dem Kopf mit langen, quer gekämmten Strähnen zu verbergen, galt doch Haarschwäche als Merkmal erhöhter Potenz.

      Doktor Klemmer – er musste es sein, ihres Wissens arbeitete hier kein weiterer Zahnarzt – schaute zu ihr herüber und behielt den Blick bei. Der Typ passte nicht in das Klischee eines Hellhäutigen; irgendetwas minderte die rot-weiße Kontrastarmut. Seine Augen, Wärmequellen von Augen!

      Er ließ Frau Eisentraut stehen und streckte Beate die Hand entgegen. Sie fürchtete, er würde die ihre zerquetschen und war dann vom sanften Druck überrascht.

      „Ich bin Doktor Klemmer. Gut, dass Sie einen Zahnarzt aufsuchen. Ich kenne jemanden mit einer solchen