Habsburgs 'Dark Continent'. Clemens Ruthner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Clemens Ruthner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772000539
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venezianischen Republik am Mittelmeer), strategischen Kolonien (z.B. Hongkong, Gibraltar) und Kolonien für besondere Zwecke (z.B. Strafkolonien, Wetterstationen u.Ä.) differenziert.39 Reinhard dagegen – wie auch Osterhammel und Young – folgt Jules Harmand (1910), wenn er lediglich zwischen Herrschafts-, Stützpunkt- und Siedlungskolonien unterscheidet.40

      Für unsere Themenstellung außerdem von Belang dürfte die mehrfach versuchte Ausweitung des Koloniebegriffs sein. Reinhard etwa verwendet den Terminus semicolonies für China und das Osmanische Reich um 1900.41 Außerdem verweist Emerson auf belgische Bestrebungen in der Frühzeit der Vereinten Nationen „to broaden the concept of colonialism to include all ethnically distinct minorites discriminated against in their home countries“ – ein Vorstoß, der von der UNO abgelehnt worden ist.42

      Hodder-Williams wiederum versucht, einen internal colonialism zu beschreiben als „broadly similar processes at work within a single state. Thus, particular groups, through their dominance of political and economic power, ensured that other groups are kept in long-term subservience“; als Beispiel dafür werden die Ostbengalen in Pakistan angeführt.43 Ausschlaggebend für die Diskussion dieses Terms im europäischen Kontext war Michael Hechters bereits erwähntes Buch Internal Colonialism: The Celtic Fringe in British National Development, 1536–1966 von 1975, das die englische Herrschaft über die „keltischen Randgebiete“ Großbritanniens – Irland, Schottland und Wales – unter diesem Blickwinkel gleichsam als Parallelaktion bzw. Vorwegnahme eines britischen Übersee-Imperialismus beleuchtet; ebenso liegen Versuche eines Theorietransfers auf die russische bzw. sowjetische Expansion in Zentralasien und Osteuropa vor.44 Aber schon der Beitrag im Handwörterbuch der Sozialwissenschaften von 1958 hatte darauf verwiesen, dass es durchaus vorkomme, „dass Gebiete, welche soziologisch Kolonialland sind, ohne rechtliche Sonderregelung als Bestandteil des Hauptlandes regiert werden, so etwa Sibirien als Teil Rußlands oder die Mandschurei als Provinz Chinas“ (und Algerien innerhalb Frankreichs).45 Young sieht ebenso die polnischen Teilungen im späten 18. Jahrhundert unter einem kolonialen Vorzeichen.46

      Ansätze in Richtung einer inneren Kolonisierung schlagen auch Edward Said47 und Hannah Arendt48 vor, im letzteren Fall in dezidierter Anlehnung an den Gegensatz von „Landtretern“ und „Meerschäumern“, d.h. Kontinentalreichen und einem maritimen Kolonialismus bei Carl Schmitt.49 In Folge wird der viel diskutierte50 Begriff aber als Konsequenz seiner zunehmenden Polyvalenz immer unschärfer (vor allem, wenn er etwa von Andrea Allerkamp doppeldeutig psychologisiert und ins Individuum selbst verlegt wird51). Auf der anderen Seite würde jedoch auch eine Differenzierung zwischen innerem und kontinentalem Kolonialismus, die auf der Unterscheidung eines Diesseits von einem Jenseits imperialer Staatsgrenzen auf demselben Erdteil beruht, durchaus Sinn machen.52

      Aus dieser kurzen Darstellung der sozialwissenschaftlichen Begrifflichkeit von Kolonie bzw. Kolonialismus sollte indes hervorgegangen sein, dass Österreich-Ungarn um 1900 kein Kolonialreich im engeren Sinn gewesen sein bzw. gehabt haben kann:53 Weder das Moment großer (überseeischer) Entfernung noch jenes großer kultureller Differenz kann für seine multiethnischen Herrschaftsverhältnisse geltend gemacht werden – es sei denn, man besteht darauf, dass es sich hier lediglich um quantitative bzw. graduelle Unterschiede handelt. Hiermit liefe man aber möglicherweise Gefahr, durch Nivellierung der Betrachtungsweise die großen Menschheitsverbrechen des zeitgenössischen europäischen Kolonialismus in Afrika und Asien – wie etwa den Genozid im Belgisch-Kongo54 um 1900 – zu verharmlosen.

      Dennoch gilt, was Walter Sauer moniert hat, nämlich dass mit dem Mantra der Nicht-Existenz österreichisch-ungarischer Überseekolonien sich für die meisten Forscher/innen jede Diskussion überhaupt erübrige, inwieweit es koloniale Tendenzen im späten Habsburger Reich gegeben habe; dieses Denkklischee gelte es freilich kritisch zu überprüfen:55

      The silence regarding Austria in academic debate corresponds with the attitude in national […] discourse. Far from entering a discourse of whether or not imperialist or colonialist tendencies are to be found in the country’s history, and if so, the discussion is largely based on the assumption that Austria was not a colonial power […].56

      Sauers eigener Studie K.u.k. kolonial (2002) kommt indes das Verdienst zu, die vergessenen oder verdrängten kolonialen Projekte der Habsburger Monarchie dem Vergessen entrissen zu zu haben: Sokotra 1857/58, die Nikobaren 1858, die Salomonen 1895/96, weiters die Westsahara 1899 und Südostanatolien 1913; 1901–14 schließlich wurden sechs Quadratkilometer Land bei der Hafenstadt Tientsin von k.u.k. Truppen besetzt – als eine Art österreichisch-ungarisches Hongkong in China.57 Zudem gab es koloniale Begehrlichkeiten als Folge des Suezkanal-Baus (und der diesbezüglich günstigen Lage der Hafenstadt Triest) sowie im Rahmen der Sudan-Mission.58 Sauer kommt dann freilich zu dem Schluss: „Die Monarchie war mit Sicherheit kein Kolonialstaat. Sie war jedoch auch keine antikoloniale Kraft“,59 denn „[a]uch als ‚Großmacht ohne Kolonien‘“ habe sich Österreich-Ungarn „dem imperialistischen Grundkonsens der europäischen Mächte verpflichtet“ gefühlt.60

      Dies greift vielleicht etwas zu kurz, wie im Folgenden ausgeführt werden wird. In diesem Sinne soll ein erster Schritt gleichsam zu einer Erfassung des einschlägigen kollektiven Unbewussten der ‚kakanischen‘ Kultur/en (nach den Pionierarbeiten von Sauer, Csáky/Feichtinger/Prutsch und diversen eigenen Beiträgen des Kakanien revisited-Teams) unternommen werden; dies ist eines der vordringlichsten Anliegen der vorliegenden Monografie. Darüber hinaus gilt es freilich auch, potenzielle politische und kulturelle Parallelaktionen zum Kolonialismus der anderen europäischen Großmächte namhaft zu machen; diese Frageperspektive ist schon von Valentina Glajar 2001 unter Bezugnahme auf prominente Forschungsmeinungen kompakt zusammengefasst worden:

      While historians such as Oscar Jászi and Ferenc Eckhart argued that the eastern and southeastern regions of the Habsburg Empire functioned as internal colonies for Austro-Germans and, in part, for Hungarians, postcolonial critics have rarely considered Austria-Hungary as a case of colonialism. Katherine Arens criticizes postcolonial theorists such as Edward Said and Homi Bhabha, who base their theories on the British or French Empires yet ignore the case of Austria-Hungary. While the paradigms developed for the French and British Empires might not be entirely applicable to the Habsburg Empire, they are defined in terms of the East-versus-West distinction that was also at the core of the Habsburg expansion to the East. Just like the British and the French colonizers, the Habsburgs had a mission civilisatrice in the ‚barbaric‘ East. The Habsburgs’ belief in a ‚superior‘ German culture and civilization was employed to justify their political, cultural, and economic mission in eastern Europe. Unlike the British and French rule in Africa, Asia, and Latin America, however, the Habsburgs’ rule was not characterized by terror or massacre, nor was the conflict colonizer-versus-colonized always spelled out in racial terms.61

      Die überzeugendste Fallstudie für eine Kolonialismusdebatte in diesem Sinne dürfte wohl Bosnien-Herzegowina darstellen, dessen militärische Okkupation (1878), Verwaltung und Annexion (1908) durch die Habsburger Monarchie gewisse (quasi)koloniale Züge eignen, wie dies z.B. schon die Historiker Robert Donia und Raymond Detrez behauptet haben:62 So etwa die Tatsache, dass die Bosnier/innen vorderhand über kein politisches Mitbestimmungsrecht innerhalb der Parlamente der Monarchie verfügten wie deren anderen „Völker“ und damit so etwas zu k.u.k. Bürger/innen 2. Klasse wurden.63 (Für eine genaue Bestimmung dieses komplexen Kolonialismus-Szenarios ist freilich eine nähere Untersuchung vonnöten, die im Folgenden Gegenstand eines eigenen Kapitels [C.0] sein wird, das den Bosnien-Abschnitt der vorliegenden Studie einleitet.)

      2. (Innerer) Kolonialismus als Befindlichkeit: die Rhetorik der Zeitzeug/inn/en

      Kolonialismus ist eine Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven, bei welcher die fundamentalen Entscheidungen über die Lebensführung der Kolonisierten durch eine kulturell andersartige und kaum anpassungswillige Minderheit von Kolonialherren unter vorrangiger Berücksichtigung externer Interessen getroffen und tatsächlich durchgesetzt werden. Damit verbinden sich in der Neuzeit in der Regel sendungsideologische Rechtfertigungsstrategien, die auf der Überzeugung der Kolonialherren von ihrer kulturellen